U. Gehrlein: Nachhaltigkeitsindikatoren zur Steuerung kommunaler Entwicklung

Rezensionen

Nachhaltigkeitsindikatoren – und was dann?

U. Gehrlein: Nachhaltigkeitsindikatoren zur Steuerung kommunaler Entwicklung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004, 322 S., ISBN 3-531-14282- 8, Euro 34,90

Rezension von Jürgen Kopfmüller, ITAS

1     Gesellschaftspolitischer Hintergrund

Dem Leitbild der „nachhaltigen Entwicklung“ kommt mittlerweile weltweit in Politik und Wissenschaft eine zentrale Bedeutung bei der Beantwortung der Frage zu, wie sich die Menschheit zukünftig entwickeln soll. Damit dieses Leitbild praktische Relevanz für gesellschaftliche Prozesse und politische Entscheidungen auf supranationaler, nationaler und lokaler Ebene erlangen und handhabbar gemacht werden kann, muss es hinreichend konkretisiert werden. Einen Ausdruck findet diese Konkretisierung in Form von Indikatoren, mit denen die als relevant erachteten Sachverhalte abgebildet, gemessen und bewertet werden können. Dem entsprechend enthielt die Agenda 21, die bereits 1992 im Rahmen der UN-Konferenz in Rio de Janeiro verabschiedet wurde, die Forderung an die Staaten und Institutionen, geeignete Indikatorensysteme zu erarbeiten und anzuwenden, um damit die Informationsgrundlage für verbesserte Steuerungsprozesse in Richtung Nachhaltigkeit zu schaffen. Seither sind eine Vielzahl von Indikatorensystemen auf internationaler, nationaler und kommunaler Ebene vorgelegt worden. Solche Systeme kommen zwar zunehmend auch zur praktischen Anwendung – insbesondere im kommunalen Bereich. Ihre konkrete Nutzung als Steuerungsinstrument für politische Entscheidungen stellt jedoch bislang alles andere als den Normalfall dar.

Gehrlein richtet in dem vorliegenden Buch, das die Veröffentlichung seiner Dissertationsarbeit darstellt, den Blick auf die kommunale Ebene. Er behandelt die Fragen, wie Nachhaltigkeitsindikatorensysteme auf kommunaler Ebene beschaffen sein müssten, um den genannten Anforderungen gerecht werden zu können, welche Hemmnisse ihrem praktischen Einsatz im Verwaltungshandeln entgegenstehen und wie vor diesem Hintergrund ein praktikables und wirksames kommunales Nachhaltigkeitsmanagement aussehen müsste. Er geht dabei von der These aus, dass einem Nachhaltigkeitsindikatoren- und -zielsystem die wichtige Funktion einer Verknüpfung bzw. Integration der bislang meist unverbunden nebeneinander her laufenden Steuerungsprozesse auf politischer, administrativer und fachlicher Ebene zukommt und dass deswegen der Einsatz eines solchen Indikatorensystems eine erhöhte Effektivität und Effizienz in der kommunalen Steuerung bewirkt (S. 6).

2     Kriterien für eine idealtypische Steuerungspraxis

Im Anschluss an eine kurze Skizze des aktuellen Diskursfeldes um die Definition und Operationalisierung des Nachhaltigkeitsleitbilds werden zunächst die wesentlichen Eigenschaften, Funktionen und Aufgaben von Indikatoren beschrieben, einige existierende Nachhaltigkeitsindikatorensysteme aufgeführt und in ihren Gründzügen charakterisiert. Gehrlein geht dann kurz auf die Kernfragen der sozial- und politikwissenschaftlichen Steuerungsdebatte ein und beleuchtet vor diesem Hintergrund die drei zentralen Ebenen kommunaler Steuerung: die politische, die institutionelle und die fachliche. Eingegangen wird auf der politischen Ebene auf neuere Governance-Formen (insbesondere auf lokale Agenda 21-Prozesse). Auf der institutionellen Ebene sind es insbesondere die Kommunalverwaltung mit ihren verschiedenen Aufgaben sowie die Praxis und Debatte um erforderliche Reform- bzw. Modernisierungsmaßnahmen zur Erreichung höherer Effektivität, Effizienz und Legitimität angesichts der gesetzten Ziele zu erreichen. Auf der fachlichen Ebene wird schließlich auf umwelt- und raumbezogene Planungs- und Managementinstrumente eingegangen; hier geht es vor allem um den in den letzten Jahren vollzogenen Wandel in der Planungskultur und der dabei zu beobachtenden Tendenz hin zu systematischerer und stärkerer Beteiligung der Betroffenen, aber auch um die Potenziale neuer Managementinstrumente (wie Öko-Audit, Umweltcontrolling oder Öko-Budget) und klassischer Instrumente (wie Flächennutzungs- und Stadtentwicklungsplanung).

Angesichts der festzustellenden weitgehenden Parallelität und Unverbundenheit zwischen den drei Ebenen und zwischen der Implementation der jeweiligen Instrumente versucht Gehrlein nicht nur prozessbezogene (etwa hinsichtlich Bürgerbeteiligung), sondern auch inhaltliche Überschneidungen (hier vor allem die Orientierung an strategischen Zielen) dieser Instrumente herauszuarbeiten. Zu Recht geht er davon aus, dass für eine diesbezüglich verbesserte Abstimmung der Aufwertung und Harmonisierung des strategischen Zielsystems, das durch Indikatoren zu konkretisieren ist, entscheidende Bedeutung zukommt.

Ausgehend von den genannten Grundannahmen leitet er zunächst Kriterien für eine idealtypische kommunale Steuerungspraxis ab. Sie beziehen sich auf Dialog- und Kooperationserfordernisse sowie Beeinflussungsbeziehungen im Verhältnis zwischen Bürgern, Kommunalparlament und Verwaltung, was für Leser, denen die Literatur zu neuen Governanceformen auf der kommunalen Ebene einigermaßen vertraut ist, alleine kaum neue Erkenntnisse bringen dürfte. Der „Mehrwert“ besteht in der Betrachtung der Verknüpfung dieser Governanceformen mit einem Nachhaltigkeitsziel- und -indikatorensystem. Die Formulierung von Kriterien für einen Erfolg versprechenden Einsatz von Indikatoren in einem solchen Gefüge nimmt – gemessen daran – allerdings einen etwas versteckten Platz ein. Schließlich geht es hier um die letztlich entscheidenden Erfolgsfaktoren: Solche Indikatoren müssen tatsächlich als verbindliche Kriterien für politische Entscheidungen, in Planungsprozessen, in Controllingabläufen oder für Projekt- bzw. Investitionsentscheidungen verwendet werden.

3     Die gegenwärtige Praxis in deutschen Kommunen …

Im zweiten Teil des Buches wird die gegenwärtige Praxis in deutschen Kommunen näher betrachtet. Gehrlein beschreibt hier die Ergebnisse zweier von ihm durchgeführter standardisierter Befragungen in denjenigen 84 Kommunen, die bis zum Jahre 2002 ein Nachhaltigkeitsindikatorensystem überhaupt eingesetzt oder erprobt hatten. Dabei wurden in den Kommunen zum Teil existierende Systeme übernommen [1] , zum Teil wurden aber auch eigenständig Indikatoren entwickelt. Die Befragungsergebnisse zeigten, dass die – gemessen an der Gesamtheit aller Kommunen ohnehin höchst seltene – Indikatorennutzung weitestgehend nur zu Dokumentations-, Berichterstattungs- und Kommunikationszwecken mit dem Ziel der Bewusstseinsbildung in Verwaltung und Politik eingesetzt wurden, der Einsatz kaum jedoch mit steuerungspraktischer Intention und Relevanz erfolgte.

Teilweise durchaus erwartbar, insgesamt jedoch sehr interessant sind die Angaben zur Frage, welche Probleme und Hemmnisse in den Kommunen als Ursache hierfür gesehen werden. Gehrlein unterscheidet hier fünf Typen:

4     … und eine Konzeption zu deren Verbesserung

Im dritten und letzten Teil des Buches versucht Gehrlein Wege aufzuzeigen, wie aus dieser Diagnose Konsequenzen gezogen werden könnten. Er formuliert zunächst auf der Basis der identifizierten Probleme in der Praxis und dem daraus abgeleiteten Weiterentwicklungsbedarf Thesen zu Konzeption, Erarbeitung und Einsatz von Nachhaltigkeitsindikatorensystemen. Er nennt einige wesentliche Erfolgskriterien: die Strukturierung der Indikatoren nach Funktionen, nach kommunalen Handlungsfeldern und nach Adressaten. Weitere sind die Anbindung an Kommunalpolitik und kommunale Planungs- und Managementinstrumente sowie an die Verwaltungsstruktur, die Orientierung an kommunal vereinbarten Zielen, die Berücksichtigung angemessener Datenverfügbarkeit und -qualität sowie die Einbindung relevanter gesellschaftlicher Akteure bei der Erarbeitung des Indikatorensystems. Auf diese Weise soll die Sicherung bzw. Erhöhung der Integration in Verwaltungsstrukturen und Planungsprozesse, der Steuerungsrelevanz, der Praktikabilität und auch der Praxisrelevanz der Indikatorensysteme gewährleistet werden.

Auf der Grundlage der Ergebnisse von Interviews mit insgesamt 17 Vertretern aus wissenschaftlichen Institutionen und einigen Kommunen, die zu den untersuchten Städten gehören, charakterisiert Gehrlein seine Thesen als „kommunikativ validiert“ (S. 197). Abgesehen von der angesichts der relativ geringen Zahl der Befragten nur begrenzten Aussagefähigkeit solcher Wertungen wäre hier zumindest die – vom Autor nicht reflektierte – Frage zu stellen, wie positive Aussagen zu Thesen von Personen zu werten sind, die mit dafür verantwortlich sind, dass in den Kommunen bisher häufig zu den Thesen diametral entgegengesetzt gehandelt wurde.

Mit Blick auf die praktische Anwendungsebene versucht Gehrlein in einem weiteren Schritt, Grundzüge eines „Nachhaltigkeitscontrollings“ zu skizzieren, das selbst wiederum Bestandteil eines umfassenderen kommunalen Nachhaltigkeitsmanagementsystems sein soll. Aufgabe eines solchen Systems soll die Gestaltung eines zielorientierten instrumentellen Rahmens für eine integrierte Nachhaltigkeitspolitik auf kommunaler Ebene sein, mit dem den Erfordernissen der Informationserzeugung, der strategischen Planung, der konkreten Steuerung und der Erfolgskontrolle angemessen Rechnung getragen werden kann. Der Integration von Indikatorensystemen in das Verwaltungshandeln kommt hierfür eine zentrale Bedeutung zu.

Zu den hier zu findenden Vorschlägen hinsichtlich Aufbau, Organisation und Prozessabläufen wäre einerseits anzumerken, dass sie sich weitestgehend an existierenden klassischen, auf betriebswirtschaftlichen Kontexten basierenden Managementkonzepten orientieren. Der Autor selbst sieht den Fokus seiner Bemühungen weniger auf ein neues Instrumentarium, sondern primär auf die Nutzung und Etablierung von Anknüpfungspunkten an bereits bestehende Planungs- und Managementinstrumente gerichtet. Dies erscheint auf den ersten Blick als sinnvolles Vorgehen. Gleichwohl wäre andererseits zu fragen, inwieweit diese Instrumente, die – wie der Autor ja selbst erforscht hat – eine bislang unzulängliche Praxis kommunaler Nachhaltigkeitspolitik begünstigt oder zumindest nicht verhindert haben, bestmöglich als ein solcher Anknüpfungspunkt geeignet sein können. Hier müsste wohl noch etwas genauer hingeschaut werden. Hinzu kommt, dass ein adäquates und funktionsfähiges controllinggestütztes Managementsystem eine dem Nachhaltigkeitsleitbild angemessene Kriterienbreite und -integration sowie die systematische Erfassung der Wirksamkeit des Verwaltungshandelns der verschiedenen Ebenen und der dort stattfindenden Einflussnahme erfordert.

Angesichts der gestellten Ansprüche an das Managementsystem und der gegebenen Komplexitäten räumt Gehrlein zwar ein, dass mit Widerständen in Politik und Verwaltung, mit aus Machtfragen resultierenden Konflikten zwischen einzelnen Ressorts oder Ebenen oder etwa mit Problemen beim Umgang mit Zielkonflikten zu rechnen sei. Derlei Einwände fristen allerdings ein deutliches „Randerscheinungsdasein“ gegenüber der optimistischen Grundeinstellung des Autors zu den Potenzialen und Chancen der Einführung eines solchen Systems. Ein solcher Optimismus mag zwar – sozusagen „im Sinne der guten Sache“ – erklärbar und verständlich sein. Er sollte jedoch nicht den Blick verstellen, mit dem nach tatsächlich praktikablen und wirksamen Ansätzen zu suchen ist.

5     Fazit

Der Autor hat ohne Zweifel mit diesem Band einen detaillierten und fundierten Überblick über Anforderungen und Möglichkeiten eines indikatorengestützten Nachhaltigkeitsmanagementsystems auf kommunaler Ebene vorgelegt. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag sowohl zur Debatte über Indikatoren und Steuerungsfragen als auch zur konkreten Weiterentwicklung bestehender kommunaler Indikatorenkonzepte – etwa im Rahmen von Agenda 21-Prozessen. Gemessen an bisherigen Veröffentlichungen in diesem Themenfeld liegt der „Mehrwert“ der Arbeit vor allem in dem konkreten Versuch, ein Steuerungsinstrumentarium auf Indikatorenbasis zu konzipieren, sowie darin, dass dabei der empiriegestützten Einbeziehung praktischer Erfahrungen zu Problemen und Hemmnissen ein systematischer Stellenwert eingeräumt wird. Im Ergebnis ist hieraus sozusagen ein idealtypischer Entwurf eines Instrumentariums entstanden, das sicherlich den derzeitigen Realitäten weit vorauseilt. Dies ist keineswegs als Vorwurf zu verstehen, im Gegenteil: Ohne solche, veränderte Wege aufzeigende Arbeiten würde die Realisierung des Nachhaltigkeitsleitbilds nicht gelingen können.

Die entscheidende Frage ist jedoch, welchen Stellenwert man den oben genannten Risiken der Umsetzung des hier vorgeschlagenen Instrumentariums beimisst und wie mit ihnen umgegangen werden soll, aber auch, wie die an die Umsetzung geknüpften Voraussetzungen einzuschätzen sind. Gehrlein selbst nennt hier die Faktoren „politischer Umsetzungswille“, „öffentliches Problembewusstsein“, „Motivation und Schulung der involvierten Mitarbeiter“ sowie – wen würde es wundern? – „das Vorliegen angemessener Daten“. Sie spielen jedoch in seiner Gesamtargumentation keine oder nur eine aus der Sicht des Rezensenten unzureichende Rolle.

Es wäre wünschenswert und für die Leser sowie diejenigen, die mit den Erkenntnissen des Buchs weiter arbeiten möchten, hilfreich gewesen, wenn diese für die Praktikabilität und Wirksamkeit des Instrumentariums sicher mit entscheidenden Punkte und die damit verbundenen Fragen zumindest systematischer angesprochen und problematisiert worden wären: Wie kann überhaupt sichergestellt werden, dass sich die Akteure in Kommunalpolitik und Verwaltung entsprechend den Zielen und Logiken des Instrumentariums verhalten? Wie kann bestehenden Widerständen begegnet werden? Können hier Selbstverpflichtungen oder Vergleichbares gelingen und wenn ja. reichen solche Mechanismen aus? Wie ist mit möglichen Zielkonflikten umzugehen? Welchen Effekt hätte bereits deren systematische Offenlegung und Beschreibung? Wie kann die Suche nach daran ausgerichteten „win-win“-Lösungsansätzen gefördert und systematisiert werden? Wie kommt man überhaupt zu einem überschaubaren, konsensualen sowie praktisch und analytisch handhabbaren Indikatorensystem? Inwieweit sind eine Standardisierung eines Indikatorensystems oder die Verbindlichkeit seiner Anwendung bzw. einer entsprechenden Berichterstattung wünschenswert und möglich? Die Schwierigkeiten schließlich, die mit der Normativität jedes Indikatorensystems und der bestehenden Auswahlnotwendigkeit verbundenen sind, dürften all denen nur zu geläufig sein, die in diesem Bereich schon gearbeitet haben.

Aber wer würde – ungerechtfertigterweise – erwarten wollen, dass mit dem Erscheinen eines Buches alle wichtigen Fragen gestellt, geschweige denn beantwortet werden können? Künftige Veröffentlichungen werden sicherlich hierzu einen Beitrag leisten können. Ohne Zweifel jedoch liefert das Buch von Gehrlein eine Fülle von Anregungen und eine bislang nicht vorhandene Ausgangsbasis dafür, in Wissenschaft, Politik und Verwaltung weiter an der verbesserten Umsetzung einer praktikablen und zielorientierten (kommunalen) Nachhaltigkeitspolitik (um vielleicht den Begriff des „Managements“ zu vermeiden) zu arbeiten.

Anmerkung

[1] Erarbeitet wurden diese von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), der Deutschen Umwelthilfe und dem Institut für Sozial-Ökologische Forschung und Bildung ECOLOG.

Kontakt

Jürgen Kopfmüller
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Karlstr. 11, 76133 Karlsruhe
Tel.: +49 721 608-24570
E-Mail: juergen kopfmueller∂kit edu