Interview

Globale Umweltpolitik

Globale Nachhaltigkeit und Demokratie sind für Klaus Töpfer untrennbar miteinander verbunden. Welchen Beitrag leistet dazu die Technikfolgenabschätzung?

Prof. Dr. Klaus Töpfer

ist Ko-Vorsitzender des Nationalen Begleitgremiums für die Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe. Von 1987 bis 1994 war er Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

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TATuP Bd. 28 Nr. 2 (2019), S. 64–68, https://doi.org/10.14512/tatup.28.1.s64

Klaus Töpfer hat die deutsche und internationale Umweltpolitik über die vergangenen vier Jahrzehnte in den höchsten Ämtern mitgestaltet. Als Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (1987–1994) hat er unter anderem das weltweit erste verpflichtende Recyclingsystem eingeführt. Von 1998 bis 2006 war er Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) in Nairobi, ab 2009 Gründungsdirektor des Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam. Heute ist er Ko-Vorsitzender des Nationalen Begleitgremiums für die Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe. Ulrich Ufer (ITAS) sprach mit ihm für TATuP über das Verhältnis von globaler Nachhaltigkeit und Demokratie, über die nächsten Schritte in der Endlagersuche und über die Rolle der Technikfolgenabschätzung angesichts der Herausforderungen des Anthropozäns.

TATuP: Herr Professor Töpfer, was bedeutet für Sie Nachhaltigkeit?

Klaus Töpfer: Ganz knapp übersetzt heißt Nachhaltigkeit: Zahle die Kosten deines Wohlstands selbst – jetzt! In vielen Bereichen staatlichen und gesellschaftlichen Handelns ist dieses Prinzip nicht durchgesetzt. Wir wälzen Kosten zeitlich und räumlich ab: Unser Wohlstand wird dadurch subventioniert. Nur langsam werden wir uns der Tatsache bewusst, dass durch dieses Abwälzen, diese Externalisierung von Kosten, ein Scheinwohlstand gelebt wird. Nicht nur, aber besonders junge Menschen empören sich über dieses Verhalten, sehen zurecht darin Krisen entstehen, die von ihnen später bewältigt werden müssen. Sie stellen die Frage: „Warum werden wir das bezahlen müssen, was vorangegangene Generationen mit ihrem Lebensstil auf uns abgeladen haben?“

Sie wurden 1938 geboren. Wie haben Sie die seither stetig zunehmende Ausweitung nicht-nachhaltiger Lebensstile persönlich wahrgenommen?

Nachhaltigkeit heißt: Zahle die Kosten deines Wohlstands selbst – jetzt!

Wie immer laufen solche Veränderungen als Prozesse ab – nicht als leuchtturmartige Einzelerscheinungen. Sicherlich: Die Nachkriegsjahre in Deutschland stellten dramatische Herausforderungen und erforderten ein wirtschaftliches Wachstumsprogramm, um ein physisch und geistig zerstörtes Land wieder aufzubauen und viele Menschen – darunter etwa 12 Mio. Flüchtlinge – zusätzlich zu behausen, zu ernähren, ihnen Arbeitsplätze und Perspektiven zu geben. Als Flüchtling aus Schlesien musste ich mit meiner Familie erfahren, was es heißt, die gesamte Lebensplanung neu denken zu müssen. Den Zweiten Weltkrieg hatten wir als die unfassbare Katastrophe eines unmenschlichen Nationalsozialismus erleben und erdulden müssen. Wir wurden angetrieben von der Verpflichtung, alles zu tun, um Krieg in der Zukunft zu vermeiden, den Menschen Zukunft wieder friedlich denkbar zu machen. Diese Motivation hat gesellschaftliche Veränderungen des Lebens vorangetrieben – kurzfristige Erfolge waren das Gebot der Stunde. Fragen wurden nicht gestellt, ob wir mit diesem Aufbauprozess Wohlstandsspielräume möglich machten auch dadurch, dass wir Kosten auf die Zukunft abwälzten. Nur zögerlich und zunächst unbewusst, später auch bewusster, sind diese Fragen gestellt, kaum aber beantwortet worden. „Nachhaltigkeit“ war keine Entscheidungsmaxime.

Wie ist Ihnen die globale Dimension von Nachhaltigkeit in Ihrem umweltpolitischen Wirken bewusst geworden?

Als Minister für Umwelt und Gesundheit in Rheinland-Pfalz (1985–1987) hatte ich ein unvergessliches Gespräch mit Paul Crutzen, Direktor des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz. Geradezu gebieterisch verlangte er, dass wirksame Maßnahmen gegen das Ozonloch schnellstmöglich ergriffen werden müssen. Dass Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) die Ozonschicht zerstören, war damals noch lange nicht wissenschaftlich anerkannt. Erst 1995 haben Crutzen, Molina und Rowland für diese Erkenntnis den Nobelpreis erhalten. Die FCKW-Problematik machte klar: Die negativen Auswirkungen der FCKW-Emission erleiden hauptsächlich jene, die nie den Nutzen davon hatten. Diese Konsequenzen treten in den Regionen auf, die weit entfernt von den verursachenden Quellen liegen – also abgewälzte, externalisierte Kosten.

1987 wurden Sie dann Bundesumweltminister und 1992 fand in Rio de Janeiro die UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung statt. Welche Perspektiven boten sich nun für eine globale Umweltpolitik?

In dieser Zeit herrschte eine geradezu euphorische Stimmung: Die Mauer war gefallen. Der real existierende Sozialismus ging in einer friedlichen Revolution unter. Meine Generation war fest davon überzeugt, dass nunmehr globale, friedliche Zusammenarbeit zur Bewältigung der Umweltprobleme, zur Beendigung des Abwälzens von Kosten erreicht war.

Mit dieser Euphorie sind wir 1992 nach Rio de Janeiro gefahren mit dem Ziel, diese globale Umwelt- und Entwicklungspolitik zu entwerfen und gemeinsam zu realisieren. Die Erfahrungen auf der Rio-Konferenz einerseits und meine vielen vorbereitenden politischen Reisen durch die Welt haben mich dann sehr nachdenklich gemacht: Kam ich in den Norden dieser Welt, in die sogenannten hochentwickelten Länder, dann war mit Bezug auf die Rio-Konferenz immer die Rede von der UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung. Im globalen Süden hingegen, also im wirtschaftlichen Entwicklungsgürtel der Welt, war die Priorisierung umgekehrt. In diesen Ländern handelte es sich um die UNO-Konferenz über Entwicklung und Umwelt. Wirtschaftliche Entwicklung war für den Süden die prioritäre Herausforderung. Für mich war das ein unüberhörbarer Weckruf, erinnerte mich an die Erfahrungen der Nachkriegszeit in Europa. Es wurde sehr deutlich: Die gravierenden Umweltprobleme entstehen im Norden dieser Welt. Folglich müssen sie dort politisch adressiert und strategisch konsequent überwunden werden. Statt in Nairobi in Kenia wäre das Umweltprogramm der Vereinten Nationen viel besser in der entwickelten Welt angesiedelt worden, das Entwicklungsprogramm UNDP hingegen in Kenia, in Afrika.

Aber auch nach mehreren Jahrzehnten der Bewusstwerdung von Umweltproblemen und angesichts eines gebotenen Handlungsdrucks tun sich Regierungen im globalen Norden weiterhin schwer, in nicht-nachhaltige Aspekte des freien Marktes einzugreifen.

Bereits über viele Jahre fordere ich eine ökologische und soziale Marktwirtschaft. Diese kommt aber nicht von alleine wie Manna vom Himmel, sie kommt auch nicht als Ergebnis von Marktentscheidungen. Sie macht Entscheidungen einer offenen, parlamentarischen Demokratie erforderlich, muss ordnungsrechtliche Rahmen setzen. Innerhalb dieser Rahmensetzung bieten Märkte die besten Entscheidungsbedingungen. Die Beispiele dafür reichen von Rahmensetzungen für Arbeitszeiten und Entlohnungssysteme, die von starken Gewerkschaften erstritten und erstreikt werden, bis hin zu Düngemittelverordnungen. Dies gilt in besonderer Weise auch für die Energiebesteuerung, die bisher klimablind, zum Teil sogar klima-kontraproduktiv, ist.

Für mehr Nachhaltigkeit brauchen wir mehr staatlich gesetzte und dann auch kontrollierte Rahmenbedingungen.

Ich bin und bleibe der Überzeugung, dass es staatliche Verpflichtung ist und bleibt, ordnungspolitisch klare Rahmen zu setzen und deren Einhaltung ohne Wenn und Aber zu gewährleisten. Nachhaltigkeit bedarf staatlich gesetzter und dann auch kontrollierter und sanktionsbewehrter Rahmenbedingungen.

Zugleich argumentieren Unternehmen häufig, dass ihre nicht-nachhaltigen Produkte den individuellen Verbrauchervorlieben entsprechen, auf die sie in einem globalen Wettbewerb eingehen müssen.

Nicht-nachhaltige Entwicklungen entfalten stets die Dynamik, sich selbst weiter zu verstärken. Der Hinweis auf die „Verbrauchervorlieben“ ist sehr oft Ergebnis von eingeübten Gewohnheiten einerseits und werblicher Beeinflussung andererseits. Ein Beispiel: Die Mobilitätsinfrastruktur ist eindeutig auf das individuell genutzte Auto hin gebaut worden – gewaltige Investitionen in Straßen, die wiederum die steigende Zahl der Autos vornehmlich in Stoßzeiten nicht bewältigen können. Die Vorliebe für individuelle motorisierte Mobilität wird durch die entsprechende Infrastruktur weiter möglich.

Eine „Mobilitätswende“ ist vor diesem Hintergrund stets mit sozialen Konsequenzen verbunden. Ökonomisch wird argumentiert: Erst wenn möglichst alle weltweit eine solche Wende in Angriff nehmen, kann man selbst nachhaltig handeln, sonst geht die Wettbewerbsfähigkeit verloren.

Viele Beispiele zeigen, dass der „Vorreiter“, der den Wandel frühzeitig erkennt und realisiert, daraus große wirtschaftliche Chancen gewinnt. Der Strukturwandel des Einzelhandels hin zu großen Handelsketten mit Selbstbedienung bedingt die Zunahme von Verpackung, von Plastik. Verpackungsmüll und Struktur des Einzelhandels bedingen sich wechselseitig.

Mit der weltweit ersten Verpackungsgesetzgebung hatten wir in der Bundesregierung 1991 beschlossen, dass prinzipiell jeder, der Verpackungen in Verkehr bringt, dafür zahlen muss. Und das hat dann mit der Abfallwirtschaft – verbunden mit Recycling, verbunden mit Sekundärrohstoffen, mit vom Abfall her gedachten Veränderungen von Verpackungen – große wirtschaftliche Chancen entstehen lassen, die marktwirtschaftlich massiv genutzt wurden. Der zentrale Punkt der Gesetzgebung war aber nicht die Maximierung des Recyclings, sondern die Verminderung der Verpackung. Von dieser Zielsetzung sind wir in der Umsetzung noch weit entfernt.

Für welche aufkommenden Technologien würden Sie sich eine Technikfolgenabschätzung wünschen?

Im Rahmen der Mobilitätswende wird zunehmend diskutiert, Flugtaxis und Drohnen zu nutzen. Diese Erschließung einer neuen Mobilitätsebene macht zwingend eine intensive Technologiefolgeabschätzung erforderlich. Das ist keineswegs ein Schlechtreden deutschen Erfindergeistes, wie der Bundesverkehrsminister [Andreas Scheuer, d. R.] meint. Eine Einführung dieser Technologien macht intensive Analysen der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen zwingend erforderlich. Erst die Technik einsetzen und dann über Konsequenzen nachdenken, halte ich nicht für verantwortbar.

Insgesamt halte ich fest: Die Dekodierung der Bausteine von Natur und Leben macht immer tiefergehende Eingriffe des Menschen etwa im Bereich Geo-Engineering und Climate-Engineering möglich, bei der künstlichen Intelligenz ebenso wie bei der Gentechnik. Der Mensch dechiffriert Natur und Leben so umfassend, dass daraus die Pflicht resultiert, die gesellschaftlichen und sozialen Konsequenzen konzentriert herauszuarbeiten.

Also unterstützen Sie das zentrale Anliegen der Technikfolgenabschätzung, das nach Armin Grunwald darin liegt, „das Zusammenspiel von Technik und Gesellschaft zu Ende zu denken?“

Nochmals: Ich habe hohen Respekt vor und hohe Erwartungen an das Nachdenken über Technologien – ein Nachdenken, Analysieren und Forschen bevor die Probleme bereits soweit ausgefächert sind, dass ihre Korrektur kaum noch in den Griff zu bekommen ist.

In seiner Enzyklika „Laudato Si“ stellt Papst Franziskus die besorgte Frage, ob der Mensch die Technik beherrscht oder die Technik den Menschen. Er bezeichnet dies als technologisches Paradigma. Technikfolgenabschätzung muss damit verbunden sein, dass Technologieentwicklungen permanent verfolgt werden. Da menschliches Entscheiden stets Entscheiden bei unvollkommenen Informationen ist, ist Wissenschaft verpflichtet, auf die Falsifizierung vorhandenen Wissens hin zu forschen.

Sie sehen also die Herausforderung an Wissenschaft nicht im Verifizieren, sondern im Falsifizieren?

Der kritische Rationalismus, der für mich mit Karl Popper und Hans Albert verbunden ist, hat meine universitäre Ausbildung geprägt: Falsifizierung ist das Ziel von Wissenschaft, Verifizierung ist stets in der Gefahr, nur die bestätigenden Fakten und Beispiele zu erkennen. Apodiktische Aussagen der Wissenschaft sind daher stets mit Bezug auf das aktuelle Wissen zu kennzeichnen.

Paul Crutzen beendet seinen bahnbrechenden Beitrag „Geology of mankind“ in der Zeitschrift Nature in Bezug auf Geo-Engineering und Climate-Engineering mit dem Satz: „There we are on terra incognita.“ Es ist meine Erwartung an Technikfolgenabschätzung, dieses „terra incognita“ vor der Nutzung der genannten Eingriffe in die Natur zu kartieren.

Darum halte ich das Anliegen der Technikfolgenabschätzung, das unbekannte Land zu erkunden, für eine der nobelsten und unersetzlichsten Aufgaben von Wissenschaft.

Sehen Sie Regelungen für mehr Nachhaltigkeit im Konflikt mit den modernen Paradigmen von technischer Innovation und Wachstum?

Das Anliegen der Technikfolgenabschätzung, unbekanntes Land zu erkunden, ist eine der nobelsten und unersetzlichsten Aufgaben von Wissenschaft.

Ich kämpfe ja nicht gegen Wachstum schlechthin, sondern gegen lineares Denken und Entscheiden. Wachstum ist ein natürlicher, systemischer Prozess. Daher müssen wachstumsbezogene Fragestellungen und Entscheidungen anhand der Konsequenzen im System durchdacht werden. Jahr für Jahr wächst die Natur. Sie wächst im Kreislauf – Kreislaufwirtschaft qualifiziert Wachstum. Wissenschaftliche Erkenntnisse über diese Wachstumsprozesse erhöhen die Produktivität, können negative Wachstumsprozesse vermeiden. Seit meiner Geburt ist die Weltbevölkerung von rund 2,5 Milliarden auf mehr als 7,5 Milliarden Menschen angewachsen! Es war Paul Crutzen, der in dem o. g. Aufsatz darauf hinweist, dass wir nicht mehr im Naturzeitalter Holozän, sondern im Menschenzeitalter Anthropozän leben. Die Menschheit ist eine quasi geologische Kraft geworden, ist ihrem Naturbezug entwachsen. Es stellt sich die Frage: Gibt es noch die „natürliche Natur“, oder leben wir bereits in einer „hybriden Natur“? Damit stellen sich gänzlich neue Verantwortlichkeiten für den Menschen.

Wachsen wir nur noch dadurch, dass wir die negativen Konsequenzen vorangegangenen Wachstums wieder beseitigen?

Wir wissen, dass die jetzt genutzten Handlungsstrategien in hoher Wahrscheinlichkeit wieder unerwartete Fehlentwicklungen aufzeigen werden, die von kommenden Generationen zwingend und alternativlos aufgearbeitet werden müssen. Die zunehmend intensivere Diskussion über Climate-Engineering ist eine Antwort auf das Misstrauen der Menschen, dass man mit den vorhandenen Instrumenten den CO2-Ausstoß nicht schnell genug reduzieren kann. Es wird erneut sehr deutlich: Technologiefolgenabschätzungen sind mehr denn je erforderlich. Die Möglichkeit lernender Verfahren ist mehr denn je zwingend geboten, „Große“ Transformationen müssen kleinteilig gedacht und damit flexibilisiert werden können.

Welche konkreten Beiträge der Technikfolgenabschätzung erfahren Sie als Ko-Vorsitzender des nationalen Begleitgremiums für die Entsorgung hochradioaktiver Abfallstoffe?

Zunächst: Die immensen finanziellen, vor allem aber auch die gesellschaftlichen Kosten der sicheren Lagerung von Nuklearabfällen aller Art sind vielen in Politik und Gesellschaft erst sehr spät bewusst geworden. Vor allem: In der Vergangenheit ist außerordentlich viel Vertrauen in politische Entscheidungsprozesse einerseits und wissenschaftliche Ergebnisse andererseits verloren gegangen. „Gorleben“ ist das Kennwort dafür geworden. Nach der Katastrophe in Fukushima hat die Ethikkommission eine politisch und gesellschaftlich breit fundierte Entscheidung gefunden: Die Nutzung der Kernenergie wird bis 2022 beendet.

Diese Entscheidung war die Voraussetzung dafür, dass parteienübergreifend ein neues Bundesgesetz zur Bewältigung der Endlagerung im Deutschen Bundestag erarbeitet und verabschiedet wurde. Technikfolgenabschätzungen werden bei der Umsetzung allein deswegen zwingend erforderlich, um Transparenz über die zugrundeliegenden Kenntnisse der Geologie, der Wirtsformationen und vieles mehr den Bürgern und Bürgerinnen frühzeitig deutlich zu machen und diese von allem Anfang an in die Entscheidungsfindung einzubinden.

Was werden die nächsten Schritte des Begleitgremiums sein?

Das Nationale Begleitgremium zur Entsorgung hochradioaktiver Abfallstoffe (NBG) ist eine gänzlich neue institutionelle Qualität in einem deutschen Genehmigungsverfahren. In diesem Gremium sind Bürger und Bürgerinnen Mitglieder, die aus der Mitte der Gesellschaft in dieses für sie neue Aufgabenfeld gleichberechtigt eingebunden sind. So wird ein lernendes und selbst hinterfragendes Verfahren möglich, das schrittweise Glaubwürdigkeit verlässlich aufbaut. So muss sich das NBG mit den bestehenden Zwischenlagern ebenso beschäftigen wie mit der Zugänglichkeit geologischer Daten und der Gewährleistung von Transformation und Information von allem Anfang an.

Welche Lehren lassen sich rückblickend aus den großen Herausforderungen ziehen, vor die die Gesellschaft durch die Kerntechnologie und die Endlagersuche gestellt wurde?

Der große Philosoph Ernst Bloch hat einmal darauf hingewiesen, dass nur dasjenige Erinnern fruchtbar ist, welches daran erinnert, was noch zu tun ist. Diese Herausforderung zwingt uns alle zur ehrlichen Bestandsaufnahme, welches Verhalten Vertrauen infrage gestellt hat und damit Entscheidungsfindungen schwer belastet hat. Dies geht bis zu der Rückfrage, inwieweit eine technologische Entwicklung globalisierungsfähige Beiträge liefert, wie weit diese Technologie demokratiefähig ist und flexibel regional unterschiedlichen und sich ändernden Rahmenbedingungen angepasst werden kann. Der Vergleich von Kernenergie einerseits und erneuerbaren Energien andererseits führt zu gänzlich unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen.

Nun gibt es aber durchaus Stimmen, die gerade hinsichtlich der Durchsetzung einer nachhaltigen Entwicklung Defizite in der Demokratie gegenüber anderen politischen Systemen mit kürzeren Entscheidungswegen ausmachen.

Eine offene, parlamentarische Demokratie ist, wie es Herfried Münkler im Jahre 2011 in seinem SPIEGEL-Artikel „Über das absehbare Ende der parlamentarischen Demokratie“ herausgebildet hat, an drei Voraussetzungen gebunden: Erstens muss zwischen Alternativen entschieden werden können; zweitens muss das politische Entscheidungsgremium, das Parlament, den Zeitablauf der Entscheidungen bestimmen können; und drittens muss der breiten Öffentlichkeit ein Mitdenken und Mitdiskutieren über die Alternativen möglich sein.

Die immensen finanziellen, aber auch gesellschaftlichen Kosten der Atommülllagerung sind vielen erst sehr spät bewusst geworden.

Das Unwort des Jahres 2010 war „Alternativlos“. In Kenntnis der genannten drei Kriterien ein Beleg für den Untertitel des genannten Münkler-Aufsatzes.

Das vermeintliche Defizit einer parlamentarischen Demokratie mit dem Hinweis auf die „kürzeren“ Entscheidungswege alternativer Systeme erweist sich in Kenntnis der weitreichenden Konsequenzen aktueller Entscheidungen durchaus als Vorteil. Nicht die Zeitvorgabe darf den Entscheidungsablauf dominieren, sondern die intensive Verfahrensführung muss die Zeit bestimmen. Ein „Diktat der Kurzfristigkeit“ ist ebenso eine Absage an ernsthafte Technologiefolgenabschätzungen als auch eine Absage an parlamentarische Demokratie. Eine Reduzierung demokratischer Entscheidungsfindung und Entscheidungsvorbereitung kann Glaubwürdigkeit und Vertrauen nicht begründen, sondern wird diese reduzieren. Groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die demokratischen Institutionen in ihrer Entscheidungskompetenz leerlaufen. Zygmunt Bauman analysierte: „Macht verlässt die Politik“. Paul Crutzen sieht im Anthropozän die Lösungskompetenz von Problemen als „daunting tasks for scientists and engineers“. Er erwartet ein „Appropriate Behavior“: Massive Konsequenzen für eine offene, parlamentarische Demokratie!

Wie müssten dann eine offene, parlamentarische Demokratie und globale Umweltpolitik im Anthropozän gestaltet werden?

Globale Umweltpolitik ist als Integration von sozialer Verantwortung, ökonomischer Stabilität und ökologischer Zukunftsfähigkeit zu denken und umzusetzen. „Nachhaltigkeit“ ist nicht allein angewandte Umweltpolitik, sie ist ein gesellschaftliches Ordnungssystem. Besonders die soziale Komponente wird zu oft ausgeblendet. Lokal und global leiden die Ärmsten der Armen besonders unter dem gestörten Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Verstärkt wird diese Schieflage dadurch, dass wir aktuell eine massive Krise der Multilateralität erleben – in einer Zeit, in der die großen Menschheitsaufgaben nur in globaler Zusammenarbeit bewältigt werden können. Durch die rasanten Fortschritte der Informations- und Kommunikationstechnik wird das „Diktat der Kurzfristigkeit“ zur nahezu unhinterfragten Entscheidungsmaxime. Wer hätte je gedacht, dass der Präsident der USA über Twitter regiert? Nochmals: In einer Zeit, in der immer tiefere Eingriffe des Menschen in Natur und Umwelt den Druck auf multilaterales Handeln mehr denn je notwendig machen.

Wie kann erreicht werden, dass heutige Entscheidungen nicht zu Alternativlosigkeiten in der Zukunft werden?

Die Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe, die wir kurz erörtert haben, zeigt mir klar, dass die Konsequenzen unseres aktuellen Handelns nicht den Diskussions- und Verhandlungsmöglichkeiten in der Zukunft entgegenstehen dürfen. Wir müssen immer wieder Spielräume für Lernen, Hinterfragen, Verändern und Neugestalten eröffnen.

Sind Bewegungen wie Fridays for Future in diesem Sinne wichtig, um Demokratie und Nachhaltigkeit zu fördern?

Es ist unstrittig richtig, dass junge Menschen für ihre Zukunft auf die Straße gehen – dass sie ein Handeln gebieterisch einfordern, damit nicht sie später die negativen Konsequenzen zu erleiden und zu bewältigen haben. Nach acht Jahren in Afrika, in Nairobi, als Leiter des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) mache ich mir darüber hinaus Gedanken darüber, wie ein Friday for Future von der Jugend in Afrika, in den dortigen Slums, in der Perspektivlosigkeit für Arbeitsplätze in einer jungen, auf über zwei Mrd. Menschen anwachsenden Bevölkerung sachlich aufgefüllt ist. Wie verbinden wir die zwingend erforderliche wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern mit den globalen Bedingungen eines erfolgreichen Kampfes gegen den Klimawandel? Diese globale Dimension unseres Handelns muss gebieterisch in unsere Lösungswege eingebunden sein.