Converging Technologies und die Sozial- und Geisteswissenschaften. Ergebnisse und Erfahrungen aus einem EU-Projekt

TA-Projekte

Converging Technologies und die Sozial- und Geisteswissenschaften

Ergebnisse und Erfahrungen aus einem EU-Projekt

von Torsten Fleischer, Christiane Quendt und Michael Rader (ITAS)

Unter den Überschriften „konvergierende Techniken“, „Converging Technologies“ (CT) oder „NBIC (nano-bio-info-cogno) convergence“ werden – ausgehend von forschungspolitischen Initiativen in den USA – seit einigen Jahren vor allem technische Ansätze diskutiert und untersucht, die die Fähigkeiten des Menschen erweitern und verbessern sollen. Insbesondere durch die synergistische Kombination emergenter Nano-, Bio- und Informationstechniken mit den Erkenntnissen der Kognitionswissenschaften, so die Protagonisten, erschlössen sich hier völlig neue Möglichkeiten. Sowohl die – bisher noch des Beweises der Machbarkeit harrenden – technischen Entwicklungsprogramme (mit)formenden sozialen Visionen wie auch die sozialen Implikationen der (noch hypothetischen) Verfügbarkeit solcher Techniken könnten dabei herausfordernde Forschungsgegenstände für die Sozial- und Geisteswissenschaften sein. Wohl nicht zuletzt auch aus dieser Wahrnehmung heraus hat die Europäische Kommission im Rahmen des Programms „Citizens and Governance in a knowledge based Society“ aufgefordert, die möglichen Auswirkungen der neuen konvergierenden Techniken auf die europäische Wissensgesellschaft detaillierter zu betrachten. Eines der in diesem Rahmen geförderten Vorhaben war das Projekt „CONTECS – Converging Technologies and their Impact on Social Sciences and Humanities“.

CONTECS ist eine „Specific Support Action“, die im Rahmen des 6. Forschungsrahmenprogramms der Europäischen Kommission finanziert wurde und von Februar 2006 bis April 2008 lief. Projektpartner waren neben dem Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse im Forschungszentrum Karlsruhe (ITAS) das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (FhG-ISI Karlsruhe) als Projektkoordinator, die Said Business School Oxford sowie die Ecole Normale Supérieure, Paris. Ziel des Projekts war es, die wichtigsten ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekte der Entwicklung von Converging Technologies (CT) zu identifizieren, näher zu beleuchten und schlussendlich in Vorschläge für eine Forschungsagenda für das 7. Forschungsrahmenprogramm zu überführen. Zu diesem Zweck wurden neben umfänglichen Dokumenten- und Internetrecherchen zu verschiedenen Aspekten von CT eine Reihe von Expertenworkshops und -interviews durchgeführt. Die Ergebnisse flossen in validierte Reports zu wissenschaftlichen und technologischen Trends von CT, zur aktuellen Debatte um CT in den Sozial- und Geisteswissenschaften sowie zum forschungspolitischen Rahmen dieser Technikentwicklung ein, die Anfang 2007 vorgelegt wurden. Workshops mit Experten und Stakeholdern dienten neben der Validierung und Konkretisierung der Ergebnisse auch dazu, dieses Thema CT einer breiteren (Fach-)Öffentlichkeit vorzustellen und das Bewusstsein für die Relevanz der damit verbundenen Fragestellungen für die Sozial- und Geisteswissenschaften bei den Wissenschaftlern der beteiligten Disziplinen zu wecken bzw. zu stärken (ausführlich zu den zentralen Projektergebnissen Andler et al. 2008).

Eine Frage, die die Diskussion um CT seit geraumer Zeit begleitet, und die auch im Projekt nicht zufrieden stellend geklärt werden konnte, ist die nach dem Gegenstandsbereich der Debatte: Handelt es sich bei CT primär um neue technische Entwicklungen zur Wiederherstellung und Verbesserung von motorischen, sensorischen oder kognitiven Fähigkeiten von Individuen? Beschreibt CT ein weiteres forschungspolitisches Programm, das im Wettbewerb um Aufmerksamkeit der Forschungsförderer mit (teilweise) überzogenen visionären Vorstellungen und Versprechungen hinsichtlich seiner Reichweite agiert? Beschreibt es einen Entwicklungstrend in der modernen Wissenschaft, der hier hin zu einem Verschwinden der Grenzen zwischen den Disziplinen und dann zu einer neuen Einheit der Wissenschaften geht? Oder handelt es sich, wie von einem Experten in der Diskussion geäußert, eher um einen Dachbegriff für ein „Forum, welches die zukünftigen Auswirkungen von Wissenschaft und Technik exploriert“?

Diese Diversität der Perspektiven spiegelt sich auch in der veröffentlichten Literatur wider.

Eine Analyse forschungspolitischer Papiere aus Europa, Nordamerika und einigen Schwellenländern zeigt, dass CT als Konzept auf einer abstrakten Ebene sehr erfolgreich und strategisch wichtig zu sein scheint, sich aber auf der Ebene der konkreten, technisch orientierten Forschung selten wiederfindet. Zwar existieren in allen betrachteten forschungspolitischen Arenen Visionen oder Papiere mit Strategiecharakter zu CT, welche – so scheint es zumindest aus einer Außenperspektive – auch innerhalb einer Reihe von konkreten naturwissenschaftlichtechnisch orientierten Forschungsprogrammen gefördert werden, die dem Bereich CT zugeordnet werden können. In ihrer inhaltlichen Ausgestaltung können diese Vorhaben aber derzeit nicht aus den vorhandenen Programmatiken abgeleitet werden. Des Weiteren ist ungewiss, ob das forschungspolitische Konzept „CT“ Eingang in den realen Forscheralltag gefunden hat und wie es beim Design von Forschungsprojekten umgesetzt und weiterentwickelt wird. Aktuell scheint es zudem so zu sein, dass nach einigen Jahren der rhetorischen Euphorie vor allem in der US-amerikanischen Forschungspolitik eine „Normalisierung“ begonnen hat. Einige Experten vertraten hierzu sogar die Auffassung, dass die Rezeption des Konzepts CT und seine Auseinandersetzung damit in Europa sehr viel intensiver gewesen seien als in den USA selbst. Dies sei durch Missverständnisse bei der Interpretation seiner forschungspolitischen Bedeutung sowohl für die USA als auch für Europa noch gefördert worden.

Die angerissenen unterschiedlichen Konzeptionen von und Zugänge zu CT finden sich auch in der wissenschaftlichen Literatur. Insgesamt hat die Publikationsaktivität zum Thema in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, auch die Zahl der einschlägigen wissenschaftlichen Konferenzen ist gewachsen. In der Debatte sind drei verschiedene Diskussionsstränge zu finden: Zum einen sind einige Foresight-Studien oder Innovations-Reports veröffentlicht worden, die sich auf die technischökonomischen Zukunftsperspektiven des Feldes konzentrieren. Ein zweiter Schwerpunkt widmet sich vor allem ethischen und sozialen Fragen der Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit. Dabei reicht das Spektrum von Themen der praktischen Bioethik neuronaler Implantate bis hin zur „Rekonstruktion des Menschen“ oder seiner „posthumanen Zukunft“. Ergänzt werden diese Arbeiten durch Untersuchungen zu den kulturellen, historischen und politischen Kontexten solcher Visionen und der damit verbundenen Diskurse. Ein dritter Strang befasst sich vornehmlich mit Fragen neuer Modi der Inter- und Transdisziplinarität in den Wissenschaften, der gesellschaftlichen Einbettung von Wissenschaft und Technik und empirischen Aspekten von Prozessen der technowissenschaftlichen Konvergenz.

Ließ sich nun angesichts der Vielfalt des Themas „CT“ – wie als Projektziel formuliert – eine Forschungsagenda für die Sozial- und Geisteswissenschaften entwerfen? Das Projektteam hat sich für den nahe liegenden Weg entschieden und vorgeschlagen, die Klärung der Unbestimmtheiten und ihre Herkunft mit in das Forschungsprogramm zu integrieren. Insgesamt wurden sechs Untersuchungsschwerpunkte formuliert, die den Rahmen für zukünftige Programme in diesem Feld aufspannen und zugleich zu einem europäischen forschungspolitischen Ansatz für CT beitragen sollen:

  1. Wo liegen die Ursprünge der Konvergenz-Debatte und der realweltlichen Resonanzen von CT-Visionen? Hier soll untersucht werden, in welchem Umfang das Konzept der Konvergenz in Agenden der weltweiten Forschungs- und Technologiepolitik Einzug gehalten hat. Besondere Aufmerksamkeit soll der Frage gelten, welche Auswirkungen dabei vor allem die in Europa sehr kontrovers und kritisch diskutierte US-amerikanische NBIC-Initiative tatsächlich hatte. Aus heutiger Sicht festigt sich der Eindruck, dass diese nicht – wie in Europa oft rezipiert – eine offizielle forschungspolitische Initiative mit neuer strategischer Schwerpunktsetzung war, sondern vor allem von den Programmverantwortlichen zur Stabilisierung und Legitimierung der Nanotechnologie-Forschung platziert wurde. Ein zweiter Aspekt betrifft die Realisierbarkeit und die Forschungsintensität von in der NBIC-Initiative benannten Techniken. Während einige aktive Forscher „Enhancement“ für physische oder insbesondere kognitive Fähigkeiten als sehr ambitioniert und weit in der Zukunft liegend charakterisieren, hat es zumindest den Anschein, dass andere Entwickler solche Techniken für ein realistisches und erstrebenswertes Forschungsziel halten – und sei es nur zu dem Zweck, Aufmerksamkeit und Mittel für die Weiterführung ihrer Forschungsvorhaben zu generieren.
  2. Welche Rolle spielen die Kognitionswissenschaften? Im CONTECS-Team wurde den Kognitionswissenschaften eine besondere Bedeutung bei der Realisierung der Ziele der NBIC-Initiative zugemessen. Zum einen werden die dort formulierten Erwartungen durch Ergebnisse der Forschung in den Neuro- und Kognitionswissenschaften befördert. Vor allem die Hirnforschung und neue Instrumente zur Beobachtung und möglicherweise Beeinflussung von neuronalen Prozessen stehen hier im Mittelpunkt. Andererseits ruht das „Konvergenzversprechen“ zu einem Teil auf dem Verständnis und der Manipulierbarkeit von Prozessen in den Neuronen – ein Feld, mit dem sich die Kognitionswissenschaften bisher nur wenig beschäftigen. Molekulare Neurowissenschaften, so ein Experte, lägen bisher „at the outer fringes of cognitive sciences“.
  3. Ist Interdisziplinarität ein integrierendes Moment für die Entwicklung von CT? Sowohl die NBIC-Initiative als auch das europäische Converging-Technologies-for-European-Knowledge-Societies-Konzept (CTEKS) schreiben der interdisziplinären Zusammenarbeit eine zentrale Rolle bei der Erarbeitung von CT-Anwendungen zu. Während die Protagonisten der NBIC-Initiative glauben, eine quasi „natürliche” Interdisziplinarität durch die gemeinsamen Wissensbestände zu Prozessen auf der Nano-Ebene gefunden zu haben, plädieren die Autoren des CTEKS-Reports normativ für eine starke Interdisziplinarität zwischen Natur-, Technik- und Geisteswissenschaften sowohl bei der Bestimmung der Forschungsziele als auch in der Forschungspraxis. Die jeweils damit verbundenen Probleme und Herausforderungen wurden auf einer allgemeinen Ebene in der wissenschaftlichen Literatur schon ausführlich diskutiert. Mit Blick auf CT könnte von Interesse sein, inwieweit vor allem angesichts eines bisher nicht näher geklärten Maßes an gemeinsamen wissenschaftlichen Fragestellungen nicht auch das Problem der unterschiedlichen epistemischen Kulturen der Disziplinen in den Mittelpunkt rücken sollte. Diese könnten – neben institutionellen Barrieren – ein weiteres Hindernis auf dem Wege zur Interdisziplinarität bilden.
  4. Welche ethischen Fragestellungen und Technikfolgen zeigen sich? Da mögliche CT-Anwendungen noch um einiges von der technischen Realisierbarkeit entfernt und die konkrete Ausgestaltung und Leistungsfähigkeit der Techniken kaum bekannt sind, konzentriert sich ein größerer Teil des ethischen und TA-Diskurses auf allgemeine Fragestellungen der Technikentwicklung, und hier vor allem auf die Chancen und Risiken von Enhancement-Techniken. Angesichts der umstrittenen Anwendungsmöglichkeiten und ihrer Bewertungen und angesichts gleichzeitig noch gegebener Gestaltungsoffenheit der Techniken kommt der Frage nach dem „richtigen“ Zeitpunkt und den richtigen Verfahren der TA eine wichtige Rolle zu. Zu diskutieren wären in diesem Zusammenhang auch die Leistungsfähigkeit und die konkrete Ausgestaltung von partizipativen Ansätzen in der TA und der Forschungs- und Technologiepolitik sowie Herausforderungen an die Governance und die rechtlichen Implikationen solcher Techniken.
  5. Werden traditionelle Domänen der Sozial-und Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften „übernommen” und dadurch deterministische Modelle des Menschen in den Wissenschaften dominant? Versuche, die Sozialwissenschaften zu „naturalisieren“, haben eine lange – und von Kontroversen bestimmte – Tradition. Die Tatsache, dass die Sozialwissenschaften sich in zunehmendem Maße mathematischer und naturwissenschaftlicher Methoden bedienen, führt aber für sich genommen keineswegs zu deren Transformation in eine Naturwissenschaft. Der Versuch einer Formalisierung der Sozialwissenschaften zeigte bisher geringe, aber nachweisbare Wirkung. Mit dem Ziel, immer komplexere Phänomene erfassen zu wollen, werden aber auch die Formalisierungsanforderungen wachsen. Zugleich werden empirische Zugänge in den Kognitions- und Neurowissenschaften sowie in der Evolutionsbiologie verfolgt (und deren Ergebnisse an die Sozialwissenschaften herangetragen), die als reduktionistisch zu bezeichnen sind. Zusammen mit verbesserten formalen Methoden in den Sozialwissenschaften könnten diese einen Trend hin zur Stärkung radikaler Konzepte der „Naturalisierung“ bewirken. Dieser wird sowohl von den gegenwärtigen Sozial- und Geisteswissenschaften, aber auch von vielen Bürgern kritisch bewertet oder als bedrohlich empfunden. Dennoch sollte untersucht werden, welche Möglichkeiten und Konzepte für eine Formalisierung und empirische Naturalisierung der Sozial- und Geisteswissenschaften diskutiert werden, und welche Auswirkungen diese auf deren zentrale Konzepte und Traditionen hätten.
  6. Was ist die Rolle von „Enhancement” und anderen Narrativen der Konvergenz bei der Entstehung und Formung der CT-Debatte? Verfahren, Praktiken, Diskussionen, Kämpfe und Auseinandersetzungen, mit denen die Existenz und die Gestalt von Entitäten definiert, konstruiert und eingeführt werden, können auch als „ontologische Politik“ bezeichnet werden. Im Rahmen der Forschung zu CT ist es von besonderem Interesse, die Entstehung und Formung des diesbezüglichen Diskurses durch die verschiedenen Akteure hinsichtlich ihrer spezifischen Position innerhalb der relevanten diskursiven und institutionellen Felder zu untersuchen. Mehrere Aspekte könnten dabei von besonderem Interesse sein: So sollte gefragt werden, was in den CT-Diskursen aus welchen Gründen als Expertenwissen gilt und wie es rezipiert wird. Eine zweite Fragestellung könnte sich aus der augenscheinlichen Parallelität der Konstitution der Debatten um CT und „human enhancement“ auf der einen und der über weit reichende Zukunftsvisionen der Nanotechnologie auf der anderen Seite ergeben. Ein drittes Thema ist die Analyse der Prozesse, durch die Ontologien in CT-Debatten formiert und gestützt werden. Durch die Identifikation, Analyse und Demystifizierung von ontologischen Politiken – insbesondere den trans- oder posthumanistischen und technofuturistischen Ansätzen, die den Hintergrund für die am intensivsten diskutierten CT-Visionen bieten – könnten die Sozial- und Geisteswissenschaften einen Beitrag dazu leisten, die Aufmerksamkeit auf solche Aspekte in der CT-Diskussion zu lenken, die bisher vernachlässigt wurden.

Literatur

Andler, D.; Barthelmé, S.; Beckert, B. et al., 2008: Converging Technologies and their impact on the Social Sciences and Humanities. Final report of the CONTECS project; http://www.contecs.fraunhofer.de (download 2.9.08)