Reflexionen · Bericht
Technikfolgenabschätzung (TA) soll helfen, negative Effekte neuer Technologien zu minimieren, positive zu maximieren. Ihre Akteure sollen selber neutral bleiben, dabei entstehen aber normative Fragen zuhauf: Welche Effekte welcher Technologien sind für wen positiv oder negativ? Welche Argumente sind legitim, wessen Werte relevant? Wie soll TA mit solchen Fragen in Zeiten des vorgeblich Postfaktischen umgehen? Diese für die Theorie und Praxis der TA relevanten Probleme wurden auf der am 11. Juni 2018 vom Institut für Technikfolgen-Abschätzung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten Konferenz TA18 diskutiert.
In ihrer Keynote betonte Regine Kollek (Univ. Hamburg), dass TA der Normativität nicht entkommt, aber stets Anspruch auf Neutralität erhebt. Dieser Anspruch habe sich verändert: vom scientistischen und dezisionistischen Modell über die Problematisierung der TA-Arbeit bis zur heutigen pragmatischen Suche nach Alternativen unter Wahrung ethischer Aspekte. Um auf Grundlage transparenter Verfahren politikberatungsrelevantes Wissen zu erzeugen, müsse Neutralität reflexiv werden, man dürfe sie aber nicht aufgeben. In der zweiten Keynote plädierte Pierre Delvenne (Univ. Liège) hingegen für eine explizite „Politik der TA“ gegen den populistischen, wissenschaftsfeindlichen Trend. TA habe immer schon partizipative, deliberative und nachhaltige Lösungen befördert, nun seien der Neutralitätsmythos zu überdenken und die politischen Grundsätze offen zu legen. Gemäß Chantal Mouffe’s agonistischem Pluralismus solle die Politik der TA zu einer Bastion demokratischer Entscheidungsfindung werden.
Ist Normativität der TA also eingeschrieben? Aus historischer Perspektive zeigte Alexander Bogner (Univ. Innsbruck und ITA), dass erst die normativ gefärbte Problematisierung eine Unterscheidung von erwünschten und unerwünschten Technikfolgen erlaubte. Das sei allerdings nichts Neues, wie Reinhard Heil (ITAS) anhand des Streits in den 1930er-Jahren zwischen Vertretern eines szientistischen Neutralitätsgebots und solchen einer (linksgerichteten) gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaft erläuterte – ein Spannungsfeld, das sich heute in der Debatte um Responsible Research and Innovation (RRI) widerspiegele. Bogner meinte allerdings, dass es bei RRI mehr um das pragmatische Ermöglichen von Innovation gehe – die prozedurale Orientierung des Konzepts relativiere Wertfragen eher.
Kommen Normen in der TA aus allgemeinen Prinzipien oder von Stakeholdern?
Woher die Normen kommen – top-down aus allgemeinen Prinzipien oder bottom-up von Stakeholdern – sei nicht immer klar, man müsse jedenfalls davon ausgehen, dass Normen nie universell, sondern stets zu verhandeln seien (Johann Häußermann, Fraunhofer IAQ). Dabei können gerade normative Fragen zu unauflösbaren Problemen führen, etwa in der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine: Ganz gleich, ob z. B. die Entscheidungsbefugnis an Pflegeroboter abgegeben werde oder nicht entstünden stets Zumutungen für PatientInnen und Pflegende (Michael Decker, KIT). Je nach Blickwinkel schöben sich unterschiedliche Normen in den Vordergrund – Bernd Giese (BoKu, Wien) wies am Beispiel der Schädlingsbekämpfung mittels gene drive auf Wertekonflikte zwischen der globalen Forderung nach Biodiversität und dem lokalen Recht auf Gesundheit hin. Bezüglich der Akzeptanz von Robotik und Künstlicher Intelligenz berichtete Elena Seredkina (Univ. Perm) von lokalen und nationalen Divergenzen sowie von solchen zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Weltbildern.
In der TA-Praxis zeige sich Normativität u. a. in der Macht der Auftraggeber (Karen Kastenhofer, ITA): Deren Doppelrolle als Finanzier und Adressat sei verstärkt zu thematisieren, Nähe und Distanz zu Auftraggebern im Sinne eines aktiven Machtmanagements seien bewusst zu gestalten. Ebenso könnten Maschinen normativ sein, z. B. bei der Entscheidungsunterstützung auf Basis lernender Systeme in der sozialen Arbeit (Diana Schneider, FH Bielefeld). Hier sei die Übersetzung sozialer Realität in Daten und von erkannten Mustern in Handlungsoptionen besonders problematisch. Und gängige Suchmaschinen spiegelten nicht zuletzt die Californian Ideology wider, die mittels ihrer Algorithmen gesellschaftliche Probleme definiere und somit das Denken der Nutzer subtil präge (Astrid Mager, ITA).
Normative Einflussnahmen auf die Technikentwicklung seien nicht nur in der TA oft verdeckt – der Forschungsprozess selbst werde durch externe Normen in den Förderprogrammen beeinflusst, die anschließend kaum hinterfragbar seien (Karsten Weber, OTH Regensburg). Auch bei Foresightprozessen träten normative Fragen auf (Dana Wasserbauer, AIT); Petra Schaper-Rinkel (AIT) etwa problematisierte die beliebten Vergleiche des Entwicklungsstands von Zukunftstechnologien, die implizit die hegemoniale Norm der Wettbewerbsfähigkeit verstärkten. Ebenso folge Indikatorenpolitik normativen Orientierungen, wie Stefan Böschen (RWTH Aachen) erläuterte. Akteure konstruierten Probleme und Indikatoren zur Ergebnisprüfung so, dass sie ihren Interessen entsprächen. In Ökobilanzen (Mahshid Sotoudeh, ITA) seien je nach Akteur normative Urteile verborgen, die die Objektivität in Frage stellten. Aufgabe der TA sei es, Indikatoren kritisch auf Kohärenz zu untersuchen und zu analysieren, welche unterschiedlichen Werte sich darin manifestieren.
Um den Umgang mit normativen Fragen zu erleichtern wurden einige Hilfsmittel vorgestellt. Volker Stelzer (ITAS) etwa stellte ein integratives Konzept der Nachhaltigkeit vor, um Technologien im Anwendungskontext normativ zu bewerten. Zur Technikgestaltung präsentierte Clemens Mader (EMPA) eine computergestützte Methode zur normativen Nachhaltigkeitsanalyse bei Beteiligungsverfahren. Sebastian Weydner-Volkmann (Univ. Freiburg) diskutierte unter Rückgriff auf John Deweys Moralpragmatismus TA-relevante Wertungskonflikte bei technischem Sicherheitshandeln und schlug „moralische Landkarten“ vor, die Trade-offs zwischen Werten abbilden.
Normativität lässt sich aber auch als Ressource für die Diversifikation der Antizipation verstehen. Aus Sicht des Programmentwicklers forderte Claus Seibt (Transfoming Mobilities), Foresightprozesse stärker zu öffnen und auch unkonventionellen Meinungen einen Platz zu geben. Im Hinblick auf die heutige Verantwortung für künftige Generationen hinterfragte Elias Moser (Univ. Bern) zukünftige normative Anforderungen, die sich durch die jeweilige Technologie verändern und schlug vor, mögliche Entwicklungen des Werteverständnisses abzuschätzen. Christopher Coenen (ITAS) mahnte die RRI-Forderung nach sozialer Inklusion an, die auch bildungsferne Gruppen umfasse.
Normative Aspekte spielen auch in der Politikberatung zunehmend eine Rolle. Ingrid Schneider (Univ. Hamburg) konstatierte allerdings nicht nur in der Biomedizin ein Konkurrenzverhältnis zwischen Ethik und TA. Deren Rolle werde gerne als die des Honest Broker gesehen, das sei aber nicht die einzige (Anja Bauer, ITA). Je nach Rolle werde Neutralität anders interpretiert – beim Projekt NanoTrust (Gloria Rose, ITA) etwa gelte das Streben nach Neutralität als Prozessfaktor zur Gestaltung einer am Gemeinwohl orientierten Politik.
Im Abschlussplenum untersuchte Armin Grunwald noch einmal versteckte Normativitäten in der TA: Normative Bezüge seien demnach unvermeidlich und der Neutralitätsbegriff stetem Wandel unterworfen. Nicht immer sei klar, auf welche Interpretation gerade Bezug genommen wird. Auch laufe TA Gefahr, dem Zeitgeist aufzusitzen. Er schlug daher vor, TA als sozio-epistemische Praxis zwischen einem Reflexionsmotor (Antizipation, Inklusion, Komplexität) und den Aktionsfeldern Politikberatung, TA im öffentlichen Dialog und „TA in the making of“ zu verstehen. Ziel seien vernünftige Optionen statt allgemeine Lösungen. Insgesamt seien mehr Offenheit und Reflexion nötig, versinnbildlicht als TA-Spiegelkabinett, in welchem der Weg nach außen beschildert ist.
Die Präsentationen aller Vorträge finden Sie unter www.oeaw.ac.at/ita/ta18/programm.
Lesen Sie mehr zur Frage nach Normativität und TA im TATuP-THEMA des kommenden Heftes 1/2019.