Ethische Technikfolgenabschätzung als Kartografie situativer Wertungskonflikte

Moralpragmatische Perspektiven zum Neutralitätsproblem

Sebastian Weydner-Volkmann, Centre for Security and Society, Universität Freiburg, Werthmannstr. 15, 79098 Freiburg (sebastian.weydner-volkmann@css.uni-freiburg.de), orcid.org/0000-0003-3948-4770

Der Artikel beschreibt, welches Angebot über einen moralpragmatischen Ansatz in der Technikfolgenabschätzung (TA) konkret gemacht werden kann. Ethisch argumentierende TA, so die These, lässt sich mit John Dewey als eine Kartografie situativer Wertungskonflikte begreifen. Die entstehenden „moralischen Landkarten“ zu konkreten technischen Entscheidungssituationen zielen darauf ab, den Bedarf an wissenschaftsgestützter, möglichst neutraler Beratung für den öffentlich-politischen Prozess zu ermitteln. Pragmatisch kann „Neutralität“ allerdings nicht als normative Abstinenz verstanden werden. Vielmehr soll der Ausgang von einer Rekonstruktion der normativen Konflikte genommen werden, wobei die Wertvorstellungen, die in den Entscheidungssituationen technischen Handelns jeweils relevant sind, bewusst aus unterschiedlichen Perspektiven erschlossen werden.

Ethical technology assessment as cartography of situational value conflicts

Moral pragmatism perspectives on the problem of neutrality

The article describes what a moral pragmatic approach in technology assessment (TA) can offer in practice. Our thesis, following John Dewey, is that argumentative ethical TA can be understood as a kind of cartography of situational value conflicts. The resulting “moral maps” aim to identify the need for scientific advice that informs public and political debate in specific decision-making situations as neutrally as possible. From a pragmatic perspective, however, “neutrality” does not entail normative abstinence. Rather, the point of departure is to re-construct the normative conflicts that are relevant in specific situations of technical decision making, deliberately approaching the values from multiple perspectives.

Keywords: Dewey, John 1859–1952; moral pragmatism; technology assessment; hermeneutics; ethics

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TATuP Bd. 28 Nr. 1 (2019), S. 39–44, https://doi.org/10.14512/tatup.28.1.39

Submitted: 24. 10. 2018. Peer reviewed. Accepted: 13. 02. 2019

Neutralität und Normativität im Pragmatismus

In der wieder aufflammenden Debatte um Normativität und Neutralität plädiert Helge Torgersen (2018, S. 26) für eine Erweiterung des Selbstverständnisses von TA; die noch immer präsente „Scheu vor Ethik als Teil des Handwerkszeugs“ führt er dabei u. a. auf die Furcht zurück, eine normative Dimension gefährde den Neutralitätsanspruch der TA. Zugleich legt Armin Grunwald (2018) unter Verweis auf den amerikanischen Pragmatisten John Dewey dar, dass sich das Selbstverständnis der TA immer an demokratischen Normen orientiert, was etwa eine Ausrichtung auf soziale wie epistemische Inklusion impliziert. TA tritt hierbei in eine vorbereitende Rolle und eröffnet Räume für Kritik und staatsbürgerliche Partizipation. Doch wie kann eine „ethische Erweiterung“ der TA methodisch gelingen, will man nicht gänzlich einen wissenschaftlichen Neutralitätsanspruch aufgeben und sich partikularen politischen Positionen verschreiben? Und wie kann sich eine wissenschaftlich beratende TA über Theorien der Ethik ganz ausdrücklich der Wertsphäre zuwenden, ohne zugleich der undemokratischen Versuchung zu erliegen, dem politischen Prozess die jeweils „ethisch gebotene“ Entscheidung konkret vorzugeben?

Deweys Pragmatismus – einige Grundzüge

Folgt man Grunwalds Hinweis auf Dewey, so lässt sich aus pragmatischer[1] Sicht zunächst festhalten, dass Normativität und Neutralität keineswegs als gegensätzliche Pole aufgefasst, sondern als eigenständige Problembereiche begriffen werden sollten. Denn zunächst vollzieht sich jede wissenschaftliche Untersuchung innerhalb von Wertkontexten: Wir bewerten, welche Forschungsfrage wichtig genug ist, verfolgt zu werden, welches Problem wir adressieren und bestenfalls lösen möchten – und welches eben nicht. Mit einer Spitze gegen Descartes schreibt schon der Begründer des Pragmatismus, Charles S. Peirce (1975, S. 70 f.), einen Zweifel bloß zu benennen, genüge nicht. Vielmehr bedürfe es eines „lebendigen Zweifels“, der uns in einem konkreten Kontext zur Nachforschung drängt und motiviert – und erst hieraus werden Untersuchung und Ergebnis wirklich verständlich.

Folgt man Dewey, so scheint es recht künstlich, unser Wissen „normativ steril“ halten zu wollen.

Im Pragmatismus werden Theorien und Begriffe dabei als Instrumente des Denkens für das Handeln aufgefasst. Deweys Wendung dieses Grundgedankens zielt sehr umfassend auf eine Bewältigung problematischer Situationen ab (Noetzel 2009). Letztlich ersetzt er den Begriff „Wissen“ in seinem emphatischen und universal-gültigen Sinne durch das Konzept der praktischen Gültigkeit: Begriffe und Theorien „funktionieren“ und bewähren sich im Umgang mit der dinglichen wie auch sozialen Umwelt, weil die tatsächlich erlebten Konsequenzen des Handelns die Erwartungen stimmig einlösen. Damit zusammen hängt auch sein durchweg fallibilistischer Wahrheitsbegriff: Alle Urteile und Begriffe können grundsätzlich an neuen Erfahrungen scheitern. Entsprechend kann ein lebendiger Zweifel zwar vorläufig befriedet, aber nie letztgültig ausgeräumt werden (Dewey 1982, S. 16).

Solche Prozesse des Erlebens begreift Dewey einerseits als im sozialen Austausch verankert, nämlich über kommunikativ stabilisierte Überzeugungen (settled beliefs), und andererseits als verbürgt über die Erfahrung der Konsequenzen unseres Handelns (Weydner-Volkmann 2018, S. 60 f.). Hier können die settled beliefs auch in Widersprüche geraten und somit scheitern. Es ist insbesondere das Erleben eines situativen Scheiterns, eines „Problems“, das uns zum systematischen Nachdenken und Nachforschen anregt. Solche Probleme werden nicht zuletzt durch die fortwährenden technischen Umwälzungen provoziert, die Dewey (*1859; †1952) selbst in drastischer Weise erlebt hat, als die USA zunächst eine beschleunigte Industrialisierung und sodann als erste Gesellschaft den Schritt ins Atomzeitalter vollzogen (Hickman 2001, S. 2 f.).

Neutralität als Ethos der Distanz zu einseitigen Wertungen

Ein Ansatz, der wissenschaftliche Erkenntnis derart eng in soziokulturelles Handeln und Erleben einwebt, bietet dabei schlicht keinen Raum für eine normativ isolierte, „wertneutrale“ Theoriebildung. Vielmehr verweist für Dewey (1978, S. 196–198) schon die Bereitschaft, Untersuchungen methodisch und ergebnisoffen zu vollziehen, statt Denkgewohnheiten, Assoziationen oder Präferenzen zu folgen, auf eine bewusst vollzogene Regulierung der eigenen Denkprozesse – letztlich also auf ein Ethos der Selbstregulierung. Folgt man seiner Rückbindung von Erkenntnisprozessen an ein umfassend verstandenes Erleben der Konsequenzen im sozialen Kontext, so scheint es zudem recht künstlich, unser Wissen „normativ steril“ halten zu wollen. Vielmehr gilt es, normative Dimensionen – auch in der TA – bewusst und reflektiert einzubinden.

Wertkonzepte entstehen dabei, wie Dewey (1988, S. 219) schreibt, weder aus dem apriorischen Nichts heraus, noch werden sie uns als Gebote offenbart. Als stabilisierte, ehemals aktiv vollzogene Wertungen sind sie eingebunden in soziale Handlungskontexte; sie verweisen auf vergangene Problemsituationen und versuchte Lösungsstrategien. Und diese gilt es, etwa auch mit Blick auf neue Technologien, immer wieder neu zu reflektieren.

Nach Dewey verfehlen ethische Ansätze, die über einen feststehenden, universalgültigen Wert oder letzten Zweck argumentieren,[2] im Kern ihre eigentliche Aufgabe, weil sie die im strengen Sinn moralisch strittigen Entscheidungssituationen nicht adäquat adressieren können. Moralische Konflikte, insbesondere auch die in der TA häufig auftretenden Zwickmühlen, werden in solchen Ethiken letztlich als ein Randphänomen begriffen, als eine Art Dysfunktion des moralischen Wissens: Je größer die Einsicht in das je angenommene letzte Wert- oder Vernunftprinzip ist, desto eindeutiger können Wertkonflikte durch Subsumption unter dieses aufgelöst und „wegerklärt“ werden (Weydner-Volkmann 2018, S. 75–77).

Eine produktive Aufarbeitung für eine vielseitig informierte politische Entscheidungsfindung, wie sie in der TA intendiert ist, wäre so kaum zu leisten, müssten sich die jeweils relevanten konfligierenden Wertkonzepte doch auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Bei der Entwicklung und dem Einsatz selbstlernender Videoüberwachung könnten dies etwa Sicherheitsbedürfnisse (z. B. Schutz vor terroristischen Angriffen durch kostengünstige, automatisierte Detektion verdächtigen Verhaltens) und Freiheitsrechte sein (z. B. Schutz vor der Erstellung von Bewegungs- und Persönlichkeitsprofilen). Um einer drohenden Einseitigkeit zu begegnen, böte sich zwar eine Nebeneinanderstellung verschiedener ethischer TA-Untersuchungen mit je eigenen Schwerpunkten an. Die vorbereitende Erarbeitung gangbarer politischer Kompromisse droht durch die Gegenüberstellung je nicht weiter verhandelbarer normativer Prinzipien jedoch erschwert zu werden und wäre in jedem Fall methodisch weiterhin klärungsbedürftig.

Wir benötigen Konzepte, die es vermögen, Entscheidungsprobleme aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und sie in ihrer normativen Dimension verständlich zu machen.

Demgegenüber rückt ein moralpragmatischer Ansatz die Wertungskonflikte selbst ins Zentrum der Untersuchung; sie bilden als situativ erlebtes Problem den Ausgangspunkt der Überlegungen. Dass der Prozess der Nachforschung sich letztlich nicht „wertneutral“ vollziehen kann, sondern immer schon in normative Horizonte ein- und an sie rückgebunden ist, heißt dabei keineswegs, dass wir unseren jeweiligen Wertvorstellungen ausgeliefert wären. Zwar ist jede Entscheidungssituation durch unsere Wertungen geprägt und kann prinzipiell auch immer moralisch relevant werden, allerdings liegt Dewey zufolge nur dann eine genuin moralische Handlungssituation vor, wenn wir uns eines Wertungskonflikts auch wirklich bewusstwerden (Dewey und Tufts 1978, S. 194). Das routiniert-habituelle Handeln stockt, weil wir uns zwischen verschiedenen, sich gegenseitig ausschließenden Zwecken für unser Handeln entscheiden müssen – etwa, weil wir kostengünstigen Schutz vor terroristischen Angriffen ebenso erstreben, wie wir zu vermeiden suchen, dass die massenhafte Erstellung von Bewegungsprofilen ermöglicht wird. Und erst das Erleben einer konfliktbehafteten Entscheidungssituation macht moralische Deliberation – und damit auch den Rückgriff auf ethische Theorien – überhaupt nötig. In dem Für und Wider aus gegenläufigen, auch fremden Perspektiven sieht der Deweysche Pragmatismus das kritische Potenzial einer Ethik – nicht im Sinne eines Überwindens normativer Voreingenommenheit oder einer einseitigen Auflösung des Konflikts über letzte normative Prinzipien, sondern im möglichst umfassend reflektierenden Abwägen der Entscheidungssituation, das ein distanzierteres Verhältnis zu den eigenen habitualisierten Wertungen ermöglicht.

Die Identifizierung und Klärung der je relevanten Wertkonzepte ist hierbei eine der zentralen ethischen Aufgaben. Deweys Moralpragmatismus steht dabei kontextualistischen Ansätzen der angewandten Ethik nahe, insofern diese auf eine Letztbegründung verzichten und über eine möglichst breite Verankerung in situationsrelevanten und weithin geteilten Wertkonzepten argumentieren. Moralpragmatisch wird dies aber explizit aus verschiedenen Perspektiven vollzogen, die in ihrem Eigenrecht durchaus auch gegeneinanderstehen können und sollen – erst so wird der Entscheidungskonflikt im Bereich technischen Handelns wirklich einsichtig. Ihn zu lösen kann hingegen gerade nicht Aufgabe einer moralpragmatischen TA Deweyscher Prägung sein.

Moralische Landkarten technischen Handelns

Wenn ein moralpragmatischer Ansatz in der TA also nicht darauf abzielen kann, zu entscheiden, „was ethisch geboten ist“, – worin besteht dann konkret das Angebot? Für Dewey (1984, S. 323 f.) geht es gerade auch im Umgang mit technischem Wandel letztlich darum, adäquate intellektuelle Werkzeuge für eine informierte politische Diskussion und Entscheidungsfindung bereitzustellen. Hier schließt fast nahtlos seine politische Philosophie mit einem emphatischen Begriff demokratischer Öffentlichkeit an: Der Ethos einer Distanz zu den eigenen Wertungen manifestiert sich auch hier nicht in einer normativen Enthaltsamkeit, sondern in der Inklusion widerstreitender Perspektiven (Fesmire 2014, S. 154 f.). Das Aufeinandertreffen verschiedener Wertungen lässt sich dabei als aufzuarbeitendes Problem, zugleich aber auch als epistemische Bereicherung des normativen Entscheidungshorizonts begreifen.

Welchen Wertvorstellungen wir am Ende den Vorrang gewähren wollen, bleibt hierbei letztlich immer eine politische Entscheidung; ein moralpragmatischer Ansatz zielt jedoch darauf ab, eine solche Entscheidungsfindung so reflektiert wie möglich zu gestalten. Hierfür benötigen wir Konzepte, die es vermögen, Entscheidungsprobleme aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und sie in ihrer normativen Dimension verständlich zu machen. Technischer Wandel fordert diese Konzepte allerdings immer wieder neu heraus. Schon Mitte der 1920er-Jahre beklagt Dewey (1984, S. 323 f.) dabei, dass wir zwar über nie zuvor gekannte Möglichkeiten der Kommunikation verfügen, es uns aber zugleich schmerzlich an Konzepten fehle, die uns erlauben, die Probleme des technischen Wandels in der Öffentlichkeit sinnvoll zu diskutieren. Vor diesem Hintergrund sind partizipative Ansätze der TA moralpragmatisch gesehen durchweg zu begrüßen.

Und doch verweist der beschriebene Mangel an „intellektuellen Werkzeugen“ für eine gelingende TA noch auf einen weiteren Aspekt. Denn im Kern bedarf es hierbei immer auch einer im weiteren Sinne hermeneutischen Klärung der moralischen Konfliktsituation (Weydner-Volkmann 2018, S. 90–92). Dewey gebraucht für diesen Gedanken bisweilen die Metapher der Kartografie, etwa im Sinne einer verlässlicheren Orientierung über zweckmäßig erzeugte Landkarten, oder auch des systematischen Auslotens von Untiefen zur Erzeugung von Seekarten (Fesmire 2014, S. 53–59). Angepasst an die moralische Situation müssen solche Karten dabei immer selektive Schwerpunkte setzen; sie sind also niemals nur eine passiv-wiedergebende Beschreibung, sondern müssen als auf einen Zweck hin aktiv-konstruierend begriffen werden – als Re-Konstruktion, die hilfreich, aber eben auch untauglich und irreführend sein kann (Lekan 2003, S. 3 ff.). Ziel ist dabei eine Transformation des Problemerlebens, das heißt ein vertieftes Verständnis der konfliktbeladenen Entscheidungssituation (Hildebrand 2008, S. 53–57).

Über den Rückgriff auf moralische Landkarten kann die TA vermeiden, als objektiver „Problemlöser“ aufzutreten.

Insofern kann das Ausarbeiten einer solchen Karte letztlich im weiteren Sinne als eine hermeneutische Selbstverständigung verstanden werden, die als Teil einer TA auch ein Beratungsangebot für politische Debatten darstellen kann. Einer so verstandenen, moralpragmatisch argumentierenden TA ginge es letztlich um eine systematische Orientierung technischen Handelns hinsichtlich der jeweils relevanten normativen Implikationen. Über sie soll eine möglichst umfassende, methodisch geklärte Informierung politischer Prozesse aus unterschiedlich wertenden Perspektiven geleistet werden – wodurch sich zum einen hervorragend an Überlegungen zur argumentativen TA anschließen (van Est und Brom 2012, S. 314), zum anderen aber auch auf den Vorschlag einer hermeneutischen Wende in der TA antworten lässt (Grunwald 2015, S. 66).

Über den Rückgriff auf derartige moralische Landkarten kann die TA zudem vermeiden, als objektiver „Problemlöser“ aufzutreten – was ja letztlich schon an legitimatorischen Erfordernissen scheitern würde (Technokratieproblem). Zugleich impliziert dies auch den Anspruch, nicht als Akzeptanzbeschaffer einer bestimmten politischen Option zu dienen, denn die angestrebte Multi-Perspektivität soll es ja gerade ermöglichen, die wertebezogenen settled beliefs auch des eigenen Lagers zu hinterfragen und umfassender zu reflektieren.

Als intellektuelles Werkzeug adressieren moralische Landkarten dabei konkrete Entscheidungssituationen und fungieren mit Blick auf präferierte Optionen gewissermaßen als Spiegel der eigenen Wertvorstellungen: Jede Entscheidung impliziert eine Reihe von Priorisierungen, von Wertungen über den Vorrang von Wertvorstellungen untereinander. Solche Wertungen über Werte können moralpragmatisch zwar nicht als „ethisch richtig“ oder „ethisch falsch“ beurteilt werden, aber sie implizieren doch eine ganze Menge über den normativen Charakter unserer selbst und unserer politischen Gemeinschaft. Die normative Frage danach, welchen Charakter wir unserer Gesellschaft geben wollen, kann entsprechend als orientierende Leitfrage für den politischen Entscheidungsprozess dienen, ohne die Entscheidung selbst schon vorwegzunehmen.

Situative Ausarbeitung und Fallibilität

Für den Prozess der Ausarbeitung einer moralischen Landkarte impliziert der moralpragmatische Fokus auf situative Wertungskonflikte eine Reihe zu berücksichtigender Aspekte. Zunächst dürfte mit Blick auf die enge Einbindung in sowie die konsequente Rückbindung an Entscheidungskontexte recht deutlich sein, dass ein Fokus auf Techniken und Gerätschaften wenig vielversprechend ist – die relevanten Wertungen etwa zur selbstlernenden Videoüberwachung werden je nach Einsatzkontext unterschiedlich ausfallen.

Andererseits geht die situative Ein- und Rückbindung auch nicht in einer Einzelfallanalyse auf: Eine Landkarte soll ja nicht für jeden Gebrauch neu gezeichnet werden, sondern für eine Reihe von Fällen ähnlicher Art dienlich sein. Hierzu werden moralische Landkarten thematisch gerichtet konzipiert (Weydner-Volkmann 2018, S. 110 f.; Waldenfels 2013, S. 57–68): Als Teil einer TA werden sie erstellt, um für konfliktbehaftete Entscheidungen ganz bewusst bestimmte Aspekte als relevant in den Vordergrund zu heben und um andere bewusst aus dem Blickfeld zu rücken, weil sie nicht als wesentlicher Teil der situativen Entscheidung begriffen werden. Je nach gesetztem Thema ergeben sich so typische, das heißt für ähnliche Entscheidungssituationen wiederkehrende Wertungskonflikte. Angenommen, Thema sei der Einsatz selbstlernender Videoüberwachung als Teil von Sicherheitskontrollen an Flughäfen, so rückte für die Kontrollen zunächst das Wertkonzept der Schutz vor Angriffen in den Vordergrund, bei relevanten konfligierenden Wertungen u. a. der Schutz vor Eingriffen in die Privatheit. Fragen zur gerechten Bezahlung des Kontrollpersonals ließen sich für dieses Thema hingegen vernachlässigen.

Zur Vorbereitung der hermeneutischen Klärung der Wertkonzepte bietet sich dabei die Ausarbeitung von Typologien an, also etwa wiederkehrende Untertypen von Eingriffen in die Privatheit zu identifizieren und weiter auszudifferenzieren. Abbildung 1 zeigt einen Teil eines solchen Prozesses. Ähnliche Verfahren finden in der TA ohnehin häufig Anwendung, moralpragmatisch wird dabei jedoch keine allgemeine Klärung von Wertkonzepten angestrebt, sondern eine im situativen Kontext verortete Klärung. So lassen sich Wertkonzepte über mehrere Ebenen bis hin zu beobachtbaren Sachverhalten ausdifferenzieren: Werden bei den Kontrollen biometrische Daten erhoben oder nicht? Bleiben die Daten gespeichert und erlauben so die Wiedererkennung von Personen?

Abb. 1: Situative Ausdifferenzierung relevanter Wertkonzepte bei Sicherheitskontrollen. Quelle: Eigene Darstellung

Die hierauf aufbauenden moralischen Landkarten können aber immer nur unter Vorbehalt auf andere Situationen übertragen werden – für andere Formen von Kontrollprozessen (etwa Grenzkontrollen) bedarf es entsprechend einer gewissenhaften Prüfung, ob die in der Karte vollzogene situative Ausdeutung für ein verändertes Erkenntnisinteresse oder für zeitlich spätere Entscheidungskontexte noch angemessen ist. Zudem wird klar, inwiefern die Ausarbeitung moralischer Landkarten in der TA auch scheitern kann. Denn träten in einer öffentlichen Debatte, etwa zum Einsatz selbstlernender Videoüberwachung, thematisch relevante Wertkonzepte zutage, die in den erstellten Typologien nicht berücksichtigt wurden, so erwiese sich die Landkarte als zumindest ergänzungsbedürftig, jedenfalls in dieser Form als untauglich.

Es bietet sich daher an, die Landkarten in Auseinandersetzung mit der Empirie auszuarbeiten – etwa über die Analyse politischer Debatten oder über geeignete partizipative Verfahren (Mader et al. stellen in diesem TATuP-Thema eine dezidiert pluralistisch ausgerichtete Methode zur Darstellung normativer Orientierungen vor). Um als intellektuelles Werkzeug dienen zu können, bedarf es zudem einer hermeneutischen Klärung der situativ ausdifferenzierten Begriffe, die verständlich macht, wie diese mit den übergeordneten Konzepten zusammenhängen und sich kulturell begründen. Auch hier können Ausarbeitungen scheitern, etwa wenn die Darstellung historisch unangemessen ist oder kein vertieftes Verständnis der Entscheidungssituation erlaubt.

Entsprechend bilden moralische Landkarten keine normativen Großtheorien, sondern verstricken sich in situative Eigenheiten technischen Handelns, deren Aufarbeitung bisweilen recht kleinteilig geraten kann. Immerhin konnte gezeigt werden, dass es eine enge Einbindung in die Entscheidungssituation erlauben kann, an moralische Landkarten konsistent eine operationalisierte Bewertung aus mehreren Perspektiven anzuschließen (Weydner-Volkmann 2018, S. 233–270). Für Innovationsbereiche, bei denen der technische Wandel halbwegs gut abzuschätzen ist, lassen sich so, wie von Grunwald (1999, S. 75) auch für ethische Ansätze eingefordert, qualitativ vergleichend „Planungsgrößen“ als Grundlage für politische Entscheidungsprozesse erarbeiten.

Beispielsweise werden sich durch den Einsatz selbstlernender Videoüberwachung bestimmte Sachverhalte bei Sicherheitskontrollen an Flughäfen anders darstellen – etwa, weil nun für alle Passagiere biometrische Daten erhoben werden. Dadurch verschärft sich der Eingriff in den korrespondierenden Aspekt von Privatheit. Zugleich mag es aber auch möglich sein, dass dadurch die Zahl intensiver Nachkontrollen verringert und somit ein anderer Wertungskonflikt entschärft werden kann. Für die politische Debatte lässt sich so darstellen, welche Wertungen über Werte die Entscheidung für bzw. gegen den Technikeinsatz impliziert; über die hermeneutische Komponente der moralischen Landkarte ließe sich zudem durchgängig verstehen, worin hierbei jeweils die spezifische ethische Relevanz liegt.

Schwieriger gestaltet sich die Ausarbeitung der Karte, sofern sich Wertungskonflikte erst zu einem späten Zeitpunkt abschätzen lassen, wenn Gestaltungsspielräume kaum mehr vorhanden sind (Collingridge-Dilemma). Solche Grundprobleme der TA lassen sich über die hermeneutische Komponente moralischer Landkarten zwar adressieren, indem man versucht, von einer Prognostik auf eine Ausdeutung der mit dem Technikeinsatz verbundenen Hoffnungen und Ängste zu wechseln (Grunwald 2015, S. 66 ff.). Lösen lässt sich das epistemische Grundproblem unsicherer Zukünfte freilich auch über einen moralpragmatischen Ansatz nicht.

Eine moralpragmatisch erweiterte TA, so lässt sich abschließend sagen, kann jedoch dabei helfen, bewusst ein Ethos der Distanz zu je eigenen, einseitigen Wertungen einzunehmen – nicht als normative Abstinenz, sondern durch eine methodisch geklärte Offenheit für widerstreitende Wertungen. Über moralische Landkarten lassen sich dabei intellektuelle Werkzeuge für politische Entscheidungsprozesse bereitstellen, ohne dabei schon vorwegzunehmen, was „ethisch geboten“ sei.

Dies verstellt indes den Weg zu einem Selbstverständnis der TA im Sinne einer programmatisch-politischen Gegenrolle, wie sie aktuell vorgeschlagen wird (Delvenne und Parotte 2019). Als derartiges Selbstbehauptungsprojekt gegenüber einem konstitutiven Anderen, einem politischen Gegner, von dem sich ein politisches Wir der TA abgrenzen lasse, würde sich die TA letztlich dem entziehen, was sich mit Dewey (1978, S. 208) gewissermaßen als Verantwortung für die eigenen Reflexionsprozesse begreifen lässt und was Hans-Georg Gadamer einst so formulierte: „Wir müssen endlich wieder lernen, wie man ein richtiges Gespräch führt. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe für die Philosophie. Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte“ (Sturm 2000, S. 305).

Fußnoten

[1]   „Pragmatisch“ soll hier und im Folgenden nicht alltagssprachlich verstanden werden, sondern als Bezeichnung für den epistemologischen Ansatz im klassischen amerikanischen Pragmatismus, speziell jenem Deweys.

[2]   Dewey und Tufts (1978) setzen sich recht holzschnittartig mit je einem Vertreter der drei großen Ethiktraditionen auseinander: über Kant wird die Pflichtethik, über Mill der Utilitarismus und über Aristoteles die Tugendethik verhandelt. Trotz der konsequenten Zurückweisung universeller und letztgültiger Ansprüche sollen derartige Ansätze aber keineswegs verworfen werden. Vielmehr stellt Dewey auch den jeweiligen Eigenwert dieser Ansätze für die moralische Reflexion von Entscheidungssituationen heraus. Im Moralpragmatismus sollen diese zum Teil gegenläufigen Formen ethischer Argumentation bestehen bleiben und zu einer multi-perspektivischen Theorie integriert werden (Fesmire 2014, S. 122).

Literatur

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Weydner-Volkmann, Sebastian (2018): Moralische Landkarten der Sicherheit. Ein Framework zur hermeneutisch-ethischen Bewertung von Fluggastkontrollen im Anschluss an John Dewey. Baden-Baden: Ergon.

Autor

Dr. Sebastian Weydner-Volkmann

forscht zu Technikphilosophie, Demokratietheorie und Angewandter Ethik mit Schwerpunkt in der Sicherheitsforschung. Seit 2012 arbeitet er am Centre for Security and Society und am Husserl-Archiv der Universität Freiburg. Zuletzt entwickelte er ein Framework zur ethischen Bewertung von Fluggastkontrollen.