Prospektive Lebenszyklusanalyse oder die Zukunft in der Ökobilanz

Schwerpunkt: Lebenszyklusanalysen in der Nachhaltigkeitsbewertung

Prospektive Lebenszyklusanalyse oder die Zukunft in der Ökobilanz

von Christian Bauer und Witold-Roger Poganietz, ITC-ZTS

Die lebenswegbezogene Berücksichtigung von Umweltwirkungen in Entscheidungskontexten ist Sinn und Zweck der Lebenszyklusanalyse. Damit kann sie zur Bewertung von Verfahren und Produkten hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit prinzipiell beitragen, verbleibt aber in einem technisch-naturwissenschaftlichen Raum. Die Berücksichtigung von Veränderungen, die durch eine Entscheidung möglicherweise in der Zukunft eintreten werden, erfordert gänzlich neue Informationen – z. B. hinsichtlich der Funktionsweise von (zukünftigen) Märkten. Diese stehen allerdings nicht im gewünschten Maße zur Verfügung. Die grundsätzlich stärkere Beachtung von nicht-technischen „Transmissionsmechanismen“ und Randbedingungen erweitert den Bewertungshorizont einer Lebenszyklusanalyse hin zur Nachhaltigkeitsbewertung, erfüllt aber noch nicht die Ansprüche an ein integriertes Bewertungsinstrument.

1     Einleitung

Die Lebenszyklusanalyse zielt auf eine umfassende Bewertung möglicher Umweltwirkungen von Produkten über den gesamten Lebensweg.[1] Sie ist damit idealerweise Bestandteil eines Vorgehens, um Entscheidungen zwischen alternativen Produkten zu treffen und mögliche umweltrelevante Konsequenzen menschlichen Handelns in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Konkret werden nicht Produkte untersucht, sondern die Aufwendungen, die zur Erfüllung der Produktfunktion erforderlich sind. Auf diese Weise lassen sich auch gänzlich unterschiedliche Systeme in einem vergleichenden Kontext abbilden. Grundsätzlich kann die Lebenszyklusanalyse damit zur Bewertung von Produkten hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit beitragen; als „solitäres Instrument“ ist sie aber aufgrund ihrer Fokussierung auf einen technischnaturwissenschaftlichen Raum nicht geeignet.

Die Erstellung einer Lebenszyklusanalyse in Form einer „Ökobilanz“ greift auf die Normenserie ISO 14040 ff. zurück. Als treffendere Bezeichnung gegenüber dem Terminus Produkt-Ökobilanz wird im Folgenden der umfänglichere englische Fachbegriff „Life Cycle Assessment“ (LCA) verwendet. Die Anwendung der Methodik des LCA beruht auf der Bildung eines Prozesskettenmodells entlang der Wertschöpfungskette, welches hinreichend detailliert ein Produktsystem abbildet. Im Ergebnis erhält man die in das und aus dem Produktsystem fließenden Stoffe (z. B. Primärenergieträger als Inputs, Emissionen in die Luft als Outputs) bezogen auf die relevante funktionelle Einheit. Letztere ist die strukturierende Einheit der LCA-Methode, indem sie den Nutzen des Produktes ausdrückt, den sämtliche zur Entscheidung stehenden Alternativen erfüllen.

Durch ein solches Vorgehen erhält man Bilanzen, die einem Produkt diejenigen Wechselwirkungen mit der Umwelt zuordnen, die aus der eingesetzten Technik und den betrachteten Marktbeziehungen resultieren. Dabei wird der Umstand, dass die Einführung eines neuen Produktes die Marktbeziehungen verändern kann, genauso wenig berücksichtigt wie die Möglichkeit, dass – über die geänderten Marktbeziehungen hinaus – die Markteinführung auch Änderungen im Technologie- und Energiemix einer Volkswirtschaft nach sich ziehen kann. Beide Effekte ziehen weitere potenzielle Umweltwirkungen nach sich. Diese Einschränkungen verhindern einen breiteren Einsatz dieser Methode insbesondere dort, wo resultierende Veränderungen ergebnisrelevant werden und das Bewertungsergebnis beeinflussen.

Im Folgenden soll zunächst die Berücksichtigung von zukünftigen Veränderungen in der Methodik des LCA charakterisiert werden (Kap. 2). Darauf aufbauend wird gezeigt, wie das erforderliche Wissen über die möglichen Effekte einer Veränderung ermittelt werden kann (Kap. 3) und wie diese im Kontext von LCA erfasst werden könnten (Kap. 4). Damit wird die Frage verfolgt, inwieweit eine stärkere Berücksichtigung von ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Randbedingungen mit einer im Sinne der Nachhaltigkeit verbesserten Bewertung einhergeht (Kap. 5).

2     Das Zukunftsbild in der Produktökobilanz

Zunächst ist natürlich die zukünftige Entwicklung des Umweltzustands bzw. das Vorsorgeprinzip die Grundmotivation für die Durchführung einer Lebenszyklusanalyse. Die Methodik wurde dazu entworfen und entwickelt, um den vorsorgenden Umweltschutz in Entscheidungen zwischen Produkten oder auch Produktvarianten zu verankern und mögliche Wirkungen auf die Umwelt zu minimieren. Insbesondere wird dabei die konsistente Berücksichtigung von global vernetzten Wertschöpfungsketten zugrunde gelegt. Um diese komplexe Aufgabe zu erfüllen, sind Vereinfachungen notwendig und gebräuchlich, um den praktischen Einsatz des Instruments sicherzustellen. Das Wissen um diese Wechselwirkungen zwischen Produktalternativen und möglichen Umwelteffekten entstammt der wissenschaftlichen Untersuchung von Wirkungspfaden; Beispiele für diese Wirkungspfade sind die Emissionen versauernd wirkender Substanzen, die zum Waldsterben beitragen, oder die Emissionen von Stickstoffverbindungen, die zur Eutrophierung von Seen führen.

Sofern keine linearen Wirkungs-Effektmodelle wissenschaftlich begründbar sind, können beispielsweise auch langfristige Wirkungen von Substanzen von kurzfristigen durch die Einführung unterschiedlicher Zeitdimensionen abgeschätzt werden. So wird der Beitrag zur globalen Erwärmung und damit zum Treibhauseffekt einmal bezogen auf die nächsten 100 Jahre und einmal bezogen auf die nächsten 500 Jahre berechnet, um auch die unterschiedlichen Verweildauern und Persistenzen von emittierten Stoffen zu berücksichtigen.

Der Umgang mit der Zukunft findet also eher in der Charakterisierung der Wirkungen, als in der Modellierung der Elementarflüsse statt. Diese anteilige Zuordnung der Flüsse und ihrer Wirkungen zu einem Produkt bzw. seiner funktionellen Einheit wird als „attributional LCA“ bezeichnet.[2]

Die dabei mögliche Ausdehnung des Betrachtungshorizonts innerhalb der Modellbildung des LCA auf die weiterreichenden Konsequenzen erscheint insbesondere bei der Markteinführung neuer Produkte oder Technologien opportun.

Die erfolgreiche Markteinführung von Produkten kann aber auch zu einer Verdrängung etablierter Produkte auf demselben Markt und / oder auf vorgelagerten Märkten führen. Auch eine Änderung des Technologiemixes mit der Implementierung neuer Technologien ist möglich. Die sich daraus ergebenden umweltrelevanten Konsequenzen werden im traditionell engen Rahmen eines attributiven LCA nicht modelliert. Während im ersten Fall die Erweiterung des Systems um weitere Märkte eine Lösungsmöglichkeit darstellt, muss im zweiten Fall die Frage nach den relevanten abzubildenden Technologien gestellt werden (s. Kap. 4).

In der wissenschaftlichen Literatur wurde daher das Konzept des „consequential LCA“ eingeführt[3], das konkrete Wirkungen von Produkten durch die Änderung zukünftiger Marktprozesse erfasst (Curran et al. 2002; Ekvall 2002; Ekvall et al. 2004; Ekvall, Tillman, Molander 2005; Ekvall, Weidema 2004). Consequential LCA zielt auf die Beschreibung genau der physischen Flüsse von und zur Technosphäre, die sich verändern, wenn es zu Änderungen innerhalb eines Produktlebenszyklus kommt (Ekvall, Andrae 2005).

Die attributive und die consequential LCA berücksichtigen die Charakterisierungseigenschaft „Zeit“ aber nur implizit. Tatsächlich können beide Formen von LCA sowohl „prospektiv“, also in die Zukunft gerichtet und „retrospektiv“ im Sinne von in die Vergangenheit gerichtet sein (Warsen et al. 2007). Kombiniert man die vier Charakterisierungsgrößen (attributiv, consequential, prospektiv und retrospektiv), erhält man vier mögliche Ausprägungen des LCA (Tab. 1).

Tab. 1:   Attributive vs. „consequential“ und prospektive vs. retrospektive Eigenschaften einer Lebenszyklusanalyse

  Attributiv Consequential
Retrospektiv Beschreibung umweltrelevanter physischer Flüsse zum und vom betrachteten Lebenszyklus und seinen Subsystemen bei vergangenen Aktionen Kausale Erklärung der Konsequenzen von vergangenen Handlungen, wie umweltrelevante Flüsse zur und von der Technosphäre sich verändern werden, aufgrund von Änderungen innerhalb des Lebenszyklus
  (Wem können wir die Schuld zuschieben, dass die Dinge so sind, wie sie sind?) (Was hätte passieren können, wenn wir dies gemacht oder unterlassen hätten?)
Prospektiv Beschreibung umweltrelevanter physischer Flüsse zum und vom betrachteten Lebenszyklus und seinen Subsystemen bei in Zukunft stattfindenden Aktionen Kausale Erklärung der Konsequenzen von vergangenen Handlungen, wie umweltrelevante Flüsse zur und von der Technosphäre sich verändern werden, aufgrund von zukünftig möglicherweise stattfindenden Änderungen innerhalb des Lebenszyklus
  (Wem können wir die Schuld zuschieben für die Dinge, die zukünftig passieren?) (Was wird passieren, wenn wir dies machen oder unterlassen?)

Quelle: Eigene Darstellung

Folgt man dem Schema der Tabelle 1, so kann ein prospektives LCA grundsätzlich „attributiv“ oder „consequential“ sein. Damit stellt sich die Frage nach dem situativen Kontext, in dem das LCA zur Entscheidungsunterstützung beitragen soll.

Tatsächlich lassen sich in Anlehnung an Sandén et al.[4] grundsätzlich vier Ebenen von möglichen Wirkungen von neuen Produkten als Folge von Handlungen klassifizieren:

  1. Erstrundeneffekte beschreiben die proportionale deterministische Beziehung zwischen der Ursache (z. B. der Nutzung des Produkts) und den induzierten Stoffströmen, die wiederum Umwelteffekte generieren („cause-effects chains“). In dem LCA wird diese Perspektive in der Wirkungsabschätzung und der Modellierung von Umweltschäden verfolgt.
  2. Zweitrundeneffekte: Die Einführung eines Gutes auf dem Markt kann (wird i. a.) zu Substitutionseffekten führen, die sich auf die Inputseite eines Produktionsprozesses auswirken können. Das heißt, die Nachfrage nach einem Gut kann aufgrund bestehender Budget- und Kapazitätsrestriktionen zu einer Veränderung existierender Stoffströme führen oder neue generieren und hierdurch die Proportionalität der „cause-effects chains“ auflösen.
  3. Struktureffekte: Zweitrundeneffekte ergeben sich im Allgemeinen aus dem Spannungsfeld von Technik, Umwelt und Ökonomie, lassen aber mögliche Effekte auf die physikalischen Strukturen bzw. Sachkapitalstrukturen von Volkswirtschaften weitgehend unberücksichtigt. Die durch ein neues Produkt induzierten Investitionen können auf vor- und nachgelagerten Sektoren zum Einsatz neuer Technologien führen. Die Folge kann eine weitere Änderung der Struktur der Stoffströme oder die Generierung neuer Stoffflüsse sein.
  4. Diffusionseffekte: Zweitrunden- und Struktureffekte unterstellen immer auch einen gegebenen gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Rahmen mit eingeführten Verhaltensmustern bei den Abnehmern und Konsumenten. Da Investitionen und Innovationen wiederum Auswirkungen auf das Verhalten von Individuen haben und dies wiederum die Bereitschaft steuert, zu investieren oder innovativ tätig zu werden, bewirken Innovationen und Investitionen (wie z. B. moderne I&K-Technologien) Verhaltens- und Strukturveränderungen, die selbst wiederum die Stoffströme beeinflussen und hier folglich als Diffusionseffekte eingestuft werden.

So gesehen nimmt die enge und singuläre Verknüpfung einer Ursache mit entsprechenden Wirkungen von Ebene zu Ebene ab. Diese Strukturierung lehrt im Hinblick auf die Lebenszyklusanalyse, dass die Sachbilanz oder auch das physikalische Gerüst der Wechselwirkung eines Lebenswegs zunehmend an Relevanz verliert, wenn durch den Analysegegenstand gravierende Veränderungen des Systems zu erwarten sind.

Aus gesellschaftlicher Sicht ist die Kenntnis aller Effekte aufgrund neuer Produkte wünschenswert, tatsächlich muss man die Unmöglichkeit, alle Wirkungen adäquat erfassen zu können, akzeptieren (Ekvall, Tillman, Molander 2005). Daraus folgt aber die Notwendigkeit, Regeln zur Festlegung der Grenzen des abzubildenden Systems zu entwickeln. In der Fachliteratur werden verschiedene Vorgehensweisen diskutiert (Suh, Huppes 2005), die im Einzelfall auf ihre Eignung in diesem Kontext zu prüfen sind.

In einem Diskussionsbeitrag zum Netzwerk Lebenszyklusdaten schlägt Frischknecht (2006) eine akteursbezogene Definition des consequential LCA vor: die „decisional LCA“.[5] Hierdurch ergibt sich eine „natürliche“ Systemgrenze. Bei der Bestimmung der Systemgrenze verbleibt Frischknecht auf der mikroökonomischen Ebene von Beziehungen zwischen Wirtschaftssubjekten und verzichtet auf die Verbindung zur makroökonomischen Ebene, die sich implizit bei Berücksichtigung aller Wirkungen ergeben müsste. Der Umfang des zu modellierenden Systems wird allein durch bestehende finanzielle und vertragliche Beziehungen zwischen den Wirtschaftssubjekten bestimmt (Frischknecht 1998). Frischknecht verbleibt damit prinzipiell auf der zweiten Effektebene und zieht darüber hinaus die Systemgrenzen recht eng.

Der Ansatz von Frischknecht löst das potenzielle Dilemma, vor dem ein Entscheidungsträger bei der Interpretation der Ergebnisse eines consequential LCA steht, auf, indem auch Wirkungen erfasst werden, die jenseits seines Einflussbereichs liegen. Andererseits bleiben Effekte außen vor, die möglicherweise erst zukünftig relevant werden, z. B. aufgrund geänderter rechtlicher Randbedingungen oder durch eine geänderte gesellschaftliche Wahrnehmung von Produkten.

Akzeptiert man, dass in die Bewertung eines Produktes auch mögliche Effekte auf das Produktsystem berücksichtigt werden sollten, vermindert sich die Stringenz zwischen Ursache und Umwelteffekt. Je geringer die Stringenz jedoch ist, d. h. je höher man sich auf den Effektebenen befindet, desto diffuser wird das Bild über die Zukunft und damit die Möglichkeit, diese zu analysieren. Eine weit verbreitete Methode, Wissen über Zukunftsbilder zu generieren, ist der Szenarioansatz (s. Kap. 3). Die Analyse von Zukunftsbildern bzw. die Wirkungen von Produkten in unterschiedlichen Zukunftsbildern erfordert eine systemische und systematische Erfassung von Interdependenzen zwischen Produkten, aber auch zwischen den Wirtschaftssubjekten als Agierende und Reagierende. Eine Möglichkeit, diese zu erfassen, bilden Modelle (s. Kap. 4).

3     Das Wissen um die „Zukünfte“: Szenarien im LCA

Grundsätzlich existiert eine Vielzahl von Methoden zur Erstellung von Zukunftsbildern (Gausemeier et al. 1996; Ducot, Lubben 1980). Die Nutzung der Szenarientechnik ist dann zweckdienlich, wenn eine Zuordnung von objektiven Eintrittswahrscheinlichkeiten zu möglichen Zuständen der Zukunft als nicht möglich oder gar als nicht sinnvoll erachtet wird. Damit wird implizit eine Multiplizität der Zukunft angenommen und somit eine Vielzahl von Ausprägungen der Zukunft.

Ein Szenario (in dem LCA) ist damit, nach dem Verständnis der SETAC-Europe LCA Working Group „Scenario Development in LCA“, „eine Beschreibung einer möglichen zukünftigen Situation, die relevant für eine spezifische LCA-Anwendung ist, basierend auf spezifischen Annahmen über die Zukunft, und – wenn relevant – die Entwicklung von der Gegenwart zur Zukunft beinhaltet“ (Pesonen et al.2000, S. 23; Übersetzung durch die Autoren). Ein Szenario beschreibt somit ein mögliches Bild über eine Situation in der Zukunft, das der Komplexität heutiger Systeme Rechnung trägt, diese aber auch auf die wesentlichen Elemente reduziert (Gausemeier et al. 1996).

Die Komplexität von Szenarien nimmt mit der zu betrachtenden Effektebene und mit der Ferne der Zukunft zur Gegenwart zu. Damit erhöhen sich auch die Anforderungen an die Datengrundlage eines LCA, die sich in der Sachbilanz (englisch „Life Cycle Inventory“ <LCI>) manifestiert.[6] In einer Sachbilanz wer-den im Allgemeinen nur die Material- und Energieverbräuche relativ zur funktionalen Einheit als Bezugspunkt eines LCA modelliert. Nicht-technische oder nicht-naturwissenschaftliche Beziehungen zwischen Stoffströmen bleiben als gegeben außen vor. Da die Konsequenzen von Handlungen, die der zweiten bis vierten Effektebene zugeordnet werden können, überwiegend über ökonomische oder soziale „Transmissionsmechanismen“ auf das gesamte System wirken, ist eine Beschränkung ingenieur- und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht möglich. Zusätzlich müsste der Einfluss politischer Maßnahmen auf die Transmission von Wirkungen beachtet werden.

Ein Problem bleibt dabei insgesamt jedoch ungelöst: Die Ferne der Zukunft zur Gegenwart kann die Anzahl der zu berücksichtigen Einflussgrößen nennenswert verändern, da die Variabilität von Randbedingungen mit der zeitlichen Entfernung relativ zum Heute tendenziell zunimmt.

4     Das Wissen um „Transmissionsmechanismen“ und die Wahl eines geeigneten Modells

Während Szenarien dazu dienen, Zukunftsbilder zu entwickeln, stellen Modelle eine Möglichkeit dar, die Beziehung zwischen Ursache und Wirkungen zu erfassen und zu analysieren. Die Nutzung von Modellen zur systemischen Darstellung von Wirkungszusammenhängen ist in der LCA-Methodik üblich. Die Modelle unterstellen in der Regel aber eine Proportionalität zwischen Ursache und Wirkung. Komplexere Wirkungen, wie sie auf den höheren Effektebenen beschrieben werden, implizieren eine Lockerung der Proportionalität und erfordern anders strukturierte Modelle. Die Transmission von Zweitrunden- und Struktureffekten erfolgt im Allgemeinen über Marktprozesse, während bei Diffusionsprozessen häufig nichtmarktmäßige Transmissionsmechanismen eine wichtige Rolle spielen.

Während in den Diskussionen innerhalb der LCA-Community die Bedeutung aller Effektebenen akzeptiert wird (Sandén et al. 2007; Huppes 2007), dominieren bisher in den wenigen Anwendungen Modelle, die an sich nur Zweitrunden-Effekte adäquat erfassen können (Curran et al. 2002; Ekvall 2002; Ekvall et al. 2004; Ekvall, Tillman, Molander 2005; Ekvall, Weidema 2004; Ekvall, Andrae 2005). Dies sind:

Typisch für diese Modelle sind die Annahme einer gegebenen Sachkapitalstruktur sowie die gegebenen gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Hierdurch können in den Modellen die ökonomischen Transmissionsmechanismen abgebildet werden, wobei für Input-Output-Modelle und Marktmodelle unterschiedliche Mechanismen angenommen werden: bei Input-Output-Modellen erfolgt die Anpassung über Mengen, bei Marktmodellen über Preise.

Während in diesen Modellen soziale Transmissionsmechanismen (z. B. Netzwerke) nicht implementiert werden, können wirtschaftspolitische und rechtliche Maßnahmendurch Änderungen des Systemrahmens in die Bewertung von Produkten einfließen.

In der LCA-Diskussion wird vielfach die Frage aufgeworfen, inwieweit die zugrunde gelegte Mittelwertbildung über Technologien (Technologiemix) sowie die anteilige Aggregation unterschiedlicher Produktionswege (Versorgungsmix) die Umweltwirkungen ergebnisrelevant beeinflusst.[7] Wenn ein neues Produkt zu einer Änderung der physischen Struktur von Volkswirtschaften führt, d. h. wenn aufgrund Nachfrageänderungen in den betroffenen Branchen desinvestiert bzw. investiert wird, so ist dies in der Modellierung zu berücksichtigen. Die betroffenen Technologien werden in der Literatur häufig mit dem Begriff der „marginal technologies“ bezeichnet. Solange das zu untersuchende Produkt keine Effekte auf die Struktur des Sachkapitals hat, wird der Begriff der „average technologies“ benutzt (Weidema et al. 1999; Ekvall, Weidema 2004).

Üblicherweise wird ex-ante festgelegt, welche Art von Technologie modelliert werden soll. Tatsächlich hängt es meist von einer Vielzahl von Faktoren ab, wann eine „marginal“ Technologie zum Tragen kommt, so dass eine Ex-ante-Festlegung über die Kapitalstruktur den möglichen Ergebnisraum unzulässigerweise einengt. Modelle, die die Differenzierung zwischen beiden Technologietypen zulassen und den Technologiemix systemimmanent ermitteln, erscheinen hier im Vorteil (Benhabib, Rustichini 1993; siehe auch Poganietz et al. 2003). Ansätze, die die Diffusionseffekte unter Berücksichtigung von Zweit- und / oder Struktureffekten modellieren, sind den Autoren nicht bekannt.

5     Schlussfolgerungen

Als ein in der Umweltbewertung eingeführtes Instrumentarium erfasst ein attributives LCA die umweltrelevanten physischen Flüsse von und zu dem Lebenszyklussystem. Die Berücksichtigung möglicher zukünftiger Effekte bleibt der Interpretationsphase vorbehalten; mögliche Wirkungen auf das gewählte Produktsystem bleiben außen vor. Dies ist problematisch, wenn neue Produkte am Markt eingeführt werden und weitergehende umweltrelevante Wirkungen den Erfolg des Produktes beeinflussen. Daher müssten aus theoretischer Sicht die diskutierten Erweiterungen diese Mängel beheben.

Es zeigt sich jedoch auch, dass gerade durch die Erweiterung des Betrachtungshorizontes die Komplexität des zu analysierenden Systems zunimmt. Die sich hierdurch ergebenden Risiken sind nicht abschätzbar, vermindern aber die Attraktivität des Instrumentariums für die unternehmerische und betriebliche Praxis. Die Erweiterung des Betrachtungsraums führt aber grundsätzlich zu einer Annäherung an das Ideal einer integrierten Nachhaltigkeitsbewertung, da zusätzlich ökonomische, (wirtschafts-)politische sowie gesellschaftliche Randbedingungen explizit oder implizit stärker berücksichtigt werden.

Anmerkungen

[1]  Im Folgenden wird der Begriff „Produkt“ weitgefasst und bezeichnet Produkte im engeren Sinne, aber auch Dienstleistungen sowie Verfahren im Sinne von Techniken.

[2]  Die wissenschaftliche Diskussion zu den Arten des LCA erfolgt nach Kenntnisstand der Autoren derzeit verbreitet in der englischsprachigen Literatur, so dass deutschsprachige Pendants zu den Fachtermini nicht gebräuchlich sind. Eine Übersetzung von „attributional“ könnte „attributiv“ sein, d. h. etwas wird dem zu untersuchen den System zugeordnet. Für diesen Beitrag wird der Begriff „attributiv“ verwendet.

[3]  Auch für den Begriff „consequential“ ist kein deutschsprachiges Gegenstück gebräuchlich. „Consequential“ kann man mit „daraus folgend“ übersetzen und damit wäre ein „consequential LCA“ ein LCA, welches Folgen einer Handlung bilanziert und bewertet.

[4]  Sanden und Karström (2007) schlagen eine dreistufige Pyramide vor, die hier modifiziert wird; siehe in diesem Zusammenhang auch Huppes (2007), der zwischen acht Ebenen unterscheidet. Die Effektebenen 2 bis 4 werden in einem attributiven LCA nicht im Mengengerüst berücksichtigt, könnten aber aus unserer Sicht Teil einer consequential LCA sein.

[5]  Eine adäquate Übersetzung des Begriffs könnte „entscheidungsorientiertes LCA“ sein.

[6]  In der Sachbilanz eines LCA werden die Material- und Energiebedarfe sowie die Emissionen und sonstigen Umweltbelastungen für das betrachtete Produktsystem unbewertet zusammengestellt.

[7]  Unter einem Technologiemix ist hier die Struktur der in einer Volkswirtschaft / Branche / Sektor genutzten Technologien zu verstehen. Insbesondere der Stand der genutzten Technik – überwiegend alte oder überwiegend neue Maschinen mit entsprechenden Energiebedarfen etc. – kann das Emissionsvolumen beeinflussen.

Literatur

Benhabib, J.; Rustichini, A., 1993: A Vintage Capital Model of Investment and Growth: Theory and Evidence. In: Becker, R. et al. (eds.): General Equilibrium, Growth, and Trade II. San Diego

Curran, M.A.; Mann, M.K.; Norris, G., 2002: Report on the International Workshop on Electricity Data for Life Cycle Inventories. In: U.S. Environmental Protection Agency (US-EPA) (ed.): Electricity Data for Life Cycle Inventories. Cincinnati, USA

Ducot, C.; Lubben, G.J., 1980: A Typology for Scenarios. In: Future 12 (1980), S. 51-57

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Weidema, B.; Frees, N.; Nielsen A.-M., 1999: Marginal Production Technologies for Life Cycle Inventories. In: International Journal of Life Cycle Assessment 4/1 (1999), S. 48-56

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