Von der Wiege bis zur Bahre. Eine Einführung in den Schwerpunkt

Schwerpunkt: Lebenszyklusanalysen in der Nachhaltigkeitsbewertung

Von der Wiege bis zur Bahre

Eine Einführung in den Schwerpunkt “Lebenszyklusanalysen in der Nachhaltigkeitsbewertung“

von Liselotte Schebek, ITC-ZTS, und Klaus-Rainer Bräutigam, ITAS

Im Kontext von Strategien einer nachhaltigen Entwicklung ist in den letzten Jahren immer häufiger die Rede vom „Life Cycle Thinking“: Sei es in der Integrierten Produktpolitik, im Abfallmanagement oder in der Diskussion um die Verminderung des Ressourcenverbrauchs, überall begegnet uns heute das Paradigma des „Denken in Lebenszyklen“. Verbunden damit ist eine systemanalytische Methode neu in denFokus der Öffentlichkeit gerückt, die bereits auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken kann und gleichermaßen Begeisterung und Skepsis hervorgerufen hat: das Life Cycle Assessment, das als Analyseinstrument im Deutschen als „Lebenszyklusanalyse“ oder „Ökobilanz“ bezeichnet wird. Dieses Instrument steht im Mittelpunkt dieses Themenschwerpunktes. Zu fragen ist dabei nach seinen Charakteristika, seinen Möglichkeiten und Grenzen: Welche Gründe gibt es für das breite Interesse aus ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern einer nachhaltigen Entwicklung? Was ist der Stand der Wissenschaft und welche Forschungsfragen stellen sich?

1     Zur Geschichte des LCA

Die Lebenszyklusanalyse ist ein Kind der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Ihre Entwicklung wurde maßgeblich angetrieben durch die damalige Diskussion um die Endlichkeit der Ressourcen und die für jedermann sichtbaren Auswirkungen der Umweltverschmutzung. Ein besonders plakatives Beispiel hierfür waren Verpackungen, die mit großem technischem Aufwand aus nicht erneuerbaren Ressourcen wie Erdöl hergestellt werden, aber nach kürzester Zeit ihren Nutzen verlieren und weggeworfen werden. Die damit zusammenhängenden Müllberge der 1970er Jahre mit Plastikflaschen und Einwegverpackungen wurden zum Synonym der „Ex-und-Hopp“-Mentalität“ im Umgang mit unserer natürlichen Umwelt. Es überrascht daher nicht, dass die erste „moderne“ Lebenszyklusanalyse im Auftrag des Konzerns Coca-Cola für Getränkeverpackungen durchgeführt wurde. Unter der Bezeichnung „Resource and Environmental Profile Analysis“ wurden alle Material- und Energieflüsse bei Herstellung, Nutzung und Entsorgung eines Verpackungssystems in einer Studie erfasst und quantitifziert.[1] Die dabei vorgenommene Integration vorhandener Bilanzierungsansätze in den Systemrahmen des „Lebenszyklus“ eines Produktes bot nicht nur eine plakative gemeinsame Sicht auf die Problematiken von Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung. Sie eröffnete vielmehr auch einen neuen konzeptionellen Zugang für die ursächliche Verknüpfung des Konsums von Produkten mit den daraus resultierenden Umweltwirkungen. Der Zeitraum von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre kann als erste „Blütezeit“ des nun Life Cycle Assessment (LCA) bzw. im deutschen Raum Ökobilanz genannten Instruments bezeichnet werden.[2] Weltweit wurde eine Vielzahl von Studien vorwiegend für den Bereich der Abfallentsorgung durchgeführt (siehe z. B. BUS 1984, Guinée et al. 1989, UBA 1995).

In Deutschland stand das LCA in den 1990er Jahren im Blickpunkt von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit: In der vehement geführten Debatte um die Verpackungsverordnung schien die Ökobilanz das Mittel der Wahl zu sein, um klare Entscheidungen zwischen den Alternativen „Einweg- contra Mehrwegverpackung“ oder „Beseitigung contra Verwertung“ zu ermöglichen. Der Weg zu einfachen Antworten war aber schwerer als gedacht und zeigte die Grenzen des Instruments selbst sowie die Schwierigkeiten seiner Einbettung in den Kontext gesellschaftlicher und damit insbesondere politischer Entscheidungsfindung auf. Die Vielfalt von Varianten, die in komplexen technischen Systemen möglich und in der Ökobilanz abbildbar sind, kann in politischen Auseinandersetzungen durchaus unterschiedlichen „Lagern“ die jeweils geeigneten Argumente liefern. Im Nachgang zur Verpackungs–Debatte stellte sicheine gewisse Ernüchterung ein, und die Ökobilanz verschwand zumindest in Deutschland weitgehend aus dem Gesichtsfeld der Öffentlichkeit. Als wissenschaftlich verankertes Analyseinstrument behielt das Life Cycle Assessment jedoch seine ungebrochene Attraktivität, die sich in zahlreichen Fallstudien und Forschungsprojekten (z. T. auch innerhalb der Industrie) niederschlug.

2     Arbeitsschritte und Erwartungen

Heute bietet sich das Life Cycle Assessment insofern als „ausgereiftes“ systemanalytisches Instrument zur Unterstützung des Denkens in Lebenszyklen an, als – ebenfalls in den 1990er Jahren – auf internationaler Ebene eine Vereinheitlichung der Methodik und eine Standardisierung stattfand. Die gerade novellierten Normen ISO 14040 und ISO 14044 geben dem LCA eine einheitliche und in hohem Maß transparente Grundlage (ISO 14040; ISO 14044).

Von der Methodik her umfasst das LCA vier Arbeitsschritte:

  1. Sie beginnt mit der Definition von Ziel und Untersuchungsrahmen (Goal-and-Scope-Definition). In diesem wichtigsten Schritt werden die Systemgrenzen festgelegt, und mittels der funktionellen Einheit wird der Nutzen (d. h. das Produkt oder die Dienstleistung) definiert, auf den alle Ergebnisse bezogen werden.
  2. Als im Allgemeinen arbeitsintensivster Schritt folgt die Sachbilanz, auf Englisch Life Cycle Inventory (LCI) genannt, in der für alle Prozesse innerhalb des Systemrahmens die ein-und ausgehenden Stoff- und Energieflüsse ermittelt und für das Gesamtsystem aggregiert werden.
  3. In der Wirkungsbilanz oder Life Cycle Impact Assessment (LCIA) werden den Stoffflüssen Wirkungskategorien zugeordnet und diese mittels „Charakterisierungsfaktoren“ quantifiziert.
  4. Abschließend erfolgt die Interpretation der Ergebnisse, bei der alle vorliegenden Informationen gesichtet und bewertet werden und Schlussfolgerungen sowie Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Darüber hinaus verpflichtet die Norm den Bearbeiter eines Life Cycle Assessments zu Fehlerbetrachtungen und Sensitivitätsüberprüfungen, die gegebenenfalls zum Revidieren von Annahmen und einer iterativen Durchführung der genannten Arbeitsschritte führen können. Dieser methodische Rahmen stellt das konstitutionelle Gerüst jedes LCA dar.

Im Kanon der Analyse-Instrumente zur Untersuchung und Bewertung von Aspekten der nachhaltigen Entwicklung weist das Life Cycle Assessment Besonderheiten auf, die von seiner zentralen Motivation herrühren und eng verknüpft mit den Begrifflichkeiten der „inter-“ und „intragenerativen Gerechtigkeit“ sind. Dies bedeutet wiederum, dass das Life Cycle Assessment darauf abzielt, Problemverschiebungen sowohl in geographischer als auch in zeitlicher Hinsicht zu erkennen und diese Erkenntnis als Basis einer nachhaltigen Gestaltung von Produkten oder Dienstleistungen verfügbar zu machen. Beispiele für Forschungsfragen, die in dieser Perspektive aufzuwerfen sind, lauten: Verursachen wir durch den vermehrten Einsatz von Biokraftstoffen in Deutschland gleichzeitig Prozesse der „Entwaldung“ und damit eine Erhöhung der CO2-Emissionen sowie parallel eine Verringerung der Biodiversität in Südamerika oder Asien? Vermindern wir heute die Luft- und Wasser-Emissionen in Herstellungsprozessen, binden dabei aber Schadstoffe in Produkte ein, die in der Nachnutzungs-Phase wiederum freigesetzt werden? Um diese Fragen zu beantworten, strebt das Life Cycle Assessment nach der quantitativen Erfassung aller relevanten Stoff- und Energieströme des vollständigen Lebenszyklus von Produkten und Dienstleistungen, will diese in ihrer stofflichen Dynamik „von der Wiege bis zu Bahre“ erfassen sowie nach allen möglichen Umwelteinwirkungen bewerten.

Diese Erfassung und Bewertung des vollständigen Lebenszyklus soll sowohl für gegenwärtige als möglichst auch für zukünftige Entwicklungen aussagekräftig sein. Dabei muss fallweise auch der ‚Betrachtungsgegenstand’ das Vorgehen ebenso mit bestimmen wie die unterschiedlichen geografischen Regionen, auf die sich der Betrachtungsgegenstand und / oder die Effekte beziehen. Um diesem Anspruch genügen zu können, erfordert das Life Cycle Assessment eine umfassende Datengrundlage zu ein- und ausgehenden Stoff- und Energieflüssen für eine Vielzahl von technischen Prozessen in unterschiedlichen geografischen Regionen, aber auch über die gegenwärtigen und zukünftigen Auswirkungen von Stoff- und Energieflüssen auf Mensch und Umwelt.

3     Das Streben nach Vereinfachung

Notwendigerweise muss das „reale“ Life Cycle Assessment daher mit Vereinfachungen arbeiten. Damit befindet es sich in einem permanenten Spannungsfeld: LCA ist und bleibt ein komplexes Instrument – nicht aus Selbstzweck, sondern weil die Fragestellungen der Realität, die es untersucht, komplex sind. Ein zentraler Gesichtspunkt ist dabei, wie viel Vereinfachung überhaupt möglich ist, wenn man der Fragestellung gerecht werden will? Desavouiert eine zu starke Vereinfachung die Methodik und wäre es dann nicht ehrlicher und effizienter, mit simplen Indikatoren zu arbeiten (wie z. B. dem Energieverbrauch von Geräten und der Menge von Abfällen einer Firma)? In analytischer Perspektive schließt sich dabei eine Reihe von Folgefragen an: Welche Ansprüche bestehen an die Datenbasis des Life Cycle Assessment, um „richtige“ Ergebnisse zu erhalten? Wie weit kann und muss LCA als naturwissenschaftlich basierte Methode den Ansprüchen der Naturwissenschaften nach durchgängiger Ausweisung von Fehlerbreiten von Eingangsdaten und Ergebnissen nachkommen?

Dem „Streben nach Vereinfachung“, das einen wesentlichen Bestandteil der wissenschaftlichen Diskussion zum Life Cycle Assessment darstellt, steht eine aktuelle Tendenz der Komplexitätssteigerung diametral entgegen: das Interesse an Prozessen nachhaltiger Entwicklung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nachhaltige Entwicklung mehr als nur den Umweltaspekt umfasst, auf den das Life Cycle Assessment von seiner Entstehungsgeschichte her fokussiert. Folgende Forschungsfragen schließen daran an: Sind die Wertschöpfungsketten und Stoffstromsysteme der Sachbilanz ein geeignetes Fundament, auf das soziale und ökonomische Indikatoren aufgesetzt werden können? Wenn nein, wie stark muss das Gerüst des Life Cycle Assessment dazu verändert werden? Ist LCA tatsächlich das richtige Instrument für eine Nachhaltigkeitsbewertung, oder sollte dieses Instrument ganz bewusst auf Umwelteffekte beschränkt werden? Wie könnte in diesem Fall eine Komplementarität zu anderen Instrumenten der Nachhaltigkeitsbewertung erreicht werden?

4 Die Bedürfnisse der Entscheider

Ein weiterer Aspekt treibt die gegenwärtige Diskussion: Um in der Breite in reale Entscheidungen Eingang zu finden, muss die Lebenszyklusanalyse Anschluss finden an Umgebung und Zeitabläufe von Entscheidungsprozessen und an die Bedürfnisse der Entscheider. Sie muss dem Zeithorizont und den Fragestellungen von Innovationsprozessen folgen und beispielsweise schnell Aussagen zu grundlegenden Fragestellungen liefern. Beispiele für solche grundlegenden Fragestellungen sind: Welches Material ist einzusetzen? Welche Energieträger sind zu wählen? Solche Aussagen müssen nicht notwendigerweise detailliert, aber „richtungssicher“ sein – eine Forderung, die die Ansprüche an die Methodik nicht etwa herabsetzt, sondern erhöht. Dazu kommt das Problem der Kommunikation der Ergebnisse, das nicht nur die Industrie betrifft, sondern auch für Entscheidungsprozesse des Alltags wichtig ist. Zu letzteren gehören u. a. die Entscheidungen von Konsumenten für Produkte, für die Wahl des Verkehrsmittels, für die Planung des Eigenheims. Ist dieser Übersetzungsprozess überhaupt zu leisten, ohne den Kontext der wissenschaftlichen Erkenntnis zu verlieren und in die Gefahr einer Fehlinterpretation von Aussagen zu laufen?

Vor diesem Hintergrund spannen die Beiträge des TATuP-Schwerpunkts einen Bogen von methodischen zu anwendungsbezogenen Fragestellungen des Life Cycle Assessments.

Dabei wird in den einzelnen Beiträgen deutlich, dass die Methodik des LCA sich bis heute zu einem breit gefächerten Instrumentarium entwickelt hat, das von einem großen Anwenderkreis genutzt wird. Auf der anderen Seite zeigen die Beiträge aber auch, dass noch viele Fragen offen sind. Dies betrifft u. a. die Vollständigkeit, geografische Differenzierung und Aktualität der zugrunde liegenden Datenbasis für die Sach- sowie für die Wirkungsbilanz, aber auch die Beurteilung der Auswirkungen von Unsicherheiten und Fehlern in der Datenbasis und in den eingesetzten Modellen auf die Richtungssicherheit von Empfehlungen und Entscheidungen sowie die Berücksichtigung von Veränderungen im betrachteten System, die durch eine bestimmte Entscheidung (beispielsweise für eine neue Technologie oder ein neues Produkt) möglicherweise in Zukunft eintreten werden.

5     Zu den Beiträgen des Schwerpunkts

Im ersten Beitrag beleuchten Bauer, Schebek und Schmidt die Entstehung von Entscheidungswissen innerhalb des LCA. Sie gehen von der generellen Feststellung aus, dass der Weg von Daten zu Wissen über Kontextualisierung und Bewertung erfolgt. Im Fokus steht die Qualität der Datengrundlage, die Bauer et al. dadurch definieren, dass eine richtige Kontextualisierung von Daten gewährleistet ist. Was „richtig“ und was „falsch“ ist, misst sich maßgeblich an der praktischen Fragestellung und muss damit durch den Anwender der Ergebnisse eines LCA beurteilt werden. In der Realität fällt die Kontextualisierung von Daten aber auseinander: In Datenbanken werden Datensätze mit „vorgefertigtem“ Kontext angeboten, die von unterschiedlichsten Anwendern genutzt werden. Damit stellt sich als elementare Anforderung für die Datenqualität, Kontextinformationen durchgängig vom ursprünglichen Bereitsteller eines Datensatzes bis hin zum „letzten Nutzer“ zu transportieren. Dies setzt sowohl Organisationsstrukturen als auch die Einbindung all dieser Akteure voraus. Diesbezüglich existieren eine Reihe aktueller Initiativen, die der Beitrag vorstellt.

Wie kann das Life Cycle Assessment Wissen über Veränderungen in der Zukunft bereitstellen? Bauer und Poganietz gehen von der Feststellung aus, dass Lebenszyklusanalysen in der Praxis gegenwärtig weitgehend „atemporal“ verstanden werden. Beim so genannten „attributional“ LCA, dessen Ziel die (retrospektive) Identifizierung des Beitrags eines Produktsystems zu Umweltauswirkungen ist, werden diese Wirkungen einfach anteilig dem bilanzierten Produkt zugewiesen; sollen dagegen zukünftige Entwicklungen abgebildet werden, so werden diese im Allgemeinen durch Veränderung des Technologiemixes statisch dargestellt. Die durch ein Produkt im Wirtschaftssystem induzierten Veränderungen werden damit nicht erfasst. Hierfür wird in der Literatur das „consequentional“ LCA vorgeschlagen, allerdings ohne dass bislang eine systematische Vorgehensweise sichtbar wird. Bauer und Poganietz analysieren Markteffekte auf unterschiedlichen Ebenen und diskutieren Modellansätze, um diese innerhalb des LCA abzubilden. Vorgeschlagen werden volkswirtschaftliche Input–Output–Modelle und (partielle und globale) Marktmodelle.

Nicht nur die Einbindung zeitlicher Effekte, sondern auch die Berücksichtigung von geographischen Effekten stellt eine methodische Erweiterung des gegenwärtigen LCA dar, wie Sedlbauer et al. zeigen: Üblicherweise basiert das LCA auf räumlich nicht differenzierten Daten. Dies ist nach Auffassung der Autoren durchaus adäquat für die Beurteilung globaler Umweltwirkungen wie dem Treibhauseffekt, nicht jedoch hinsichtlich regional geprägter Wirkungen wie der Eutrophierung von Gewässern oder der Verteilung toxischer Substanzen in der Umwelt. Bestrebungen nach einer räumlichen Differenzierung des LCA existieren derzeit auf mehreren Ebenen, wie die Autoren an aktuellen Beispielen zeigen. Unterschiedliche Ansätze zur Bereitstellung regionalisierter Informationen werden diskutiert, wobei sich als Kern die Anforderung eines durchgängigen Vorgehens von der Sachbilanz zur Wirkungsabschätzung herauskristallisiert.

Huppes stellt das Life Cycle Assessment in den Kontext der Ökoeffizienz und bringt damit die ökonomische und soziale Dimension der Nachhaltigkeit ins Spiel. Ausgangspunkt ist für ihn die Erkenntnis, dass durch das ökonomische Wachstum punktuell erreichte Umweltverbesserungen „neutralisiert“ und neue Umweltprobleme in globalem Maßstab generiert werden. Strategien einer nachhaltigen Entwicklung, die Huppes als absolute Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch interpretiert, laufen fehl, wenn Analyseinstrumente diesen Zusammenhang nicht erkennen. Hier sieht Huppes einen wesentlichen Kritikpunkt an dem LCA als Instrument der „Mikro–Analyse“: Im direkten Vergleich von Technologie–Varianten erscheint beispielsweise der Einsatz von Biomasse anstelle von fossilen Brennstoffen als Fortschritt, wenn großräumige wirtschaftliche Folgen wie Abholzungen nicht erkannt werden. Als einen unterstützenden Modellierungsansatz schlägt Huppes die Erweiterung des LCA um eine sozioökonomische Systemanalyse vor. Seine Vision ist die einer transdisziplinären Forschung, in der Technologie–Entwicklung verbunden wird mit der Konzeption sozialer Mechanismen.

Auch Klöpffer und Renner greifen das Thema einer umfassenden Nachhaltigkeitsbewertung auf. Sie geben einen ausführlichenÜberblick über den Stand der Diskussion zu Methoden des „Life Cycle Costing“ (Lebenszykluskostenrechnung <LCC>) und der Bewertung von sozialen Aspekten. Für das LCC gibt es bereits international diskutierte und weitgehend vereinheitlichte Konzepte. Diese stehen dem „ökologischen“ LCA methodisch insofern sehr nahe, als funktionelle Einheit, Systemrahmen und Prozessketten übereinstimmen. Interessant ist, dass eine Monetarisierung externer Kosten durch Umweltschäden nicht in Betracht gezogen wird, um „Doppelzählungen“ durch die ökologische Wirkungsabschätzung zu vermeiden. Im Gegensatz dazu gibt es noch eine große Breite in der Diskussion bezüglich einer Sozialbewertung – sowohl hinsichtlich möglicher Indikatoren als auch bezüglich der Zuordnung zu einer funktionellen Einheit. Hier wie auch im abschließenden Teil des Beitrags – den die Autoren mit der Frage „Ein Life Cycle Assessment oder drei?“ überschreiben – wird deutlich, dass man sich gerade mit einer Sozialbewertung durchaus weit weg vom methodischen Gerüst des „ökologischen“ Life Cycle Assessments begeben kann.

Mit dem Beitrag von Klingele und Lützkendorf zu Informationsmanagement und Stakeholderdialog im Bauwesen wird das erste von drei in diesem TATuP-Schwerpunkt vertretenen Anwendungsfeldern des LCA vorgestellt. Der Bausektor ist bekanntermaßen wegen des großen Anteils am Energie- und Ressourcenverbrauch besonders relevant für eine Nachhaltige Entwicklung. Sein Charakteristikum ist andererseits seine sehr heterogene und arbeitsteilige Organisation, aus dem sich die Notwendigkeit eines Informationsmanagements zwischen zahlreichen Akteuren ableitet. Während vor einigen Jahren im Bausektor nur ein sehr geringes Interesse an der Anwendung von LCA zu erkennen war, so ändert sich dies derzeit vor dem Hintergrund der aktuellen umweltpolischen Diskussion zum Klimawandel und der Ressourcenverknappung sehr stark. Sowohl Planer als auch Investoren und Banken richten ihr Augenmerk auf den Lebenszyklus eines Gebäudes und auf entsprechende Bewertungsinstrumente. Klingele und Lützkendorf stellen in diesem Kontext die wichtigen aktuellen Entwicklungen in Deutschland vor. Hierbei wird deutlich, dass über spezifische methodische Aspekte hinaus der Stakeholder-Dialog ein entscheidendes Element eines Informationsmanagements ist. Für Deutschland sehen die Autoren ein sich derzeit herausbildendes System, das die „Integration des LCA in Entscheidungen relevanter Akteure vorbereitet und unterstützt“ (Klingele, Lützkendorf in diesem Heft).

Im Beitrag „Energiesysteme im Klimawandel“ fragt Krewitt durchaus kritisch, welchen Nutzen hier das Life Cycle Assessment bringen kann. Sind doch wesentliche Probleme im Energiesektor entweder auch ohne LCA offensichtlich (z. B. der Einsatz fossiler Energieträger) oder durch LCA nicht zu lösen (z. B. die gesellschaftliche Akzeptanz spezifischer Energietechnologien wie der Kernenergie). Unbeschadet davon hält Krewitt das Life Cycle Assessment für ein zentrales Instrument einer wissenschaftlich basierten Politikberatung und zeigt dies am Beispiel der energetischen Nutzung von Biomasse auf. Hier ist es nur auf Basis des systematischen Ansatzes des LCA möglich, in einer fast unüberschaubaren Vielzahl technologischer Varianten, bei denen es im Einzelfall sogar zu einer Erhöhung der Treibhausgasemissionen im Lebenszyklus kommen kann, eine wissenschaftlich basierte Bewertung zu treffen. Angesichts der langfristigen Auswirkungen strategischer Entscheidungen bestehe im Energiesektor ganz besonders die Notwendigkeit prospektiver Modellierungen. Krewitt führt aus, dass ohne Berücksichtigung der zeitlichen Dynamik zukünftiger Entwicklungen die Gefahr besteht, dass „LCA-Ergebnisse bei der Bewertung zukünftiger Langfriststrategien kontraproduktiv wirken, da die Möglichkeiten innovativer Entwicklungen systematisch nicht abgebildet werden“ (Krewitt in diesem Heft). Als Beispiel für ein methodisches Vorgehen, das entsprechende zeitliche Dynamiken erfasst, wird ein aktuelles EU-Projekt vorgestellt.

Jungbluth stellt die Frage, ob eine Bilanzierung von Lebensmitteln auf Basis eines LCA eine Orientierung für Verbraucher darstellen kann. Er unterscheidet drei Ebenen, auf denen in der Kette der Produktion von Nahrungsmitteln für unterschiedliche Akteure Handlungsmöglichkeiten bestehen: die „Ökologisierung“ der Produktionsabläufe, die umweltbewusste Auswahl einzelner Produkte durch den Verbraucher sowie generelle Strategien eine „Ökologisierung“ der Ernährung, zu der insbesondere ein verringerter Fleischkonsum gerechnet wird. Vorgestellt wird eine schweizerische Studie, in der basierend auf diesen drei Modulen eine vereinfachte Methodik für die Bewertung von Nahrungsmitteln mittels Ökobilanzen entwickelt wurde. Aus dieser Studie werden ausgewählte Ergebnisse auf die Frage bezogen, ob und welche Handlungshinweise für Verbraucher abgeleitet werden können. Die bedeutendsten Änderungen im Konsumverhalten wären hier aus einer verringerten Nachfrage nach frischen Produkten aus Übersee sowie Fleisch– und Milchprodukten zu erwarten. Insgesamt sieht Jungbluth jedoch den Nutzen des LCA weniger bei Konsumenten als bei Akteuren der Nahrungsmittelproduktion und -verarbeitung.

Insgesamt geben die Beiträge des Schwerpunkts einen guten Überblick über die gegenwärtigen, sehr lebendigen Diskussionen in Wissenschaft und Praxis. Deutlich wird, dass trotz Normierung auf dem Gebiet der Lebenszyklusanalyse noch erheblicher Forschungsbedarf besteht – auch in Kernbereichen wie Datenqualität, Fehlerrechnung sowie der Modellierung zukünftiger Entwicklungen. Dabei geht der Trend, gestützt auf die heutigen Möglichkeiten der Informationstechnik, hin zu einer laufenden Erweiterung der Datenbasis und der Integration neuer (z. B. geographischer) Informationen. Wie „realistisch“ das Life Cycle Assessment damit werden wird, ist derzeit noch völlig offen.

Die Ergänzung des Life Cycle Assessment zur Nachhaltigkeitsbewertung wird von verschiedenen Seiten angegangen und hat bereits greifbare Ergebnisse in Form neuer methodischer Bausteine erbracht. Diese stellen allerdings häufig keine marginale Änderung des existierenden LCA dar, wie der Ausdruck „Ergänzung“ suggerieren könnte. Vielmehr geht es im Kern darum, Methoden anderer Disziplinen heranzuziehen (z. B. aus den Wirtschaftswissenschaften), und dadurch Erkenntnisse zu generieren, die außerhalb des Gesichtsfeldes des „klassischen“ LCA liegen. Dies bedeutet die Einbeziehung neuer Expertise (und neuer Experten!) und die Entwicklung von Schnittstellen zwischen unterschiedlichen, jeweils eigenständigen Modellierungsansätzen.

Die Zusammenschau der drei Beiträge zu Anwendungsfeldern zeigt eine ungebrochene, durch Sensibilisierung neuer Gruppen von Akteuren noch steigende Nachfrage nach Life Cycle Assessment. Diese führt zu sektorspezifischen methodischen Entwicklungen, die auch moderne Informationstechnologien einbeziehen, darüber hinaus aber als neues Element auch „Stakeholder“ ins Informationsmanagement integrieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Life Cycle Assessment heute sehr viel weniger als früher als allein stehender Monolith erscheint, sondern mehr und intensiver mit anderen Methoden und neuen Anspruchsgruppen kommuniziert. Diese Entwicklung ist mit Sicherheit positiv zu sehen, wird so doch eine holistische Sichtweise gefördert und das LCA näher an die Praxis herangetragen.

Für das Gelingen dieses Schwerpunkts danken wir allen Autorinnen und Autoren sowie Dr. Christan Bauer, der am Konzept sowie am Review der Beiträge mitwirkte.

Anmerkungen

[1]  Die erwähnte Studie von Coca-Cola wurde nie veröffentlicht, ist jedoch in zahlreichen Publikationen als erstes Beispiel einer Lebenszyklusanalyse zitiert (siehe z. B. Baumann, Tillmann 2004).

[2]  In den Beiträgen dieses Schwerpunktes wird LCA durchgängig als Abkürzung für Life Cycle Assessment verwendet (Anm. d. Autoren).

Literatur

Baumann, H.; Tillman, A.-M., 2004: The Hitch Hiker’s Guide to LCA. Studentliteratur AB. Lund

BUS – Bundesamt für Umweltschutz, 1984: Ökobilanzen von Packstoffen. Schriftenreihe Umweltschutz Nr. 24/84

Guinée, J.; Huppes, G., 1989: Integral analysis of the environmental effects of household packaging. In: Thomé-Kozmiensky, K.J. (ed.): Recycling International. Vol. I. Berlin

ISO 14040: Environmental management – Life cycle assessment – Principles and framework

ISO 14044: Environmental management – Life cycle assessment – Requirements and guidelines

UBA – Umweltbundesamt, 1995: Ökobilanz für Getränkeverpackungen. UBA Texte 52/95

Kontakt

Prof. Dr. Liselotte Schebek
ITC-ZTS im Forschungszentrum Karlsruhe
E-Mail: Liselotte SchebekAmh3∂itc-zts fzk de

Dipl.-Phys. Klaus-Rainer Bräutigam
ITAS im Forschungszentrum Karlsruhe
E-Mail: klaus-rainer braeutigam∂kit edu