A. Ahrens, A. Braun, A. v. Gleich et al.: Hazardous Chemicals in Products and Processes - Substitution as an Innovative Process

Rezensionen

Erfolgreiche Substitution von Gefahrenstoffen in Chemikalien: Beispiel für Innovationsprozesse?

A. Ahrens, A. Braun, A. von Gleich, K. Heitmann, L. Lißner: Hazardous Chemicals in Products and Processes – Substitution as an Innovative Process. Heidelberg: Physica-Verlag, 2006, 152 S., ISBN 3-7908-1642-2, Euro 53,45

Rezension von Ulrich Fiedeler, ITAS

1     Hintergrund

Spätestens seit den 1970er Jahren wurde deutlich, dass die Herstellung von chemischen Substanzen und deren Ausbringung in das Ökosystem mit erheblichen Risiken verbunden ist [1] .

Obwohl die Auswirkungen des Chemie-Unfalls in Seveso (1976) lokal beschränkt blieben, hatten schon die Erkenntnisse von Rachel Carson1 gezeigt, dass die lokale Ausbringung von Umweltgiften auch zu einem globalen Problem werden kann. Weitere Beispiele sind später die Entdeckung des Mechanismus der Ozonzerstörung in der Stratosphäre durch FCKW [2] oder die der Akkumulation von PCB [3] im Fettgewebe von Tieren, die fern von jeglicher Zivilisation leben. Darüber hinaus wurden insbesondere durch FCKW die enorme Komplexität ökologischer Zusammenhänge und damit auch die Komplexität der potentiellen Auswirkungen von Chemikalien auf die Umwelt deutlich.

Diese Probleme offenbarten zugleich, dass der immer noch die Praxis dominierende Ansatz der Vermeidung von Gefahren und Umweltproblemen durch die so genannte „end-of-the-pipe“-Technik die Probleme nur unbefriedigend löst oder bloß verschiebt. Nichts läge daher näher, als die Substitution von Gefahrenstoffen anzustreben. Obwohl dieser Ansatz beinahe so alt ist wie die chemische Industrie selbst [4] , wird die Substitution von Gefahrenstoffen auch heute noch nur schleppend umgesetzt. Um die Ursachen dieser zögerlichen Umsetzung zu untersuchen, wurden in den Jahren 2001 bis 2003 das EU-Projekt „Substitution of Hazardous Chemicals in Products and Processes“ sowie das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „SubChem“ durchgeführt, deren Ergebnisse in dem vorliegenden Buch zusammengefasst sind.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, in dessen Zusammenhang die oben genannten Projekte durchgeführt wurden, ist die Debatte um eine Neufassung des Europäischen Chemikalienrechtes, die mit der Veröffentlichung des “White Paper on the Strategy for a future Chemicals Policy" von der Europäischen Kommission eingeleitet wurde. [5] Im Oktober 2003 hat sie den Vorschlag „A new EU regulatory framework for the Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals“ vorgelegt, der dann in einer abgemilderten Form am 17.11.2005 vom Parlament in erster Lesung angenommen wurde. [6] Das Prinzip der Substitution von Gefahrenstoffen ist in dieser Neufassung der Europäischen Chemikalienpolitik ein Kernelement.

2     Problemaufriss

Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Die Rezension folgt der Gliederung des Buches, mit der Ausnahme, dass auf die Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse im ersten Kapitel erst im dritten Abschnitt der Rezension in der „Diskussion“ näher eingegangen wird.

Das zweite Kapitel gibt eine interessante und recht umfassende Einführung in die gesamte Problematik und benennt die verschiedenen Dimensionen der Herausforderungen des Substitutionsprozesses. Erläutert werden die im Laufe der Zeit veränderten ökonomischen und produktionstechnischen Rahmenbedingungen, die wachsende Sensibilität der Konsumenten und der zunehmende Grad an Regulierung. Es wird dabei deutlich gemacht, dass Regulierungen aus einer Vielzahl verschiedener Instrumente bestehen können. Das Spektrum reicht vom Labeling und der freiwilligen Selbstverpflichtung über die Einführung von Sonderabgaben bis hin zum Verbot der Herstellung und Anwendung bestimmter Chemikalien. In diesem Kapitel wird festgestellt, dass sich die Bildung von Markenartikeln als hilfreich für Substitutionsprozesse erwiesen hat. Dies wird erklärt als Reaktion auf den potentiellen Imageschaden, der aus skandalösem Umgang mit Gefahrenstoffen resultiere. Als ein Problem wird hingegen der mangelnde Sachverstand von klein- und mittelständischen Unternehmen im Umgang mit Gefahrenstoffen identifiziert.

Nicht deutlich wird leider der Stellenwert der in diesem Kapitel präsentierten Dimensionen des Substitutionsprozesses. Zum Teil handelt es sich um Beschreibungen historischer Substitutionsprozesse, zum Teil um Schlussfolgerungen, die aus der Analyse dieser Prozesse gezogen werden, aber auch um Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus den dem Buch zugrunde liegenden Studien.

Letztere und die bei ihnen angewandte methodische Vorgehensweise werden im Folgenden erläutert.

3     Theoretischer Ansatz

Der theoretische Ansatz besteht darin, den Substitutionsprozess als einen Innovationsprozess zu begreifen, der sich in einem „Innovationssystem“ vollzieht. Gleichzeitig wird von einem weiten Begriff der Substitution ausgegangen: „Substitution of a hazardous substance or product signifies its replacement by less a hazardous substance, product or process. In this context the scope ranges from simple substitution (i.e. exchange of substances) to risk management as a whole (i.e. prevention of hazardous substances, reduction or prevention of exposure, etc.)" (S. 22).

Dieser Ansatz erlaubt es, die Begrifflichkeiten der Innovationsforschung auf die Analyse des Substitutionsprozesses mit seiner Vielfältigkeit und der Vielzahl von Voraussetzungen anzuwenden. Insbesondere der Komplexität der Prozess- und Wertschöpfungsketten chemischer Produkte mit vielen unterschiedlichen Herstellern von Vor- und Zwischenprodukten kann damit Rechnung getragen werden. Darüber hinaus macht dieser Ansatz deutlich, dass das Gelingen eines Substitutionsprozesses nicht allein von der Einführung eines entsprechenden Gesetzes abhängt, sondern von einzelnen Personen, dem Zusammenspiel der verschiedenen Akteure, den spezifischen Eigenschaften des Produktes und den Reaktionen des Marktes: “A central concern of the 'SubChem' project was how the interaction of all actors inside and outside the supply chain can accelerate or hamper innovations."

4     Fallstudien

Das vierte Kapitel stellt den interessantesten und wichtigsten Teil des Buches dar: die Präsentation der Fallstudien, die im Rahmen der beiden Projekte erstellt wurden. An ihnen werden die unterschiedlichen Probleme deutlich, die mit der Substitution verbunden sind, und die Schwierigkeit, allgemeine Regeln für eine gelungene Substitution abzuleiten. Der Substitutionsprozess gestaltet sich je nach Charakter des betroffenen Marktes (wie z. B. Baustoffe, Textilien oder Pharmazeutika), der Anzahl und dem Grad der Einbindung der Beteiligten in die Prozess- Wertschöpfungskette sowie gemäß seiner spezifischen Vorgeschichte verschieden. Leider werden nur drei der 13 Beispiele detailliert vorgestellt. [7] Vermutlich hätte es das Buch überfrachtet, wären alle Fallstudien ausführlich diskutiert worden. Zur Diskussion und Bewertung der Fallstudien werden Hypothesen herangezogen, die zu Beginn des Projektes gewonnen wurden und die auf einer Literaturrecherche basieren. Wenngleich der theoretische und methodische Status dieser Hypothesen unklar bleibt, so weisen einige auf sehr interessante Aspekte von Substitutionsprozessen hin – so z. B. auf jene, dass Produkte, die in großen Mengen und zu niedrigen Preisen verkauft werden, schwer zu substituieren seien. Dies wiederum wird erstens damit erklärt, dass sich schon leichte Preisnachteile stark auf die Stellung im Wettbewerb auswirkten, und zweitens durch die Größe der umgesetzten Mengen das ökonomische Risiko für den Fall sehr groß sei, dass sich das Substitut als problematisch erweise. Eine zweite interessante These geht davon aus, dass sich Standardisierungen negativ auf das Innovationspotential auswirken können, weil die Standards auf die gebräuchlichen Stoffe oder Anwendungen zugeschnitten seien, die Eigenschaften der neuen Stoffe jedoch nicht berücksichtigt würden.

5     Rahmenbedingungen eines „Innovationssystems“

Im Anschluss werden im fünften Kapitel die Erfahrungen und Überlegungen aus der Problemeinführung des zweiten und aus den Fallstudien des vierten Kapitels zusammengefasst, um die Rahmenbedingungen für ein „Innovationssystem“ herauszuarbeiten, das hinter allen Substitutionsprozessen steht. Es werden „hemmende“ und „fördernde“ Bedingungen identifiziert: Hemmend wirke sich an erster Stelle die inhärente Ungewissheit über die Unbedenklichkeit des Substituts aus. Häufig sei die Einführung eines Substituts mit der Umstellung des Produktionsprozesses, der Implementierung neuer Organisationsstrukturen und mit erheblichen Investitionen verbunden. Sollte sich später das Substitut als kaum weniger schädlich erweisen als die ersetzte Substanz, wäre der ökonomische Schaden für das betreffende Unternehmen beträchtlich, wenn nicht gar fatal. Wettbewerbsbedingungen dagegen wirkten sich am stärksten fördernd aus – gefolgt von Skandalen.

6     Anwendung des Vorsorgeprinzips

Ein interessanter Aspekt der modernen, hoch technisierten Produktion wird im sechsten Kapitel aufgegriffen: die Problematik des Handelns und die Bedingungen des Nichtswissens, die, wie oben beschrieben, für jeden Innovationsprozess charakteristisch sind. Angesichts der Komplexität und Reichweite der Wirkungen chemischer Massenprodukte kann die breite Anwendung von neuen chemischen Substanzen katastrophale Folgen nach sich ziehen. Andererseits besteht Handlungsbedarf angesichts der toxischen und ökologischen Probleme, die sich aus einigen der derzeit verwendeten Chemikalien ergeben. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Konkurrenz auf dem Markt permanent zu Produktinnovationen führt, so dass jährlich über 300 neue Substanzen auf den Markt gebracht werden (S. 39). Dieses Dilemma, welchem sich nicht nur die chemische Industrie gegenübergestellt sieht, wird bei fortschreitender Industrialisierung und Technisierung noch verschärft werden. Vor diesem Hintergrund wird im sechsten Kapitel ein Vorschlag präsentiert, wie das Vorsorgeprinzip in die Praxis umgesetzt werden kann. Die Hauptbestandteile dieses Vorschlages sind:

  1. sich bei der Suche nach Substitutionsmöglichkeiten nicht auf die Substitution von Substanzen zu beschränken, wie dies vielfach getan wird,
  2. die Reichweite beim Einsatz von Chemikalien zu beschränken bzw. ihre Rückholbarkeit zu garantieren, wenn bezüglich deren Wirkung auf Mensch und Umwelt noch wenig Information vorliegen,
  3. der „inhärenten Sicherheit“ [8] als Designprinzip beim Substitutionsprozess Vorrang einzuräumen.

Das Buch wird mit Handlungsempfehlungen und einem kurzem Ausblick abgeschlossen.

7     Diskussion

Bei herkömmlichen Innovationen treibt die Gewinnerwartung bzw. der drohende Verlust von Marktanteilen die Unternehmen dazu, das Risiko einzugehen, das mit der Einführung eines jeden Substituts verbunden ist. Die Untersuchungen der Autoren deuten darauf hin, dass eben genau diese beiden Motive bzw. der ihnen zugrunde liegende wirtschaftliche Wettbewerb auch die Hauptantriebskräfte für erfolgreiche Substitutionsprozesse darstellen. Daher widmen sich die Autoren bei ihrer Analyse zunächst den politischen und ökonomischen Bedingungen, unter denen gelungene Substitutionsinnovationen stattgefunden haben. Sie unterscheiden dabei zwischen einem „Fordist mass market“, der sich durch die Dominanz der Anbieter, starkem Preiswettbewerb und langen Produktzyklen auszeichnet und einem „quality market“, der durch Nachfrageorientierung, Sättigung, hoher Dynamik, kurzen Produktzyklen und starker Markendominanz charakterisiert ist. Während der Wettbewerb in ersterem nicht geeignet ist, Substitution voranzubringen (wie am Beispiel von wasserlöslichen und toxischen Chromverbindungen in Zement veranschaulicht wird), werden in zweitem solche Substitutionsinnovationen eingeführt, selbst dann, wenn sie dem Produkt am Ende nicht anzusehen sind (wie am Beispiel der Einführung der Reinigung von Schmierstoffen mittels nichtorganischer Lösungsmittel erläutert wird). Die zugrunde liegende Ursache hierfür wird in der Nähe zum Endverbraucher gesehen. In diesem Zusammenhang wird erwähnt, dass die Marktkräfte nicht mehr greifen, wenn es möglich ist, Kosten zu externalisieren, wie dies am Beispiel der Behandlungskosten der durch Chrom IV verursachten Ekzeme verdeutlicht wird. Leider wird aber auf die besondere Rolle der marktexternen Regulierungen zum Schutz von Arbeitern, Anwohner und Verbrauchern sowie zum Schutz von freien Gütern (Luft, Wasser, Ruhe) in dem Buch nicht eingegangen. Angesichts des oben erwähnten Marktversagens wäre es interessant gewesen zu erfahren, an welcher Stelle und in welcher Form die Autoren Regulierungen als viel versprechend ansähen.

Als ein zweiter wichtiger Motor für die Einführung eines Substituts wird von den Autoren die Macht des Skandals identifiziert. Reine Absichtserklärungen werden in diesem Zusammenhang von den Autoren kritisch betrachtet.

Obwohl schon 1986 das „Substitutions-Prinzip“ auf EU-Ebene als vorrangiges Prinzip der Chemikalienpolitik proklamiert wurde, stellen die Autoren fest: „In actual fact neither such general regulations (substitution principle), nor prescribed procedures (risk assessment) nor also complex detailed regulations (Technical rules for hazardous substances, TRGS) have caused a major push towards substitution“ (S. 33).

Angesichts der politischen Bedeutung des Themas und des interessanten Ansatzes der Autoren ist es schade, dass auf formale Aspekte wie eine klare Gliederung, vollständige Literaturangaben oder eine gründliche sprachliche Überarbeitung wenig Wert gelegt wurde.

Dieses Buch liefert einen neuen Ansatz und eine Vielzahl von Ideen, bedenkenswerten Zusammenhängen und Impulsen für die notwendige Diskussion um die Entwicklung hin zu einer nachhaltigen Produktionstechnologie, die sich nicht nur auf die chemische Industrie beschränkt.

Anmerkungen

[1] Der Einsatz von „Agent Orange“ während des Vietnamkrieges (1967 bis 1971) führte zu bis in die Gegenwart reichenden Vergiftungen der Menschen und der Umwelt; siehe auch die Publikation „The Silent Spring“ von Rachel Carson (1962).

[2] FCKW steht für Chlorierte Fluor-Kohlen-Wasserstoffe.

[3] PCP steht für Polychlorierte Biphenyle.

[4] Als prominentes Beispiel sei die Substitution von Ammoniak als Kühlflüssigkeit durch FCKW genannt. Dieses im Buch diskutierte Beispiel führt gleichzeitig die Problematik des Substitutionsansatzes auf drastische Weise vor Augen.

[5] Veröffentlicht als Dokument COM (2001) 88.

[6] Das Akronym dafür lautet REACH; veröffentlicht wurde es als Dokument COM (2003) 644.

[7] Die drei Beispiele sind: Ersatz von organischen Lösungsmitteln zur Reinigung von Metallen durch wasserbasierte Reinigung, Alternative Weichmacher für Kunststoffe und bio-lösliche künstliche Mineralfasern zu Isolierungszwecken.

[8] Ein Beispiel für ein inhärentes Sicherheitsprinzip ist die elektromagnetische Aufhängung der Steuerstäbe in Kernreaktoren. Bei einem Stromausfall fallen die Stäbe „in den Reaktor“ und unterbrechen damit der Kettenreaktion.