Reflexionen · Theoriesplitter

Pragmatistischer Experimentalismus

Ein Ansatz für eine Theorie der TA[1]

Knud Böhle, Karlsruhe (boehle@kit.edu), orcid.org/0000-0002-8093-7076

This is an article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution License CCBY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)

TATuP Bd. 27 Nr. 1 (2018), S. 76–79, https://doi.org/10.14512/tatup.27.1.76

Dieser Beitrag befasst sich mit einer doppelten Fragestellung: Könnte der „demokratische Experimentalismus“ eines John Dewey nicht einen brauchbaren Ausgangspunkt liefern, um Technikfolgenabschätzung (TA) theoretisch zu verorten? Und wäre die Forschungspraxis der TA nicht selbst als hochgradig „experimentalistisch“ zu verstehen?

Die folgende Erörterung wurde durch die 2016 abgeschlossene Habilitationsschrift von Tanja Bogusz (im Druck), derzeit Professorin an der Universität Kassel (Fachgebiet Soziologie sozialer Disparitäten) angeregt. Der komplette Titel ihrer Arbeit lautet: Experimentalismus und Soziologie. Von der Krisen- zur Erfahrungswissenschaft. Diese Arbeit ist das Ergebnis von mehr als fünf Jahren intensiver Befassung der Autorin mit dem amerikanischen Pragmatismus, dem französischen Neopragmatismus und der Rezeption des Pragmatismus in Deutschland. Als „Französischer Neopragmatismus“ sind hier vor allem soziologische Praxistheorien bzw. Theorien sozialer Praktiken zu verstehen, in denen sich pragmatistische Grundannahmen und -einsichten wiederfinden (zum Verhältnis beider Theoriestränge erhellend die Beiträge in Dietz et al. 2017).

Es waren insbesondere zwei Unterpunkte im Inhaltsverzeichnis der Habilitationsschrift, die mein Interesse als TA-Forscher weckten: „4.3.2 ‚Partizipieren‘: Experimentalistische Soziologien kritischer Öffentlichkeiten – STS und ANT“ und „4.3.3 ‚Kollaborieren‘: Mit Dewey auf einer meeresbiologischen Expedition – Doing Biodiversity“. Da die Arbeit erst im Herbst 2018 im Campus-Verlag erscheint, sei an dieser Stelle auf drei Publikationen verwiesen, in denen Bogusz diese Themen ebenfalls behandelt: Bogusz 2013; Bogusz 2017; Bogusz und Reinhart 2017.

Gegenstand und Selbstverständnis der TA

Bevor ich die oben aufgeworfene doppelte Fragestellung auf die Arbeiten von Tanja Bogusz rückbeziehe, ist kurz zu erläutern, worum es meiner Auffassung nach bei der TA geht. Heute darf man wohl unwidersprochen sagen, dass TA es mit soziotechnischen Innovations- und Transformationsprozessen zu tun hat, die sich dynamisch wandelnden Konfigurationen verdanken. Alternativ zu dem von Norbert Elias verwendeten Begriff der Konfiguration, ließe sich je nach theoretischer Vorliebe auch von soziotechnischen Konstellationen, Innovationsnetzwerken, Arrangements, Akteur-Netzwerken oder auch Dispositiven sprechen. Der Dispositivbegriff im Anschluss an Foucault ist hier zu nennen, weil er einen weiteren Ausgangspunkt bietet, um die Verflechtung heterogener Elemente des Sozialen zu untersuchen, wie Diaz-Bone und Hartz (2017) überzeugend darlegen. Kennzeichen der Interdependenzgeflechte, unabhängig vom jeweiligen theoretischen Zugriff, sind in jedem Fall die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Interessen und Präferenzen der Akteure, ihrer Ressourcen und Machtpotenziale, des verfügbaren Wissens und der kognitiv-praktischen Orientierungen (z. B. Visionen, Leitbilder, Strategien, Weltanschauungen). Untrennbar mit den soziotechnischen Innovations- und Transformationsprozessen verwoben sind die zugehörigen Diskurse.

Die Themen, derer sich die TA annimmt, sind über die politische Öffentlichkeit vermittelt, und die Forschungsergebnisse ihrerseits sind öffentlich zugänglich und werden aktiv in den öffentlichen Diskurs eingespeist. TA ist als eine Akteurin unter vielen in Wissensproduktion und Verständigungsprozesse involviert. TA muss sich keineswegs auf die diskursive Ebene beschränken, sondern kann auch in den Traditionen der Begleitforschung sowie der Aktionsforschung in Kooperation mit anderen Akteuren neue Objekte und neues Wissen generieren. Manche TA-Forscher würden vielleicht sogar meinen, dass die Teilnahme und Mitwirkung der TA an „Realexperimenten“ an Bedeutung zugenommen hat. TA erschöpft sich aber nicht darin. Es bleibt die Aufgabe der TA, das über diese Erfahrungen gewonnene Wissen als Forschungsergebnis in den öffentlichen politischen Diskurs einzuspeisen, das Verständnis soziotechnischer Zusammenhänge und Prozesse zu vertiefen und neue Optionen im politischen Raum aufzuzeigen. Insbesondere sollte TA sich darauf verstehen, „funktional bzw. akteursspezifisch differenzierte Perspektiven und Präferenzen in solche mit allgemeinem Geltungsanspruch zu transformieren“ (Gloede 2007, S. 45).

Pragmatistischer Experimentalismus

Nach diesen Hinweisen zur TA, kann jetzt die Frage wieder aufgegriffen werden, ob TA über den „Experimentalismus“ theoretisch verortet werden kann. In der Kurzzusammenfassung der Habilitationsschrift heißt es: „Meine Studie setzt sich mit den sozialtheoretischen Gewinnen des Konzepts des ‚Experimentalismus‘ auseinander, dessen Ausgangspunkt im historischen Pragmatismus des US-amerikanischen Philosophen John Dewey verortet wird. Der Begriff des Experimentalismus erhebt die Verknüpfung von Erfahrung und operationalem Handeln zu einer erkenntnistheoretischen Grundthese, um gesellschaftliche Krisen und Transformationsprozesse zu erklären. Dewey hatte diese These insbesondere in seinen Werken über ‚Die Öffentlichkeit und ihre Probleme‘ (1927), sowie ‚Logik. Die Theorie der Forschung‘ (1938) entwickelt.“

Nach Auffassung von Tanja Bogusz fehle bislang aber „eine ausreichend theoretisierte Methodologie des pragmatischen Experimentalismus, die auch den Vorgang sozialwissenschaftlichen Forschens und Erklärens selbst einbezieht“. Und sie fährt fort: „In Frankreich und im Anglo-Amerikanischen Raum bieten insbesondere die Methodologien der Science Studies hierfür wichtige Ansatzpunkte. Deweys Forschungstheorie soll soziologisiert werden […]. Das Ergebnis führt zu einem systematischen Vorschlag eines sozialwissenschaftlichen Konzepts des Experimentalismus, der die Soziologie von einer Krisen- hin zu einer Erfahrungswissenschaft überführt.“[2] Die Frage lautet nun: Kann die doppelte Perspektive, die in der Habilitationsschrift und in anderen Beiträgen der Autorin entwickelt wird, für eine Theorie der TA fruchtbar gemacht werden?

Demokratischer Experimentalismus und TA

Der „demokratische Experimentalismus“ erscheint zunächst geeignet, die theoretischen Grundlagen bereitzustellen, um die Dynamik von Innovations- und Transformationsprozessen zu verstehen, die unter den Vorzeichen der Ungewissheit und der Korrekturbedürftigkeit stehen, die nicht automatisch vorangehen, die nicht linear verlaufen, deren „Governance“ sich nicht in einem top-down erschöpft und bei denen Leitbildern nicht blind gefolgt wird. Erfahrungen, positive wie negative, im Prozess führen zu Unterbrechungen, zum Reflektieren, zu Rekursionen, Iterationen, Neukonfigurationen und inkrementellen Praktiken. Demokratien erlauben eine solche Dynamik. Pragmatismus und Neopragmatismus könnten folglich helfen, ein realistisches Bild der sozialen Dynamik bei komplexen Innovations- und Transformationsprozessen zu gewinnen.

Deweys Hypothese, so wie sie Lamla (2013, S. 349) auf den Punkt bringt, lautet, „dass indirekte Handlungsfolgen stets neue Probleme in erweiterten gesellschaftlichen Zusammenhängen erzeugen, deren gemeinschaftliche Regelungsbedürftigkeit zunächst öffentlich artikuliert und elaboriert werden muss, bevor sich in dem Interdependenzgeflecht neue Institutionen herausbilden und stabilisieren können.“ Demokratie ist mithin aufzufassen als „pragmatischer Lernprozess, in dem über eine Sequenz von mehreren Phasen hinweg, mit vielen Versuchen und Irrtümern, die gesellschaftliche Problemkonstellation identifiziert und zur Sprache gebracht werden muss, die betroffenen Gruppen und ihre Interessen bestimmt werden müssen, Assoziationen gebildet, Experten und Repräsentanten gefunden, benannt und in die Pflicht genommen werden, die als Experimentalgesellschaft fungieren und politische Regulierungsvorschläge hypothetisch testen, welche schließlich organisatorische und institutionelle Gestalt gewinnen“ (ebd., S. 350). Bezogen auf Probleme des soziotechnischen Wandels folgt aus einer solchen Demokratietheorie der Bedarf an so etwas wie TA fast zwangsläufig.

Abb. 1: John Dewey. Quelle: Wikimedia Commons

Soziologischer Experimentalismus und TA

Der „soziologische Experimentalismus“, den Tanja Bogusz z. B. im transdisziplinären, methodologischen Experimentieren der STS und ANT am Werk sieht, läuft auf eine, wie sie es nennt, „kollaborative Transformationsforschung“ (Bogusz und Reinhard 2017, S. 350) hinaus, bei der die Soziologie selbst „zu einer experimentell handelnden und reflektierenden gesellschaftlichen Akteurin wird“ (ebd., S. 357). Und an anderer Stelle heißt es: „Sozialforschung konsequent explorativ und öffentlicher als bisher zu prozessieren […], gibt berechtigten Anlass zur Hoffnung auf eine experimentellere, eine demokratischere, eine risikobereitere – kurzum: eine mutigere Erfahrungswissenschaft“ (Bogusz 2013, S. 250). Diese neue Soziologie wird, das wachsende Interesse in der STS-Community an politischen Prozessen und öffentlicher Partizipation aufgreifend, konkret als „Soziologie kritischer Öffentlichkeiten“ (Bogusz 2017) weiter ausgearbeitet.

Es scheint mir nicht ganz vermessen, auch die TA als öffentliche, kollaborative Transformationsforschung zu verstehen, die ebenso wie die von Bogusz propagierte Soziologie Engagement und Distanzierung (Nobert Elias) vereinbaren muss. Diese Rolle ist aber nicht allein an die Beteiligung an (Real-)Experimenten (wie Smart Grid Feldversuche, FabLabs etc.) geknüpft, sondern findet auch im Rahmen partizipativer TA statt. Übrigens ist auch die „klassische“ TA über den vorausgesetzten Konnex zur öffentlichen Problemartikulation und die Beteiligung am öffentlichen Diskurs schon seit den Zeiten des OTA (Office of Technology Assesssment der USA) „öffentliche TA“ gewesen.

Fazit mit Desiderat

Ob der Pragmatismus und seine Weiterentwicklungen sich als Theorie der TA eignen, kann ohne eingehendere Untersuchungen und Überlegungen nicht entschieden werden. Aber aus der kurzen Erörterung des „pragmatistischen Experimentalismus“ können vielleicht doch zwei Punkte für eine Theorie der TA festgehalten werden.

Erstens, es ist überzeugend, TA im Rahmen einer Demokratietheorie zu verorten, die anerkennt, dass für Problemlösungen bzw. Problembewältigungen im Kontext soziotechnischen Wandels neben der Politik auch der Einbezug der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und weiterer Akteure unabdingbar sind. Die sich anschließende kritische Frage ist, ob eine pragmatistische, zumindest vordergründig optimistische Demokratietheorie auch in der Lage wäre, Fragen der Macht, der Legitimation, der Inklusion und Exklusion von Akteuren und dergleichen mehr mit ihren eigenen Mitteln zu theoretisieren. Oder wären hier nicht, zumindest vordergründig illusionslosere macht- und demokratietheoretische Zugänge, wie sie die soziologische Systemtheorie oder Dispositivanalysen anbieten, vor- oder zumindest ergänzend heranzuziehen?

Technikfolgenabschätzung kann als Paradigma einer experimentalistischen Forschungspraxis gelten.

Zweitens, es erscheint durchaus möglich, die Praxis der TA im Kontext kritischer Öffentlichkeiten als pragmatistische Forschung und Beratung zu theoretisieren, was in Konzepten wie dem „constructive Technology Assessment“, der TA als „Gesellschaftsberatung“, partizipativer TA oder der Verortung von TA im Kontext „problemorientierter Forschung“ (vgl. Bechmann und Frederichs 1996) schon angelegt ist. Anders als die Soziologie und die Science & Technology Studies pflegt TA seit ihren Anfängen ein transdisziplinäres Selbstverständnis und hat Innovationsprozesse stets im Zusammenhang mit Fragen von Policy, Governance und Öffentlichkeit behandelt. TA könnte demnach geradezu als Paradigma einer experimentalistischen Forschungspraxis gelten, zu der selbstverständlich auch Beratung gehört. Offene Fragen an dieser Stelle sind, inwieweit Praxistheorien und Theorien sozialer Praktiken in der Lage wären, Erfahrungen der TA etwa mit den Grenzen und Nebenfolgen von Partizipation und partizipativen Verfahren, strategisch motivierter selektiver Nutzung von Forschungsergebnissen, Fragen begrenzten Feldzugangs bei vielen Innovationsprozessen, oder Fragen veränderter Verantwortungsallokation und konkreter Verantwortungsübernahme der Wissenschaft in kollaborativen, experimentellen und partizipativen demokratischen Prozessen zu thematisieren und zu bearbeiten.

Eine pragmatistische bzw. praxistheoretische Theorie der TA, die als größeren Zusammenhang aktuelle Praktiken in Innovations- und Transformationsprozessen mit im Blick hätte, wäre hochinteressant, ist derzeit aber noch Wunschdenken. Pragmatisch gesehen, bieten die Arbeiten von Tanja Bogusz denen, die sich dafür interessieren, jedenfalls einen ausgezeichneten Einstiegspunkt.

Fußnoten

[1] Dieser Beitrag wurde in einer früheren Fassung im Januar 2018 als Editorial zum Neuerscheinungsdienst „ueberdeNTAellerrand“ (NED) des Netzwerks TA (NTA) veröffentlicht: https://www.openta.net/blog/-/blogs/pragmatistischer-experimentalismus-als-theorie-der-ta-

Literatur

Bechmann, Gotthard; Frederichs, Günther (1996): Problemorientierte Forschung: Zwischen Politik und Wissenschaft. In: Gotthard Bechmann (Hg.): Praxisfelder der Technikfolgenforschung. Frankfurt a. M.: Campus, S. 11–37. Online verfügbar unter http://www.itas.kit.edu/pub/v/1996/befr96a.pdf, zuletzt geprüft am 12. 02. 2018.

Bogusz, Tanja (2013): Experimentalismus statt Explanans? Zur Aktualität der pragmatistischen Forschungsphilosophie John Deweys. In: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 2, S. 239–252.

Bogusz, Tanja (2017): Kritik, Engagement oder Experimentalismus? STS als pragmatistische Soziologie kritischer Öffentlichkeiten. In: Hella Dietz, Frithjof Nungesser und Andreas Pettenkofer (Hg.): Pragmatismus und Theorie sozialer Praktiken. Sozialtheoretische Perspektiven. Frankfurt a. M.: Campus, S. 283–300.

Bogusz, Tanja (im Druck): Experimentalismus und Soziologie. Von der Krisen- zur Erfahrungswissenschaft. Habilitationsschrift, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Frankfurt a. M.: Campus.

Bogusz, Tanja; Reinhart, Martin (2017): Öffentliche Soziologie als experimentalistische Kollaboration. Zum Verhältnis von sozialwissenschaftlicher Theorie und Methode im Kontext disruptiven sozialen Wandels. In: Stefan Selke und Annette Treibel (Hg.): Öffentliche Gesellschaftswissenschaften. Wiesbaden: Springer, S. 345–359.

Diaz-Bone, Rainer; Hartz, Ronald (2017): Dispositivanalyse und Ökonomie. In: Rainer Diaz-Bone und Ronald Hartz (Hg.): Dispositiv und Ökonomie. Wiesbaden: Springer, S. 1–38.

Dietz, Hella; Nungesser, Frithjof; Pettenkofer, Andreas (Hg.) (2017): Pragmatismus und Theorien sozialer Praktiken. Vom Nutzen einer Theoriedifferenz. Frankfurt a. M.: Campus.

Gloede, Fritz (2007): Unfolgsame Folgen. Begründungen und Implikationen der Fokussierung auf Nebenfolgen bei TA. In: TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis 16 (1), S. 45–54. Online verfügbar unter http://www.tatup-journal.de/tatup071_gloe07a.php, zuletzt geprüft am 12. 02. 2018.

Lamla, Jörn (2013): Arenen des demokratischen Experimentalismus. Zur Konvergenz von nordamerikanischem und französischem Pragmatismus. In: Berliner Journal für Soziologie 23 (3–4), S. 345–365.