Digitales Rechtemanagement und Verbraucherinteressen

Schwerpunkt: Digital Rights Management – Herausforderungen für Recht, Technik und Technikfolgenabschätzung

Digitales Rechtemanagement und Verbraucherinteressen. Plädoyer für eine DRM-Agenda, die auch die Interessen der Verbraucher berücksichtigt

von Natali Helberger, University of Amsterdam

Der Einsatz von DRM-Systemen kann für attraktive und benutzerfreundliche Produkte und Dienste genutzt werden – vorausgesetzt die Rechte und die legitimen Interessen der Verbraucher werden berücksichtigt. Der gegenwärtig vorherrschende Ansatz, DRM ausschließlich als eine Angelegenheit des Urheberrechts zu betrachten, steht einer wirksamen rechtlichen Berücksichtigung der Interessen der Verbraucher im Wege. Mit einer Reihe von Vorschlägen wird gezeigt, welche Rolle einem ergänzenden verbraucherschutzrechtlichen Ansatz zukommen könnte. Aus Forderungen, die an das Urheberrecht und den Verbraucherschutz zu stellen sind, wird eine DRM-Agenda mit mehreren Optionen der rechtlichen Ausgestaltung entwickelt. [1]

1     Einleitung

Ein Hauptgrund für die immer wichtigere Rolle des Verbrauchers im Urheberrecht ist die zunehmende Digitalisierung. Einerseits verändert die Digitalisierung die Möglichkeiten für den Verbraucher, bestimmte elektronische Inhalte zu suchen, zu erschließen, sie (interaktiv) zu nutzen und weiterzugeben. Auf der anderen Seite verändert die Digitalisierung die Art und Weise, wie Rechteinhaber digitale Inhalte verwerten können. Sie eröffnet neue Darstellungsmöglichkeiten und Angebotsformen. Sie ermöglicht aber auch verfeinerte Verfahren der Regelung und Überwachung der Nutzung digitaler Inhalte. Zusammen mit den Verträgen zwischen Anbietern und Verbrauchern ermöglichen Techniken des digitalen Rechtemanagements (DRM) [2] ein nie da gewesenes Maß an Kontrolle über die Art und Weise, wie Verbraucher digitale Inhalte nutzen können.

Angesichts der erweiterten Nutzungs- und Kommunikationsmöglichkeiten auf der Verbraucherseite und der erweiterten Rechte und Kontrollmöglichkeiten auf der Seite der Rechteinhaber sind Konflikte vorprogrammiert. Dies gilt umso mehr, als die in jüngster Zeit erfolgte Reform des europäischen Urheberrechts (EUCD 2001) darauf abzielt, die Produzentenseite einseitig zu stärken, in der Annahme, dass ein stärkerer Urheberrechtsschutz auch dem Verbraucher zugute käme. Infolge des verschärften Rechtsrahmens schließt die Anzahl möglicher Gesetzesverletzungen zunehmend auch Nutzungen ein, die der Verbraucher häufig als „normale“ und wesentliche Funktionen des Internet betrachten dürfte. Die Bestrebungen seitens der Inhalteindustrie, Handlungen wie das Herunterladen von Inhalten von Peer-to-Peer-(P2P)-Netzen [3] , das „Rippen“ (Entnehmen von Inhalten), das „Posting“ (Hochspielen in P2P-Netzen) und die Weitergabe von Inhalten an Bekannte als Straftatbestände darzustellen, haben die Rechtsunsicherheit erhöht. Es wird immer schwieriger abzuschätzen, welche Handlungen nach wie vor nach dem Urheberrecht erlaubt sind und welche die Grenzen der „privaten“ oder anderer berechtigter Formen der Nutzung überschreiten.

DRM-Systeme, die die Grundlage für eine ganze Reihe neuer Geschäftsmodelle zur Verwertung digitaler Inhalte darstellen, werden vom Verbraucher oft als ein Anzeichen der wachsenden Kommerzialisierung digitaler Inhalte und des Internet wahrgenommen. Der unmittelbare Vorteil, den der Gebrauch von DRM-Systemen dem Verbraucher bringen kann (etwa in Form niedrigerer Preise und höherer Flexibilität), ist für diesen nicht immer erkennbar. Das zeigt sich an einer Reihe von Beschwerden, die in jüngster Zeit von Verbrauchern und Verbraucherorganisationen vorgebracht worden sind: DRM-geschützte Inhalte verhindern, dass der Verbraucher Ausnahmen nutzen kann, die das Urheberrecht vorsieht (wie beispielsweise die Schrankenbestimmung für privates Kopieren). Sie schränken den Verbraucher in seiner Autonomie ein, digitale Inhalte zu hören, zu sehen oder zu lesen, wo und wann er will. Sie greifen in die Privatsphäre ein und verletzen den Datenschutz. Im Extrem installieren DRM-Systeme sogar ohne Erlaubnis des Verbrauchers Software auf dessen Computer, die zu Schäden an Soft- und Hardware oder Dateien des Verbrauchers führen kann.

Diese Kritik drängt Wissenschaft, Gesetzgeber und Vertreter der Industrie, sich darüber klar zu werden, welche Rolle der Verbraucher im digitalen Zeitalter spielen soll, wo die Trennlinie zwischen legitimen und nicht-legitimen Nutzungen digitaler Inhalte liegt und welches das richtige Maß an Fairness, Autonomie und Freiheit in den Beziehungen zwischen Verbrauchern und DRM-Anwendern ist. Offen ist noch die Frage, was der Gesetzgeber tun könnte, um berechtigte Verbraucherinteressen vor einem missbräuchlichen Einsatz von DRM zu schützen. Weder der europäische Gesetzgeber noch die Gesetzgeber in den meisten europäischen Ländern haben sich bisher mit dieser Frage eingehender befasst. Entsprechend mangelt es an wirksamen legislativen Maßnahmen gegen den unfairen Einsatz von DRM.

Die Berücksichtigung von Verbraucherinteressen beim Einsatz von DRM-Systemen ist nicht bloß eine moralische Frage, sondern eine Vorbedingung für den wirtschaftlichen Erfolg vieler elektronischer Dienste und Produkte und das Funktionieren der Informationsökonomie insgesamt. Zahlungskräftige Verbraucher sind einflussreiche Akteure auf den neuen Märkten der Informationsökonomie, und die Stärkung des Vertrauens, der Sicherheit und des Schutzes der Verbraucher sind Eckpfeiler dieser Entwicklung (Europäische Kommission 2005; Byrne 2001). Während auf anderen Rechtsgebieten (wie etwa dem Telekommunikationsrecht) die wichtige Rolle des Verbrauchers als Akteur und treibende Kraft auf dem Markt längst erkannt worden ist, liegt dem Urheberrecht diese Erkenntnis noch recht fern. Eine digitale Verbraucherschutzagenda aufzustellen, entspräche im Übrigen der hohen Priorität, die die EU neuerdings Verbraucherfragen einräumt (Europäische Kommission 2005; Europäisches Parlament und Europäischer Rat 2004). Dazu will dieser Artikel einen Beitrag leisten.

2     Die derzeitigen gesetzlichen Regelungen greifen zu kurz

Die DRM-Diskussion spielt sich nach wie vor in erster Linie im Bereich des Urheberrechts ab – vor allem im Zusammenhang mit den Bestimmungen, die DRM vor Umgehung schützen sollen, und mit den gesetzlichen Ausnahmen und Einschränkungen des Urheberrechts. Die Ausnahmen und Einschränkungen im europäischen und nationalen Urheberrecht geben in gewissem Maße vor, was Nutzer mit einem kopiergeschützten Inhalt tun dürfen (z. B. privates Kopieren, Kopieren zu wissenschaftlichen oder schulischen Zwecken, Ausnahmeregelungen für Archive und Bibliotheken sowie für die Presse). Aus Verbrauchersicht ist dieser Ansatz jedoch nicht umfassend genug und die Rechtslage ist höchst unbefriedigend. Daran sind vor allem zwei Dinge schuld:

2.1     Rechteinhaber haben einen zu großen Freiraum bei der Anwendung von DRM

Rechteinhaber haben einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Anwendung von DRM. Verbraucherinteressen und -rechte werden in vertraglichen Regelungen oft einschränkend definiert. Dies wird begünstigt durch eine weite Auslegung der Vertragsfreiheit von Rechteinhabern beim vertraglichen Ausschluss von bestehenden Schrankenbestimmungen. Zweitens werden sie dadurch eingeschränkt, dass die Ausübung dieser Schrankenbestimmungen durch den Einsatz technischer Maßnahmen bzw. DRM praktisch unmöglich gemacht wird. [4]

Im europäischen Urheberrecht findet sich wenig darüber, was geschieht, wenn DRM-Anwender gegen die gegebenen Rechtsvorschriften des Urheberrechts verstoßen. Nach dem jetzigen Wortlaut des Artikels 6 / Abschnitt 4 der Urheberrechtsrichtlinie werden DRM-Anwendern nur recht unbestimmt rechtliche Maßnahmen angedroht, wenn sie DRM nicht so anwenden, wie es berechtigten Verbraucherinteressen entspricht. Dieser Artikel der Urheberrechtsrichtlinie erwähnt keinerlei Fristen oder Sanktionen bei Nichteinhaltung und sieht auch keinerlei wirksame Überwachungsverfahren vor. Es gibt auch keine ausdrückliche Verpflichtung der DRM-Anwender, die Schranken im Urheberrecht zu respektieren. Der Artikel ist vielmehr ein entmutigendes Signal für die Verbraucher. Die Zurückhaltung des Gesetzgebers in Bezug auf die Verantwortlichkeit von DRM-Anwendern ist schwer verständlich, zumal die Zuweisung von Verantwortlichkeiten für privates Handeln in anderen Rechtsgebieten ein recht häufig genutztes Instrument ist. [5] Warum also nicht im Urheberrecht?

Bei der Umsetzung der Richtlinie tun sich die Mitgliedstaaten der EU schwer, angemessene Lösungen zu erarbeiten. Vielmehr scheinen Gesetzgeber und politische Entscheidungsträger einen „notify-and-do-it“-Ansatz zu verfolgen. Damit ist gemeint, dass sie akzeptieren, dass die Schranken des Urheberrechts im Ermessen des DRM-Anwenders liegen und diese sich in vertraglichen und technischen Vorkehrungen konkretisiert können, solange der Verbraucher nur darüber vorher informiert wurde. Damit wird gleichzeitig die Beweislast auf den Verbraucher verlagert. Der Verbraucher muss im konkreten Fall beweisen, dass er der berechtigte Nutznießer einer Einschränkung des Urheberrechts ist. Vom Standpunkt des Verbraucherschutzes aus betrachtet ist die Lage äußerst unbefriedigend.

2.2     Das Urheberrecht ist für den Verbraucherschutz zu wenig konkret

Das Urheberrecht ist auch aus anderen Gründen keine zuverlässige Norm für die Fairness und Legitimität einer DRM-Anwendung:

Zum ersten Grund: DRM-Techniken ermöglichen eine ausgefeiltere und differenziertere Nutzungskontrolle, als es das Urheberrecht je vorhersehen konnte. Um ein Beispiel zu nennen: es ist nach geltendem Urheberrecht vollkommen unklar, welches die gesellschaftlich wünschenswerte Anzahl von Privatkopien ist, die ein Verbraucher anfertigen können sollte und ob eine Beschränkung auf z. B. sieben Kopien vertretbar ist oder nicht. Ebenso wenig sagt das Urheberrecht darüber, ob eine Neuabmischung, das Erstellen von Auszügen oder das „ripping“ elektronischer Inhalte zu unlösbaren Konflikten mit den exklusiven Nutzungsrechten der Rechteinhaber führt oder nicht. Ferner ist die Frage unbeantwortet, wer im Konfliktfall zu entscheiden hat: der Gesetzgeber, der DRM-Anwender, ein Sonderausschuss, der Richter oder der Verbraucher?

Zum zweiten Grund: Im Urheberrecht ist die mangelhafte Berücksichtigung von Verbraucherinteressen beim DRM-Einsatz (ebenso wie bei bestimmten Vertragspraktiken) wohl auch darauf zurückzuführen, dass der Urheberrechtsgesetzgeber sich nie richtig Gedanken über den Verbraucher gemacht hat. Im Urheberrecht fehlt eine einschlägige Vorstellung vom Verbraucher und von modernen Nutzungspraktiken digitaler Inhalte. Wie kann das Urheberrecht die Interessen der Verbraucher bzw. Nutzer wirksam schützen, wenn es nicht einmal genau weiß, um welchen Personenkreis es sich dabei handelt? Keine der europäischen Richtlinien bietet eine Definition des Begriffs „Verbraucher“. Es ist symptomatisch, dass der Begriff des „Verbrauchers“ im Zusammenhang mit dem Urheberrecht eigentlich überhaupt nicht vorkommt und dass auch viele Fachautoren den Begriff „Verbraucher“ in Zusammenhang mit dem Urheberrecht ungern verwenden (Benkler 2000, Cohen 2005); eine Ausnahme findet sich in Erwägungsgrund 9 der Urheberrechtsrichtlinie (EUCD 2001). Im Grünbuch über Urheberrecht der Europäischen Kommission, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur, wird der „Verbraucher“ vor allem als wirtschaftliche Verkörperung einer Person dargestellt, deren Hauptinteresse der passive Verbrauch zu einem günstigen Preis ist (Ramsay 2001, Europäische Kommission 1995, Benkler 2000). Liu bezeichnet dies als den „couch-potato“-Ansatz (Liu 2001).

Im Gegensatz dazu sollte davon ausgegangen werde, dass der „Nutzer“ die Werke nicht nur „konsumiert“, sondern sie vielmehr aktiv und zweckbestimmt verwendet, um damit zu lehren, zu erfinden, zu informieren, zu kritisieren oder sie zu besprechen. [6] Der Nutzer wird als ein potentieller „Urheber“ oder mindestens ein „aktiver Nutzer“ verstanden, der in gewisser Weise über dem „Normalverbraucher“ steht. In der Realität hingegen ist es eher wahrscheinlich, dass sich die Mehrzahl der Nutzer bzw. Verbraucher zwischen diesen beiden Polen bewegt (Lenhart, Madden 2005; INDICARE 2005; Cohen 2005; Liu 2001).

Zum dritten Grund: Es wird oft übersehen, dass DRM üblicherweise eingesetzt wird, um mehr zu erreichen als das recht eingeschränkte Ziel, geschützte Inhalte vor unberechtigter Nutzung zu schützen. Als Grundlage für einen ganzen Bereich neuer Geschäftsmodelle bietet DRM den Rechteinhabern nie da gewesene Möglichkeiten der Kontrolle, wie die Verbraucher bestimmte Inhalte nutzen können. Das meint: Wie oft sie Werke anhören, lesen oder anschauen; wann, wo, wie lange oder wie oft und mit wem sie sie austauschen. Infolgedessen gehen die Auswirkungen von DRM über Fragen des „reinen“ Urheberrechts hinaus, werden allerdings nur allzu oft in diesem engen Kontext behandelt. Erst in jüngster Zeit untersucht die Fachwelt die Auswirkungen von DRM auf legitime Verbraucherinteressen außerhalb des Urheberrechts (INDICARE 2005; Mulligan, Burstein 2002; Mulligan et al. 2003; Liu 2001; Cohen 2005; INDICARE 2004; Helberger 2005). Bisher sind u. a. folgende Fragen angesprochen worden:

3     Optionen des Verbraucherschutzes im Hinblick auf digitale Medien

In diesem Abschnitt sollen Ansätze beschrieben werden, mit denen Verbraucherinteressen in der Informationsökonomie Rechnung getragen werden kann. In den Unterkapiteln 3.1 bis 3.3 werden dazu folgende Optionen vorgestellt: der Weg über die Verbraucherautonomie; eine innovations- und verbraucherfreundliche Reinterpretation des Urheberrechts sowie die Entwicklung des allgemeinen Verbraucherschutzrechtes und sektorspezifischer Regeln zum Schutz der Interessen von Verbrauchern.

3.1     Der Weg über die Verbraucherautonomie

Vieles spricht für eine Lösung, bei der der Verbraucher und damit der Kunde darüber entscheidet, ob er die Bedingungen, unter denen ein Dienst angeboten wird, akzeptabel findet oder nicht. Durch Kauf oder Nichtkauf eines bestimmten Erzeugnisses oder einer bestimmten Dienstleistung hat der Verbraucher ein wirksames Mittel in der Hand, seine Präferenzen auszudrücken. Er kann damit auch deutlich machen, was er für ein faires Geschäft hält. Für die Befürworter dieses Ansatzes ist dabei das Konzept der Transparenz zentral. Wenn transparent wäre, wann und wie DRM eingesetzt wird, hätte der Verbraucher die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob er ein DRM-System akzeptiert.

Der Ansatz über die Verbraucherautonomie hat gewisse Vorteile, erkennt er doch die Autonomie des Verbrauchers ebenso wie die Vorstellung vom aktiven Verbraucher an. Auch eine Überregulierung lässt sich so vermeiden. Allerdings lassen sich auch einige Kritikpunkte ins Feld führen: Wenn der Ansatz über die Verbraucherautonomie funktionieren soll, ist genügend Wettbewerb eine Voraussetzung dafür, dass Wahlmöglichkeiten entstehen, also verschiedene Nutzungsoptionen zu differenzierten Preisen zur Auswahl stehen. Außerdem gehörte zum Wettbewerb, dass auf Inhalte über verschiedene Wege bzw. Medien zugegriffen werden kann. Beides ist heute nicht durchweg der Fall. Die Auswahlmöglichkeiten des Verbrauchers dürfen zudem nicht durch vertragliche (langfristige Abonnementverträge, mangelnde Vertragstransparenz) oder technische Bedingungen (nicht interoperable Verbrauchergeräte) behindert werden.

Aus dem Blickwinkel der Rechts- und Informationspolitik wird die Lage dadurch kompliziert, dass die Gesetze zum Schutz geistigen Eigentums eine ganze Reihe weiterer politischer Ziele verfolgen; dazu gehören die Verbreitung von Ideen, Förderung der Meinungsfreiheit, Schutz der Kultur sowie Förderung von technischem Fortschritt und Innovation. Diese Ziele sind nicht so sehr auf den einzelnen Verbraucher als vielmehr auf den Verbraucher im gesellschaftlichen Kontext ausgerichtet. Mit anderen Worten: Für die Politik hängt die Entscheidung darüber, was akzeptabel ist, nicht nur vom Blickwinkel des einzelnen Verbrauchers, sondern von grundsätzlicheren gesellschaftlichen Interessen ab. Es ist mindestens fraglich, ob auf einem funktionierenden Markt die Summe aller einzelnen Verbraucherentscheidungen unbedingt mit der Verwirklichung dieser grundsätzlichen Ziele identisch ist (Reifner 1998). Es reicht in diesem Zusammenhang wahrscheinlich nicht, sich zum Schutz gesellschaftlicher Ziele nur auf die Marktkräfte zu verlassen. Zusätzliche Initiativen zur Verbesserung der Verbraucherposition könnten gerechtfertigt sein.

3.2     Innovations- und verbraucherfreundliche Auslegung des Urheberrechts

Im europäischen Urheberrecht wird vor allem von der Annahme ausgegangen, dass dem Verbraucher am besten gedient sei, wenn die europäische Inhalteindustrie (unter anderem durch Erweiterung des Urheberrechtsschutzumfangs) gefördert wird. Dem lässt sich entgegenhalten, dass ein zu weit reichender Schutz von Werken eher dazu angetan ist, für den Verbraucher den Zugang und die Nutzbarkeit sowie die Standards an Sicherheit und Datenschutz zu beeinträchtigen, aber auch die Marktnachfrage. Mit anderen Worten: Ein zu weit reichender Urheberrechtsschutz kann sein Ziel, nämlich dem Verbraucher zu dienen, verfehlen.

Aus diesem Grund wäre im Fall eines Interessenkonflikts für eine innovationsfreundlichere Interpretation des Urheberrechts zu plädieren. Im berühmten „Paperboy“-Fall hat der Bundesgerichtshof im Jahr 2003 z. B. festgestellt, dass Anbieter von Dienstleistungen, die das Internet als Vertriebsmedium für ihre Angebote nutzen wollen, Einschränkungen ihrer exklusiven Rechte hinnehmen müssen, wenn dies durch das öffentliche Interesse am Funktionieren des neuen Mediums gerechtfertigt werden kann (Bundesgerichtshof 2003). Aus einem ähnlichen Grund wurde in der Urheberrechtsrichtlinie „Caching“ (kurzfristige Zwischenspeicherung einer Kopie) vom Vervielfältigungsrecht ausgenommen.

Ein Richter könnte dementsprechend argumentieren, dass Anbieter von Musikdiensten in Ausübung ihrer Exklusivrechte bestimmte Nutzungsarten von digitalen Produkten nicht verhindern dürften, die „normal“ oder gesellschaftlich erwünscht sind. Dazu könnte z. B. das Speichern von digitalen Produkten auf verschiedenen Computern gehören, deren Umwandlung in ein vorlesbares Format (Sprachausgabe), zeitlich und räumlich versetzte Nutzungen, die Herstellung von Sicherungskopien, der Austausch bzw. Verteilung von Inhalten sowie das Neuabmischen und die Neuzusammensetzung (und damit das Hervorbringen von Neuschöpfungen). Dies sollte gestattet sein, solange solche Nutzungen nicht nachweislich die berechtigten Interessen der Rechteinhaber schmälern. Bei der Beurteilung, ob eine Aktivität „normal“ ist oder den ausschließlichen Nutzungsrechten der Rechteinhaber zuwiderläuft, sollten die gesellschaftliche Wünschbarkeit der betreffenden Aktivität und die glaubhaft gemachte tatsächliche oder potenzielle Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Nutzungsinteressen des Rechteinhabers in die Beurteilung eingehen. [7]

3.3     Allgemeiner Verbraucherschutz und sektorspezifische Regeln

In Europa, neuerdings auch in den Vereinigten Staaten, bildet sich allmählich ein neuer Denkansatz heraus, in dem DRM als Angelegenheit des Verbraucherschutzrechts angesehen wird. Viele Konflikte zu DRM beziehen sich auf die kommerzielle Beziehung zwischen Diensteanbieter und Verbraucher. Sie sind damit auch Vertragssache und Sache des Verbraucherschutzrechts und nicht unbedingt mehr bzw. ausschlie?lich Sache des Urheberrechts. Es gibt bereits eine Reihe von Fällen, in denen das allgemeine Verbraucherschutzrecht und dort insbesondere die Regeln über mangelhafte Produkte mit Erfolg zum Schutz von Verbraucherinteressen angewandt wurden.

Die Anwendung des allgemeinen Verbraucherschutzrechts zum Schutz der vielfältigen einzelnen und öffentlichen Interessen im Zusammenhang mit geistigem Eigentum ist umstritten. Das Verbraucherschutzrecht wird dabei häufig, wenn es nur als Hilfsmittel zur Förderung des Konsums von „möglichst vielen mängelfreien Waren und Dienstleistungen“ gesehen wird, zu eng gefasst (kritisch dazu Wilhelmsson 2001). Aber schon der Begriff des „mangelhaften Produkts“ ließe sich weiter fassen und könnte über das reine Konsumieren (wie Hören, Anschauen etc.) hinaus auch aktive Nutzungsformen zum Zwecke der Selbstverwirklichung oder Kommunikation oder der Aufrechterhaltung eines Grades von Selbstbestimmtheit beim Erwerb digitaler Inhalte einschließen. Es gibt keine dem Verbraucherschutzrecht inhärenten Grundsätze, die gegen eine derartige Interpretation sprechen (Wilhelmsson 2001).

Der Schutz vor mangelhaften Produkten und ungerechten Vertragsbedingungen im Verbraucher- und Vertragsrecht ist nur eine mögliche Form, nur ein mögliches Ziel des gesetzlichen Verbraucherschutzes. Das Verbraucherschutzrecht kann im Grunde auf drei unterschiedlichen Ebenen bestimmte Funktionen erfüllen: der Ebene des einzelnen Verbrauchers, der Ebene gesellschaftlicher Interessen und der ordnungspolitischen Ebene der Partizipation der Verbraucher in der Marktordnung und bei der Gesetzgebung.

3.4     Diskussion

Auf allen drei Ebenen könnte das Verbraucherschutzrecht eine wichtige Rolle dabei spielen, ein verbraucherfreundlicheres DRM-Umfeld zu schaffen. Dazu muss allerdings festgestellt werden, dass das bestehende allgemeine Verbraucherschutzrecht wohl keine Patentlösungen bietet – vor allem nicht auf diesem komplexen Sektor mit seiner Vielfalt von (einander oft widersprechenden) individuellen, wirtschaftlichen und politischen Zielen. Die Dinge werden noch weiter dadurch verkompliziert, dass allgemeine Verbraucherschutzregeln in vielen verschiedenen Gesetzen verstreut vorkommen (Persönlichkeitsschutzgesetz, Gesetz über elektronischen Handel, Vertragsrecht, Produkthaftungsrecht, Verfahrensrecht usw.).

Sektorale Lösungen, wie im zweiten Punkt bereits ausgeführt, können daher eine wichtige Rolle spielen. Die europäische Richtlinie zu „Universellen Diensten“ hat gezeigt, dass sich Verbraucherschutzregeln, die vorher über viele Gesetze verstreut waren, durchaus in einem einzigen gesetzgeberischen Akt bündeln lassen. Diese Richtlinie ist auch insofern lehrreich, als sie eine besondere Verbraucherkategorie in der Informationswirtschaft schützt: die Verbraucher von Kommunikationsdiensten.

Es liegt in der Natur des allgemeinen Verbraucherschutzrechts, umfassend alle nur erdenklichen Situationen abzudecken (Einkauf von Waschpulver, Autos, Hunden, Kühlschränken usw.). Dagegen haben Wissens- und Kulturgüter bestimmte Eigenschaften, die den Kauf eines digitalen Inhalts anders gestalten als den Einkauf von Waschpulver. Sie besitzen vielmehr demokratische, kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung, die über den Erwerb eines Konsumgutes hinausgeht. Diese Erkenntnis ist nicht nur zur Feststellung schützenswerter einzelner Erwartungen relevant, sondern auch bei der Definition adäquater Rechtsmittel. Zum Beispiel nutzt das Rückgaberecht einem Verbraucher wenig, wenn er Zugang zu einem urheberrechtsgeschützten Kultur- oder Wissensgut haben möchte. Ein Schritt hin zu einem „sektorspezifischen“ Vertrags-, Verbraucher-, Verkaufs- und Haftungsrecht könnte eine viel versprechende Möglichkeit sein, mit der auf Entwicklungen zu mehr Dezentralisierung und Privatisierung von Nutzungsregeln für digitale Inhalte reagiert werden könnte. Damit wäre ein größeres Maß an Rechtssicherheit gewonnen. Es könnte deutlich mehr Druck auf DRM-Anwender ausgeübt werden, die einschlägigen Rechtsnormen einzuhalten, um Haftungsansprüche zu vermeiden. Weiterhin könnten zwischen DRM-Anwender und Verbraucher auftretende Probleme frühzeitig, direkt und flexibel angegangen werden.

Anmerkungen

[1] Der Beitrag entwickelt die im zweiten Update des INDICARE Sachstandsberichts (INDICARE 2006) von der Autorin entwickelten Überlegungen zu DRM und Verbraucherschutz weiter und stellt sie hier erstmals auf Deutsch vor.

[2] Im weiteren Sinne rechnen wir auch elektronische Zugangskontrollsysteme und den elektronischen Kopierschutz zum DRM.

[3] Netzwerke von Verbrauchern, die mittels spezieller Software digitale Bestände untereinander austauschen.

[4] Ein Beispiel ist die Anwendung von DRM auf einer DVD, um damit jede Form des Kopierens auszuschließen, selbst wenn dies aus rein persönlichen und nicht kommerziellen Gründen erfolgt. Damit wird die Schrankenbestimmung für das private Kopieren ausgehebelt.

[5] Dies ist vor allen Dingen im Umweltrecht (siehe Börkey, Glachant und Lévêque 1998), bei der Produkthaftung oder im Baurecht der Fall (Wilhelmsson und Hurri 1998).

[6] Eingehend befasst sich Liu (2001) mit diesem Unterschied.

[7] Anzumerken ist, dass bei diesem Ansatz die Entscheidung, ob eine bestimmte DRM-Nutzung rechtmäßig ist oder nicht, auf die Gerichte abwälzt wird. Die grundlegende Frage ist, ob es überhaupt wünschenswert ist, dass Gerichte wichtige Entscheidungen in der Informationspolitik treffen. Oder, ob derartige Entscheidungen nicht allein dem Gesetzgeber überlassen bleiben sollten?

[8] Dazu gehören z. B. die Vorschriften über schädliche Emissionen, die Aufsicht über Kernkraftwerke und die Haftung für Umweltschäden; vgl. dazu Morgan 2003 und Wilhelmsson 2001).

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