Tagung: Wie funktioniert Bioethik? (Tübingen, 06.-08. Oktober 2005)

Tagungsberichte und Tagungsankündigungen

Wie funktioniert Bioethik?

Tagung des Graduiertenkollegs „Bioethik“ am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen

Tübingen, 6. - 8. Oktober 2005

Bericht von Cordula Brand, László Kovács und Michael Willam, Universität Tübingen

„Interdisziplinäre Entscheidungsfindung im Spannungsfeld von theoretischem Begründungsanspruch und praktischem Regelungsbedarf“ lautete der Untertitel dieser Veranstaltung, die das seit 2004 von der DFG geförderte Graduiertenkolleg ‚Bioethik' des Interfakultären Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen ausrichtete. Das Anliegen, der Tagung war es, „einen Beitrag zur weiteren Etablierung der Bioethik als eigenständigem Forschungsgebiet zu leisten“. Dabei standen drei Themenkomplexe im Mittelpunkt:

  1. Begründungsfragen in der anwendungsbezogenen Ethik,
  2. Interdisziplinarität als Strukturmerkmal von Bioethik und
  3. Herausforderungen für die Bioethik in verschiedenen Praxisfeldern.

1     Begründungsfragen

Was darf als fundierte Begründung für ein ethisches Urteil gelten? Kann in Anbetracht des ethischen Theorienpluralismus und kulturperspektivischer Problemlagen überhaupt noch von verbindlichen Begründungsleistungen gesprochen werden? Und wenn ja, in welchem Sinne? Diese und verwandte Fragen zur Begründungsproblematik in der Bioethik bildeten den ersten Schwerpunkt der Tagung. Sie wurden von Vertretern unterschiedlicher normativer Ansätze diskutiert, zu denen z. B. die Diskursethik, deontologische Ansätze und solche der Prinzipienethik gehörten.

Laut Ernst Tugendhat sei es nicht die Interdisziplinarität als solche, die begründungstheoretisch zu Schwierigkeiten führe, sondern die Vielfalt an ethischen Konzeptionen und ein generell uneinheitliches moralisches Bewusstsein. Diese These erläuterte Tugendhat am Beispiel von Habermas' „Zukunft der menschlichen Natur“. Andreas Vieth befürwortete in dieser Vielfalt die Prinzipien mittlerer Reichweite, die nichthierarchisch auf Pluralität geeicht seien und damit provisorisch gelten. Marcus Düwell grenzte sich vom Prinzipienpluralismus ab, der wegen der in der Regel miteinander kollidierenden Prinzipien eine Begründung unmöglich mache. Er forderte daher, Bioethik im Dissens verschiedener Ethiktheorien zu verstehen. Dietmar Mieth und Friedrich Lohmann diskutierten die Reichweite einer theologischen Begründung gegenüber philosophischen Argumenten. Mieth kritisierte die Position, religiöse Bilder nicht nur als Motiv, sondern als Beweisgrund zu verstehen. Jean-Claude Wolf stellte eine Ausweitungsmöglichkeit der Kantischen Selbstzweckformel auf nicht-menschliche Lebewesen vor. Eve Marie Engels untersuchte das Argument vom naturalistischen Fehlschluss, das häufig zum Zweck des vorzeitigen Abbruchs einer ethischen Diskussion missbraucht werde. Der Einwand dieses Fehlschlusses erweise sich jedoch nach Aufdeckung aller in Anspruch genommenen Voraussetzungen häufig als gegenstandslos. Kristian Köchy schilderte das Zusammenspiel von moralischen Vorstellungen und „harten“ Fakten, aus dem folge, dass weder naturwissenschaftliche Tatsachen noch ethische Argumentationen ohne ihren jeweiligen Kontext verstanden werden könnten.

2     Interdisziplinarität

Bioethik agiert im Spannungsfeld verschiedener Disziplinen wie auch in sich neu bildenden Kooperationsräumen von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Die im Zuge der biotechnologischen Entwicklung auftretenden Fragen sind zu komplex, als dass es genügen würde, aus theoretischen Begründungsmodellen entsprechende Konsequenzen für die Praxis zu gewinnen. Vielmehr ist eine Reflexion über die eigene Methodik, Aufgabe, Verantwortung sowie den eigenen Geltungsanspruch gefordert.

Hier gab Christine Hauskeller zu bedenken, dass eine falsche Positionierung der Bioethik dieselbe zur Akzeptanzbeschaffung diverser Interessensgruppen degradieren könne. Thomas Potthast erklärte die klassische dichotomische Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften in der bisherigen Form für nicht haltbar. Eric Hilgendorf ging auf das Verhältnis zwischen Recht und Ethik ein. Die Aufgabe der Ethiker bestehe nicht darin, eine Begründung der Gesetzte zu liefern, sondern sie kritisch zu hinterfragen. Der Zusammenhang von Technikfolgenabschätzung, Technikphilosophie und Risikobewertung wurde von Konrad Ott anhand eines diskurstheoretischen Ansatzes dargestellt. Die Aufgabe des Ethikers sei nach diesem Modell vor allem die Moderation des Diskurses.

3     Praxis

Bioethische Reflexion realisiert sich an Schnittstellen von Wissenschaft und Praxis, in Politik und Recht sowie in einer Vielfalt nicht-akademischer, lebensweltlicher Kontexte. Das Verfahren bioethischer Entscheidungsfindung wurde in sechs Workshops zu unterschiedlichen Themen bearbeitet, die jeweils durch ein Impulsreferat eingeleitet und deren Ergebnisse im Plenum vorgestellt und diskutiert wurden.

Als Beispiele dienten die genetische Beratung als Diskurs zwischen Experten und Laien (Helmut Baitsch und Gerlinde Sponholz), die Arbeit Klinischer Ethikkomitees (Matthias Kettner) und die Rolle von Tierversuchskommissionen in der biomedizinischen Forschung (Ursula Sauer). In Politik und Recht stellt sich die Notwendigkeit, bioethische Konflikte auf eine Weise zu handhaben, die eine konstruktive Umsetzung in rechtlich wirksame Regelungen ermöglicht. Aufgabe von Ethikkommissionen auf nationaler und internationaler Ebene ist es, Argumentationsgrundlagen zu entwickeln und den Weg für politische und rechtliche Entscheidungsfindungen zu bereiten.

4     Ergebnisse

In seinem Abschlussvortrag fasste Klaus Steigleder die Ergebnisse der Tagung in Form einer Reihe von Forderungen für die deutsche Bioethik zusammen: Es gelte, die Grenzen eines legitimen Pluralismus auszuloten; es bedürfe der Spezialisierung auf unterschiedlichen Ebenen sowie einer organisierten Form der Vermittlung zwischen diesen; der politische Entscheidungsdruck müsse verringert werden und nicht zuletzt bedürfe es einer Einbeziehung sozialethischer Fragestellungen.

Die Tagung gestaltete sich als ein gelungenes Forum der Präsentation und Diskussion einer Vielfalt bioethischer Themen und Positionen. Da neben den Vorträgen ausreichend Raum für Diskussionen zur Verfügung stand, bot sich den 120 Teilnehmern die Möglichkeit eines lebendigen Austauschs mit renommierten Fachleuten. So wurde die Tagung für alle Beteiligten zu einer spannenden und gewinnbringenden Veranstaltung, wie auch die Sprecherin des Graduiertenkollegs, Eve-Marie Engels, in ihrer Abschlussrede noch einmal betonte.

Literatur

Habermas, J., 2005:
Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a. M.: Suhrkamp