Immer mehr und gleichzeitig weniger! Über die Chancen zur Teilhabe

Schwerpunkt: Zukunftsfähige Verkehrspolitik – Ansätze für den Personenverkehr

Immer mehr und gleichzeitig weniger! Über die Chancen zur Teilhabe

von Christian Holz-Rau, Universität Dortmund

Eine der zentralen Aufgaben der Raum- und Verkehrsplanung ist die Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe vor allem für Menschen, die an den Vorteilen der privaten Motorisierung nicht partizipieren. Gerade diese Personen sind aber häufig besonders von den nachteiligen Auswirkungen des Pkw-Verkehrs betroffen oder auch in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt. Zur Sicherung der Teilhabe für diese Personen sind die wichtigsten Ansatzpunkte der Erhalt und die Förderung kleinteilig gemischter Strukturen, die Verbesserung der Verkehrsbedingungen für Fußgänger und Radfahrer sowie ein entsprechend ausgerichtetes Angebot des öffentlichen Verkehrs. Der zentrale Leitsatz einer so verstandenen Verkehrsplanung und Verkehrspolitik lautet: Erreichbarkeit und Sicherheit sind wichtiger als hohe Geschwindigkeit.

Ursprünglich sollte dieser Beitrag unter dem Titel „Erwünschte Erreichbarkeit und erzwungene Mobilität“ stehen. Der damit verbundene „Dschungel“ unterschiedlicher Begriffe und Bewertungen erschien im Laufe der Bearbeitung jedoch immer undurchdringlicher. Einige eingeführte und sich zum Teil widersprechende Begrifflichkeiten sollen deshalb eingangs kurz vorgestellt werden: Wir leben in einer „mobilen“ Gesellschaft. „Mobilität“ erscheint als Freiheit. Gleichzeitig stellt die Gesellschaft zunehmende „Mobilitätsanforderungen“ an jeden Einzelnen. Auch der Begriff der „erzwungenen Mobilität“ ist in der Planungsdiskussion für lange Wege eingeführt, die vor allem aus siedlungsstrukturellen Veränderungen resultieren. Teilweise wird Mobilität als Beweglichkeit, also die Möglichkeit zur Bewegung, teilweise aber auch als realisierter Verkehr aufgefasst. Dazu werden Kenngrößen wie die „Wegehäufigkeit“, teilweise sogar die zurückgelegten Distanzen herangezogen. Der folgende Beitrag beginnt mit einer kurzen Problematisierung dieser Begriffe und verzichtet letztlich aufgrund der unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs „Mobilität“ auf diesen vollständig (Holz-Rau 1997; Lanzendorf, Scheiner 2004). Vielmehr stehen die Begriffe der „Teilhabe“ und „Chancen zur Teilhabe“ im Vordergrund. [1]

Im Mittelpunkt planerischer Konzepte steht der Alltag der Menschen. Dieser Alltag ist aus Sicht eines Verkehrsplaners durch verschiedene Aktivitäten geprägt, die häufig durch Verkehrsvorgänge, also Wege zu Fuß, mit dem Rad, dem öffentlichen Verkehr oder Auto, verbunden werden. Eine der zentralen Aufgaben der Verkehrsplanung ist es, diese Form gesellschaftlicher Teilhabe zu sichern.

Gesellschaftliche Teilhabe erfordert in dieser Betrachtung:

Dabei ergeben Siedlungsstruktur und Verkehrsangebote die „allgemeinen Erreichbarkeitsverhältnisse“, die verbunden mit der individuellen Beweglichkeit die Chancen des Einzelnen zur gesellschaftlichen Teilhabe aus Verkehrssicht bestimmen.

1     Teilhabe und Verkehr

Vielfältige Aktivitäten prägen unseren Alltag. Sie ergeben sich aus Vorlieben, Wünschen und Möglichkeiten, aber auch aus Zwängen und Notwendigkeiten. Über manche Aktivitäten, wie den abendlichen Spaziergang, entscheiden wir flexibel - andere, wie die Arbeit, sind verpflichtend. In der Regel sind alle diese Aktivitäten an spezielle Orte gebunden: z. B. an die eigene Wohnung, den Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, aber auch an Geschäfte oder Erholungsräume. Über manche Orte, wie den des nächsten Einkaufs oder nächsten Spazierganges, können wir in gewissem Umfang kurzfristig entscheiden. Andere Orte, wie die Wohnung oder der Arbeitsplatz, sind für uns zumindest mittelfristig festgelegt, auch wenn wir über diese immer wieder neu entscheiden (könnten).

Die Abfolge von Aktivitäten an unterschiedlichen Orten wiederum ist die „Ursache“ von Verkehr. Manche Abfolgen lassen sich im Rahmen der „Erreichbarkeitsverhältnisse“ und der individuellen Beweglichkeit realisieren, die meisten allerdings nicht. So kann man in Dortmund nur dann Tag für Tag arbeiten und nach der Arbeit nach Hause kommen, wenn sich die Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsplatz innerhalb eines akzeptierten Zeit- und Kostenrahmens überwinden lässt. Damit scheiden für die meisten Beschäftigten in Dortmund nicht nur der größte Teil der Welt, sondern bereits weite Teile Nordrhein-Westfalens als potenzielle Wohnorte aus. Wenn umgekehrt der Wohnort wichtiger als der Arbeitsplatz ist, beschränken sich die potenziellen Arbeitsorte auf ein erreichbares Umfeld, das vom jeweiligen Wohnort innerhalb des jeweils akzeptierten Zeit- und Kostenrahmens erreicht werden kann. Die meisten Arbeitsplätze weltweit kommen also nicht infrage, sind im Rahmen des täglichen Pendelns nicht erreichbar.

Die in der Regel häufig mittel- bis langfristig stabilen Entscheidungen über Wohnstandort und Arbeitsplatz werden aufgrund der individuellen Akzeptanzgrenzen und Möglichkeiten getroffen und haben ihrerseits erhebliche Auswirkungen auf die dann verfügbaren Gelegenheiten und Verkehrsangebote, also auf die strukturelle Dimension.

Dabei sind die Vorlieben, Wünsche und Möglichkeiten, aber auch die Zwänge und Notwendigkeiten stark durch soziodemographische und sozioökonomische Faktoren bestimmt. So unterscheiden sich die Aktivitätsprogramme verschiedener Personengruppen ebenso wie die Verfügbarkeit über einen Pkw (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Wegehäufigkeit* und Pkw-Verfügbarkeit** ausgewählter Personengruppen Abb. 1: Wegehäufigkeit* und Pkw-Verfügbarkeit** ausgewählter Personengruppen

Quelle: Eigene Berechnungen und Darstellung nach BMVBW (2003)

* Bei der „Wegehäufigkeit“ werden Heimwege der vorangehenden Aktivität zugerechnet. Entsprechend sind die jeweiligen Häufigkeiten einzelner Aktivitäten (z. B. des Einkaufens) deutlich geringer als hier ausgewiesen.
** Bei Pkw-Verfügbarkeit wurde die Kategorie „Frage nicht gestellt“ herausgerechnet.

Abb. 1: Wegehäufigkeit* und Pkw-Verfügbarkeit** ausgewählter Personengruppen

Entsprechend kann ein Standort den Erreichbarkeitsanforderungen und individuellen Verkehrsmöglichkeiten in unterschiedlichen Lebenssituationen mehr oder weniger genügen und damit die Teilhabe erleichtern oder erschweren. Dabei sind jedoch einige grundsätzliche Zusammenhänge zu berücksichtigen:

2     Mehr Beweglichkeit und Erreichbarkeit

Der motorisierte Individualverkehr (MIV) ist einschließlich der jeweiligen Zu- und Abgangswege im Schnitt doppelt so schnell wie der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) und viermal schneller als das Fahrrad (siehe Tab. 1). Die Verfügbarkeit eines Pkw vergrößert also den potenziellen Aktionsraum gegenüber dem ÖPNV auf das Vierfache, gegenüber dem Fahrrad auf das 16-fache, gegenüber dem Fußverkehr sogar auf das Hundertfache. [4] Entsprechend breiter sind die Entscheidungsmöglichkeiten der privaten Personen und Haushalte mit Pkw bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Arbeitsplatz, beim Einkauf oder in der Freizeit (Van Wee, Holwerda, Van Baren 2002). Für private Haushalte stellt also die Anschaffung eines Pkw eine erhebliche Steigerung der Beweglichkeit dar.

Tab. 1: Durchschnittliche Geschwindigkeiten der Verkehrsmittel bei den realisierten Wegen (km/h)

Zu Fuß Fahrrad MIV-Fahrer MIV-Mitfahrer ÖPNV ÖV-Fernverkehr Mittel
4 10 39 41 20 70 28

Quelle: Eigene Berechnungen nach BMVBW (2003)

Dabei können auch Betriebe von einer zunehmenden privaten Motorisierung profitieren. In einer Gesellschaft mit hohem Motorisierungsgrad stützen sich Betriebe auf größere Einzugsbereiche bei Kunden und Mitarbeitern. Damit erweitert sich auch der unternehmerische Spielraum bei Standortentscheidungen, da auch weiter abgelegene Standorte für die meisten Kunden oder Mitarbeiter mit dem Pkw hinreichend erreichbar sind.

Gleichzeitig verbessert die Einführung und Verbreitung neuer und durch die Erweiterung bestehender Transportmöglichkeiten die Erreichbarkeitsverhältnisse. Bezogen auf Tagesreisen dokumentieren Lemke et al. (2005) diese Ausweitung am Beispiel Berlins (siehe Abb. 2). Mit der Postkutsche konnte man im Jahr 1824 von Berlin in zwölf Stunden gerade einmal Frankfurt / Oder oder die Stadt Schwedt erreichen. Dessau lag deutlich außerhalb des Zwölf-Stunden-Radius. Mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes rückten diese Städte an Berlin heran. Bereits 1854 lagen Kassel im Zwölf-Stunden-Radius, Rostock, Kiel, Bremen und Dortmund nur knapp außerhalb. Frankfurt / Oder, Schwedt und Dessau liegen heute an der Grenze des täglichen Pendelns. Sie sind mit der Regionalbahn in 66 Minuten von Frankfurt / Oder bis Berlin Friedrichstraße, in 92 Minuten von Schwedt bis zum Potsdamer Platz und in 84 Minuten von Dessau bis Berlin Friedrichstraße zu erreichen. Für den Pkw ergeben sich ähnliche Fahrzeiten: Gegenüber der Bahn ergeben sich etwas längere Fahrzeiten bei Fahrten in die Innenstadt, etwas kürzere Fahrzeiten für andere Ziele in Berlin. Mit dem ICE erreicht man in ähnlicher Fahrzeit inzwischen Hannover (von Hauptbahnhof zu Hauptbahnhof in 98 Minuten), so dass auch hier mittelfristig die Pendlerbeziehungen zunehmen werden. Dieser Prozess schreitet weiter voran. Im Jahr 2004 reichte der Zwölf-Stunden-Radius der Bahn von Berlin bis Lyon; 2024 wird er voraussichtlich bis Barcelona reichen (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Stundenradien im Zeitverlauf (1824 Pferdekutsche, ab 1854 Eisenbahn)

Quelle: Von Spiekermann überarbeitete Abbildung aus Lemke et al. 2005

Abb. 2: Stundenradien im Zeitverlauf (1824 Pferdekutsche, ab 1854 Eisenbahn)

Neben der Geschwindigkeit spielen die Kosten eine entscheidende Rolle. Die Kostenrelationen verändern sich zurzeit zwar vor allem im Flugverkehr. Aber gerade der Zunahme der privaten Motorisierung muss in diesem Kontext eine herausragende Rolle zugewiesen werden; sie war vor allem ein Effekt steigender Einkommen. Bezogen auf das verfügbare Einkommen sanken über lange Zeit die Kosten für Erwerb und Nutzung des Pkw (siehe Abb. 3 nächste Seite). Auf der anderen Seite stiegen die Wohnkosten bei parallel steigendem Wohnstandard, und der mit ihm verknüpften Förderung (Absetzbarkeit von Pendelkosten und Eigentumsförderung in unterschiedlichen Ausprägungen) sowie entsprechender Werbung, so dass sich der Eindruck verfestigt hat: „Durch längere Wege lässt sich Geld sparen.“ Erst in den letzten Jahren ist in beiden Entwicklungen eine Trendumkehr erfolgt, die damit aber noch nicht zwingend bei allen Standortentscheidungen entsprechend berücksichtigt wird.

Erweitern sich die individuellen Verkehrsmöglichkeiten (z. B. durch Anschaffung eines Pkw) oder verbessern sich die Verkehrsangebote (z. B. durch Ausbau des Straßennetzes oder Ausweitung des ÖPNV-Angebots), so verändern sich die Möglichkeiten der Teilhabe und damit die Wahlmöglichkeiten:

Diese Prozesse der Beschleunigung und sinkender finanzieller Aufwendungen erweitern also die Chancen zur Teilhabe und die Optionen der Standortwahl. Dies stellt für diejenigen, die an diesem Prozess partizipieren, unzweifelhaft einen Gewinn an Lebensqualität dar. Gibt es ist also ein Problem?

Abb. 3: Monatliche Belastungen durch Kosten für Wohnen und privaten Pkw

Quelle: Eigene Darstellung nach BMVBW (2001, S. 264 ff.)

HH-Typ 3: Ein Ehepartner als Beamter oder Angestellter als Hauptverdiener eines über dem Durchschnitt liegenden Familieneinkommens

Seit 1999 werden diese Angaben nicht mehr ausgewiesen.

Abb. 3: Monatliche Belastungen durch Kosten für Wohnen und privaten Pkw

3     Die Probleme

Für einen Großteil der Bevölkerung hat dieser Prozess tatsächlich zu einer deutlichen Zunahme der Wahlmöglichkeiten geführt. Dies trifft einerseits auf die Wahl des Wohnortes und des Arbeitsplatzes, aber auch auf die der jeweiligen Einkaufsorte zu. Dies gilt aber nicht uneingeschränkt (siehe Kap. 3.1) und insbesondere nicht für Personen und Haushalte ohne Pkw (siehe Kap. 3.2).

3.1     Personen und Haushalte mit Pkw: Standortentscheidungen mit Verkehrszwängen

Wie oben dargestellt weitet sich mit der Anschaffung eines Pkw der potenzielle Aktionsraum erheblich aus. Auf dieser Basis treffen Personen und Haushalte ihre anschließenden Standortentscheidungen. Insgesamt liegen mittel- und langfristigen Standortentscheidungen äußerst komplexe Abwägungsprozesse zu Grunde, bei denen zahlreiche Kriterien berücksichtigt werden. Verkehr und Erreichbarkeit spielen eine wichtige Rolle (Clark, Huang, Withers 2003; Kasper, Scheiner 2006). Gleichzeitig erscheinen Haushalten mit Pkw „Verkehr“ und „Erreichbarkeit“ meist eher als Kriterien mit randständiger Bedeutung (Fuchte in Vorbereitung): Die Finanzierbarkeit und Ansprüche an die Wohnsituation dominieren. Dabei gehen Haushalte mit Pkw dabei meist davon aus, dass der Pkw dauerhaft zur Verfügung steht und dass die Verkehrskosten relativ stabil bleiben.

Neben der Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes sind je nach Situation des Haushaltes weitere räumliche Kriterien (wie die Nähe zu Kindergärten, Schulen, Geschäften oder Parks und Wäldern) relevant. Viele Haushalte entscheiden sich dann für Standorte in der Peripherie, die einen hohen Wohnstandard und ein ruhiges Umfeld bei relativ niedrigen Wohnkosten versprechen. Defizite in anderen Bereichen werden jedoch häufig erst nach und nach erkannt. Dabei ist insbesondere zu nennen:

Bei der Entscheidung für einen neuen Arbeitsplatz werden weiterhin die Verkehrsfolgen häufig nicht richtig eingeschätzt. So verspricht der längere Weg zwar die bessere oder überhaupt eine Stelle. Die Anstrengung, aber auch die Kosten, die mit dem Pendeln verbunden sind, werden dagegen erst im Laufe der Zeit deutlich (Stutzer, Frey 2004). Und dem Arbeitgeber bereitet unter Umständen ein höherer Krankenstand bei Pendlern unerwartete Probleme.

3.2     Probleme von Personen und Haushalten ohne Pkw: Veränderungen mit Verkehrszwängen

Mehr als 80 Prozent der privaten Haushalte in Deutschland verfügen über einen oder mehrere Pkw. Damit hat fast jeder fünfte Haushalt keinen Pkw. In den Kernstädten mit über 500.000 Einwohnern lebt sogar mehr als jeder dritte Haushalt ohne Pkw. Selbst in den kleineren Gemeinden sinkt dieser Anteil nicht unter 10 Prozent (siehe Tab. 2). Insgesamt haben 32 Prozent der Wohnbevölkerung keinen Pkw-Führerschein. Hierzu zählen vor allem Kinder und Jugendliche. [5] All diese sind, auch wenn sie in Haushalten mit Pkw leben, von einer eigenständigen Nutzung des Pkw ausgeschlossen. Welche Folgen ergeben sich für diese Personen aus der Ausdehnung der potenziellen Aktionsräume der Haushalte und Personen mit Pkw?

Tab. 2: Pkw in privaten Haushalten nach „Gemeindetypen“ *

  Anzahl Pkw je Haushalt
kein Pkw
(%)
1 Pkw
(%)
2 und mehr Pkw
(%)
Agglomerations-
räume
Kernstädte > 500 TEW 36 51 13
< 500 TEW 26 54 20
hochverdichtete Kreise Ober / Mittelzentren 15 64 29
Sonstige Gemeinden 11 51 38
verdichtete Kreise Ober / Mittelzentren 15 57 28
Sonstige Gemeinden 13 49 38
ländliche Kreise Ober / Mittelzentren 18 58 23
Ober / Mittelzentren 18 58 23
Verstädterte
Räume
Kernstädte Kernstädte 26 55 19
verdichtete Kreise Ober / Mittelzentren 17 55 28
Sonstige Gemeinden 10 54 36
Ländliche Kreise Ober / Mittelzentren 17 51 32
Sonstige Gemeinden 14 49 37
Ländliche
Räume
Kreise höherer
Dichte
Ober / Mittelzentren 23 56 21
Sonstige Gemeinden 14 52 34
Kreise geringerer
Dichte
Ober / Mittelzentren 17 48 35
Sonstige Gemeinden 16 49 36

Quelle: Eigene Berechnungen nach DIW, INFAS 2003

*     Die Gemeindetypen greifen auf die Unterscheidung der Bundesanstalt für Bauwesen und Raumordnung zurück.

3.2.1     Siedlungsstrukturelle Veränderungen

Die Ausdehnung der (potenziellen) Aktionsräume der Bevölkerung mit Pkw stößt weitere Veränderungsprozesse an oder trägt zu diesen bei (siehe Tab. 3). Eine entsprechend hohe private Motorisierung ermöglicht Arbeitgebern, aber auch Einzelhandelsunternehmen. „Maßstabssprünge“ im Angebot und die Ansiedlung in peripheren Lagen. Besonders problematisch erscheint dies im Bereich des Einzelhandels (Kulke 1994). Diese Konzentrationsprozesse führen zu Konkurrenznachteilen kleinerer Geschäfte, die wohnungsnahe Versorgung dünnt mehr und mehr aus. Diese Prozesse sind mit einer Reihe weiterer Veränderungen verbunden, die in Tabelle 3 angerissen werden.

Tab. 3: Verkehrsbeeinflusste Entwicklungslinien im Einzelhandel

Private Motorisierung erschließt periphere Standorte.
Randwanderung verändert regionale Kaufkraftverteilung zu Gunsten der Peripherie.
Gemeindeübergreifende Verflechtungen stärken periphere Standorte.
Abnehmende Wohndichte schwächt wohnungsnahe Standorte.
Breitere Produktpalette erfordert größere Verkaufsflächen.
Veränderte Nachfragegewohnheiten (z. B. Getränkekästen) erhöhen die Vorteile des Pkw.
Veränderte Haushaltsstrukturen (kleinere Haushalte) und Aufgabenteilungen fördern Pkw.
Größere Geschäfte haben höhere Attraktivität (Auswahl, Preisniveau...).
Selbstbedienung wird als Standard bevorzugt und erhöht den Flächenbedarf.
Bei hohem Flächenbedarf steigt die Bedeutung der Bodenpreise.
Nahversorgung unterliegt in der Konkurrenz und beschleunigt die Entwicklung.

Quelle: eigene Zusammenstellung

Insbesondere für Personen ohne Pkw führen diese siedlungsstrukturellen Veränderungen zu Problemen. Älteren Menschen ohne Pkw zum Beispiel fallen die Einkäufe zusätzlich schwer, eventuell sind sie auf die Unterstützung von Nachbarn angewiesen. Kinder können erst später selbstständig einkaufen und damit erste eigenständige Erfahrungen mit der Welt der Erwachsenen sammeln. Es entstehen also nicht nur relative Nachteile gegenüber Personen oder Haushalten mit Pkw. Vielmehr können Personen und Haushalte ohne Pkw aufgrund der Veränderungen der räumlichen Strukturen viele Gelegenheiten nur noch mit einem höheren Aufwand oder gar nicht mehr erreichen.

3.2.2     Veränderungen im öffentlichen Verkehr

Die Nachfrage im öffentlichen Verkehr sinkt gerade in den Räumen, in denen der Öffentliche Verkehr vorrangig der Daseinsvorsorge dient. Behinderungen des öffentlichen Verkehrs durch den MIV kommen hinzu. Entsprechende Einschränkungen des Angebots sowie höhere Fahrpreise treffen vor allem diejenigen, die ohne Pkw vom öffentlichen Verkehr abhängig sind. Dieser Prozess wird bei knappen öffentlichen Kassen und in Gebieten mit sinkender Einwohnerzahl weiter voranschreiten und so die gesellschaftliche Teilhabe für sozial Schwächere sowie Personen und Haushalte ohne Pkw weiter erschweren.

In Gebieten, in denen der öffentliche Verkehr als Konkurrenz- oder sogar Vorrangsystem betrieben wird, kommt es dagegen bisweilen noch zu Angebotsausweitungen. Diese orientieren sich jedoch meist an der spezifischen Nachfrage der Pkw-Besitzer und versuchen durch hohe Geschwindigkeit gegenüber dem MIV konkurrenzfähig zu sein. Dies kann aber an den Anforderungen gerade älterer Menschen nach möglichst kurzen Zu- und Abgangswegen, geringen Umsteigenotwendigkeiten und ausreichenden Zeitfenstern beim Umsteigen vorbeigehen. Bisweilen sind entsprechende Angebote wie das Schnellbusangebot „Metrobus“ in Berlin gerade mit zusätzlichen Umsteigenotwendigkeiten oder Einschränkungen der Erschließung nachfrageschwacher Räume verbunden und erschwert so wiederum die Teilhabe von in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen.

3.2.3     Einschränkungen der individuellen Beweglichkeit

Immer mehr Menschen, die mit dem Pkw aufgewachsen sind und kaum Erfahrungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln besitzen, kommen zukünftig ins höhere Alter. Viele Betagte werden aber in ihrer letzten Lebensphase nicht mehr selbstständig Auto fahren können. Für diese Menschen stellt der Verzicht auf das eigene Auto, der häufig im Zusammenhang mit gesundheitlichen Problemen erfolgt, einen schweren Einschnitt dar. Der Erwerb von Kompetenzen im Umgang mit dem öffentlichen Verkehr ist aber zu diesem Zeitpunkt meist kaum noch möglich und sollte daher unbedingt frühzeitig erfolgen. Sonst folgt auf die Phase „hoher Beweglichkeit dank Auto“ eine Phase weitgehender Einschränkung, die in dieser Form nicht zwingend notwendig wäre.

Auch andere altersunabhängige Einschränkungen der Beweglichkeit können die Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe einschränken. So fühlen sich ältere Menschen im Verkehr zum Beispiel unsicher und, trauen sich nicht mehr zu, das Fahrrad zu nutzen (Holz-Rau, Scheiner 2002). Eltern untersagen ihren Kindern das Spielen oder Radfahren im Straßenraum. Rückzugsstrategien sind dann oft die Folge. Die oben genannten Beispiele zeigen, dass eine technisch barrierefreie Gestaltung also allein nicht genügt. Vielmehr ist ein höheres Maß an gegenseitiger Rücksichtnahme gegenüber schwächeren Verkehrsteilnehmern ein Beitrag zur Sicherung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe.

4     Erreichbarkeit und Sicherheit statt hoher Geschwindigkeit

Das bisher dominante Prinzip der öffentlichen Verkehrsplanung und -politik sowie der privaten Haushalte und Betriebe lautet: mehr Möglichkeiten durch höhere Geschwindigkeit. Hiermit verbunden sind Prozesse räumlicher Konzentration, häufig an MIV-orientierten Standorten, Spezialisierung und Dispersion sowie als Kehrseite: weniger Möglichkeiten bei geringer Geschwindigkeit. Die zumindest teilweise verkehrsinduzierte räumliche Spezialisierung führt zu einem großen „Möglichkeitsraum“ der Pkw-Besitzer und geringeren Teilhabemöglichkeiten für Personen ohne Auto.

Auch eine hoch motorisierte Gesellschaft im sozialen und demographischen Wandel muss Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen, Personen ohne eigenen Pkw und Menschen, die in ihrer Beweglichkeit körperlich oder finanziell eingeschränkt sind, die Möglichkeit erhalten oder schaffen, die für sie wichtigen Orte und Gelegenheiten zu erreichen. Gerade diese auf kleinteilige Strukturen angewiesenen Gruppen sind aber in vielen Bereichen unserer Städte und Regionen durch Entmischung und Entdichtung sowie teilweise durch Einschränkungen im öffentlichen Verkehr in ihren Teilhabemöglichkeiten bereits stark eingeschränkt. Vor allem in Randlagen ist inzwischen eine eigenständige Versorgung ohne Pkw stark erschwert oder sogar unmöglich. Die Altersentwicklung und die mit einem längerfristigen Rückgang der Wohnbevölkerung in weiten Teilen Deutschlands verbundene abnehmende Dichte werden diese Probleme weiter verschärfen.

In der Sicherung der Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe liegt daher aus meiner Sicht die wohl wichtigste soziale Aufgabe einer nachhaltigen Raum- und Verkehrsplanung. Hierzu gibt es drei wesentliche Aufgabenbereiche:

Nur ein Vorrang der kleinräumigen Erreichbarkeit vor der großräumigen Raumdurchlässigkeit leistet einen Beitrag zur Sicherung der Teilnahmechancen tatsächlich für die gesamte Bevölkerung. In diesem Sinne sollte der zentrale Leitsatz der Verkehrsplanung und Verkehrspolitik lauten: Erreichbarkeit und Sicherheit sind wichtiger als hohe Geschwindigkeit.

Anmerkungen

[1] Die entsprechende Anregung hierzu kam von Joachim Scheiner nach seiner für mich wie immer hilfreichen Durchsicht des Manuskriptes.

[2] Unter Erwerbstätigen mit Teilzeitbeschäftigung sind hier alle Beschäftigungsverhältnisse mit weniger als 36 Arbeitsstunden pro Woche einschließlich ‚geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse' zusammengefasst.

[3] Die Prozentwerte berücksichtigen die Kategorie „Frage nicht gestellt“ nicht: Bei Frauen fielen immerhin 25 Prozent und bei Männern fünf Prozent in diese Rubrik.

[4] In der Realität dürfte der Vorsprung des MIV vor allem gegenüber dem ÖPNV sogar noch größer sein, da die realisierten Wege im ÖPNV vorrangig auf den Relationen stattfinden, auf denen das ÖPNV-Angebot besonders gut und damit die Geschwindigkeit besonders hoch ist.

[5] Kinder und Jugendliche stellen ca. 60 Prozent der Personen ohne Führerschein (DIW, INFAS 2003)

Literatur

BMVBW - Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.), 2001:
Verkehr in Zahlen 2000. Hamburg: Deutscher Verkehrs-Verlag GmbH

Clark, W.; Huang, Y.; Withers, S., 2003:
Does Commuting Distance Matter? Commuting Tolerance and Residential Change. In: Regional Science and Urban Economics 33 (2003), S. 199-221

DIW, INFAS, 2003:
Mobilität in Deutschland. Tabellenprogramm zur Erhebung „Mobilität in Deutschland 2002“, Berlin: Eigenverlag

Fuchte, K., in Vorbereitung:
Verkehr und Erreichbarkeit als Kriterien der Wohnstandortwahl. In: IRPUD - Institut für Raumplanung der Universität Dortmund (Hg.): Dortmunder Beiträge zur Raumplanung: Reihe Verkehr, Band 5. Dortmund: Eigenverlag

Holz-Rau, C., 1997:
Siedlungsstruktur und Verkehr. Bonn: Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (Materialien zur Raumentwicklung, Heft 84)

Kasper, B.; Scheiner, J., 2006:
Räumliche Mobilität als Prozess kurz- und langfristigen Handelns: Zusammenhänge zwischen Wohn- und Alltagsmobilität. In: Beckmann, K.J. et al. (Hg.): StadtLeben - Wohnen, Mobilität und Lebensstil. Neue Perspektiven für Raum- und Verkehrsentwicklung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 167-186

Kulke, E., 1994:
Auswirkungen des Standortwandels im Einzelhandel auf den Verkehr. In: Geographische Rundschau 46/5 (1994), S. 290-296

Lanzendorf, M.; Scheiner, J., 2004:
Verkehrsgenese als Herausforderung für Transdisziplinarität - Stand und Perspektiven der Forschung. In: Dalkmann, H.; Lanzendorf, M.; Scheiner, J. (Hg.): Verkehrsgenese: Entstehung von Verkehr sowie Potenziale und Grenzen der Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität. Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung 5. Mannheim: Verlag MetaGIS Infosysteme, S. 11-37

Lemke, M.; Schürmann, C.; Spiekermann, K.; Wegener, M., 2005:
Die europäische Dimension des Verkehrs. In: Leibnitz-Institut für Länderkunde zusammen mit A. Mayr und J. Stadelbauer (Hg.): Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland - Band 11 Deutschland in der Welt. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, S. 84-87

Stutzer, A.; Frey, B., 2004:
Stress that Doesn't Pay: The Commuting Paradox. Zurich: University of Zurich. (Institute for Empirical Research in Economics, Working Paper 151)

Holz-Rau, C.; Scheiner, J., 2002:
Seniorenfreundliche Siedlungsstrukturen. In: Schlag, B.; Megel, K. (Hg.): Mobilität und gesellschaftliche Partizipation im Alter. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer GmbH. S. 198-221

Van Wee, B.; Holwerda, H.; Van Baren, R., 2002:
Preferences for Modes, Residential Location and Travel Behaviour: the Relevance for Land-Use Impacts on Mobility. In: European Journal of Transport and Infrastructure Research 2/3+4 (2002), S. 305-316

Kontakt

Prof. Dr.-Ing. Christian Holz-Rau
Universität Dortmund
Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung an der Fakultät Raumplanung
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E-Mail: christian.holz-rau∂uni-dortmund.de
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