Reflexionen · BERICHT

Integrierte Technikentwicklung

Herausforderungen, Umsetzungsweisen und Zukunftsimpulse

Céline Gressel, Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), Universität Tübingen, Wilhelmstraße 19, 72074 Tübingen (celine.gressel@izew.uni-tuebingen.de)

Alexander Orlowski, IZEW, Universität Tübingen (alexander.orlowski@izew.uni-tuebingen.de)

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TATuP Bd. 28 Nr. 2 (2019), S. 71–72, https://doi.org/10.14512/tatup.28.2.s71

Kann die Integration ethischer, rechtlicher, sozialer und ökonomischer Aspekte in die Technikentwicklung gelingen? Und wie? Diese Fragen erforschte von 2016 bis 2019 das interdisziplinäre BMBF-Verbundprojekt INTEGRAM. Die Projektergebnisse – Praxiskonzepte für die integrierte Technikentwicklung – wurden auf dem Abschlussworkshop des Projekts am 31. Januar 2019 in Tübingen vorgestellt. 45 Vertreter*innen aus den wissenschaftlichen Bereichen Ethik, Recht, Sozialwissenschaften, Ökonomie (im Folgenden kurz ELSE für Ethical, Legal, Social and Economic) und Technikentwicklung sowie von Wohlfahrtsorganisationen, der Medizin und Unternehmen diskutierten auf Basis ihrer Projekterfahrung Möglichkeiten und Grenzen der interdisziplinären Zusammenarbeit. Der Abschlussworkshop gliederte sich in drei Teile: erstens, grundlegende methodologische und strukturelle Herausforderungen identifizieren; zweitens, Vorstellung der im Projekt INTEGRAM entwickelten Umsetzungsmöglichkeiten; sowie drittens, Zukunftsimpulse für die Weiterentwicklung geben.

Grundlegende Herausforderungen

Nach einem Grußwort der Projektleiterin Regina Ammicht Quinn (IZEW) präsentierte Mone Spindler (IZEW) grundlegende Herausforderungen der Integration von ELSE-Aspekten in Technikentwicklungsprojekte. Dabei identifizierte sie vielschichtige praktische, methodologische und strukturelle Schwierigkeiten: So sei es zwar mittlerweile üblich, dass ELSE-Partner*innen in Technikentwicklungsprojekten vertreten sind, jedoch böte die Arbeitsplanung der Projekte bisher kaum praktische Möglichkeiten für die Zusammenarbeit. Zur Realisierung integrierter Forschung müsse ein Arbeitsplan vorhanden sein, der den Einbezug von ELSE-Aspekten kontinuierlich, von Projektbeginn an und über alle Arbeitspakete hinweg, berücksichtige. Dabei stelle sich jedoch das bekannte Collingridge-Dilemma: Relevante ELSE-Aspekte müssen zu Projektbeginn erst erforscht werden, bevor sie integriert werden können. Antizipation von Technikentwicklung sei jedoch zwingend vage, und dementsprechend seien auch die aus ihr entstehenden Folgen nicht eindeutig.

Eine weitere Schwierigkeit teile die integrierte Technikentwicklung mit anderen Integrationskonzepten: Sie changiere zwischen der Überwindung und Festschreibung von disziplinären Differenzen. Verstärkt werde dieser Aspekt dadurch, dass „Integration“ ein unklares Qualitätskriterium sei, das fachspezifischen Gütekriterien nicht selten entgegenstünde, wenn beispielsweise die in der Soziologie postulierte Werturteilsfreiheit zugunsten der Integration ethischer Aspekte aufgegeben werden muss. Nicht zuletzt sei die nachhaltige Nutzung der Ergebnisse aufwendiger Integrationsarbeiten eine große Herausforderung, da ihre längerfristige Verwertung durch die befristete Projektförderung begrenzt werde.

Diese Art struktureller Dilemmata ließe sich nicht durch die Projektverbünde selbst beheben. Methodologische und arbeitspraktische Probleme wie die interdisziplinäre Erarbeitung von Projektthemen und Arbeitsplänen, ließen sich dagegen angehen. Mit der Entwicklung von Lösungswegen für diese Herausforderungen befassten sich die Mitarbeitenden des Projekts INTEGRAM und veröffentlichen diese in ihrem „Handbuch Integrierte Technikentwicklung“.

Umsetzungsmöglichkeiten für integrierte Technikentwicklung

Im zweiten Teil des Workshops stellten Nils Heyen (Fraunhofer ISI) in einem Vortag die Struktur des Handbuchs und Céline Gressel (IZEW) sowie Alexander Orlowski (IZEW) mittels Postersession ausgewählte Inhalte der Kapitel vor. Das Handbuch bietet konkrete Vorschläge, wie Technikentwicklungsprojekte bedarfsgerecht, ressourcenorientiert und mit realistisch kalkuliertem sowie effektiv genutztem Arbeitsaufwand beantragt, geplant und umgesetzt werden können. Konzipiert wird die integrierte Technikentwicklung dabei als selbstreflexiver Prozess und als Querschnittsaufgabe des gesamten Teams. Die interdisziplinären Beiträge werden in sechs inhaltliche Bereiche gegliedert, die sich an den ermittelten Problemfeldern orientieren: 1. Das Thema der Technikentwicklung mit Blick auf ELSE-Aspekte entwerfen; 2. ELSE-Partner*innen in das Projekt einbeziehen; 3. Eine integrative Arbeitsplanung erstellen; 4. Ziele der Integration definieren; 5. Wiederholte Integrationsimpulse setzen; 6. Integration evaluieren.

Impulse zur Weiterentwicklung integrierter Technikentwicklung

Im dritten Teil des Workshops entwarf die heterogene und bisher kaum vernetzte Community der Workshop-Teilnehmenden in einem von Wulf Loh (IZEW) organisierten „Slam der Utopien“ Zukunftsimpulse für die integrierte Technikentwicklung. Die Teilnehmenden diskutierten in vier Fokusgruppen mit dem Ziel, kreative und gewagte Ideen outside the box zu sammeln. Das Ergebnis ist explizit nicht ein von allen Teilnehmenden getragener Forderungskatalog, sondern eine Darstellung möglicher Gestaltungsräume.

Statt befristeter, stark vordefinierter Projekte braucht es experimentelle Räume, in denen neue Formate der Co-Forschung entwickelt und erprobt werden können.

In allen Fokusgruppen wurden schwierige Förderbedingungen als zentraler hemmender Punkt für die interdisziplinäre Zusammenarbeit identifiziert. Nur mit ausreichenden Ressourcen sei gute integrierte Forschung realisierbar. Darunter zählten neben finanziellen Mitteln auch erhöhte Bedarfe an Weiterbildung, Kommunikation und Arbeitszeit. Außerdem wurde übereinstimmend die Forderung nach höherer Flexibilität und Offenheit der Förderziele laut. Folglich unterstütze u. a. eine Verlängerung der Projektlaufzeiten, innerhalb derer es möglich ist, Projektziele nachzujustieren, eine erfolgreiche Zusammenarbeit. So könnten auch Anwendungskontexte und -prozesse systematisch miterforscht und Ergebnisse, die von den ursprünglichen Projekterwartungen abweichen, akzeptiert und gewürdigt werden. Wenn eine Verlängerung der Laufzeiten nicht möglich sei, könnten kurze Vorprojekte Themen aus interdisziplinärer Perspektive entwickeln und so eine Basis für die integrierte Forschung bilden. Um dies zu realisieren, aber auch um die Zusammenarbeit in klassischen Projekten zu verbessern, bedürfe es Strategien, die die frühzeitige interdisziplinäre Kooperation erleichtern, z. B. Vernetzungstreffen schon vor Beginn der Antragsphase. Auch benötigten Antragstellende mehr Hilfe bei der Suche nach geeigneten Projektpartner*innen.

Gleichzeitig sei es wichtig, sich nicht auf integrierte Technikentwicklung als Goldstandard für die Entwicklung von Innovationen zu versteifen, sondern für Experimente mit anderen Arten der Co-Produktion von Wissen offen zu sein. Als Beispiel hierfür wurde die Quartierforschung genannt.

Kommunikation intensivieren, Vernetzung verbessern

Kommunikation braucht entsprechende Räume und Förderung. Um die Kommunikation in Teams zu stärken, könnten Team-Building-Maßnahmen als förderfähige Aktivität eingestuft werden. Auch der projektübergreifende Austausch in regelmäßig stattfindenden Formaten müsse ausgebaut werden, z. B. Kongresse oder Workshops. Elementar für eine funktionierende Kommunikation sei ein wechselseitiges Verständnis füreinander. Ebenso könnten Fachkongresse einen guten Einblick in die jeweiligen Disziplinen bieten. Wenn diese sich durch zusätzliche Sessions mit interdisziplinärem Fokus erweiterten, treibe das die Vernetzung voran. Darüber hinaus solle auch der Austausch auf internationaler Ebene gestärkt werden.

Bestehende Strukturen weiterentwickeln

Analog müsse ein Strukturwandel in den Wissenschaften vollzogen werden. Diesem stünden jedoch durch Fächerkategorien geschaffene Differenzen im Weg. Deshalb müssten die bestehenden Grenzen und Hierarchien zwischen Disziplinen und universitären Statusgruppen hinterfragt und aufgebrochen werden. Dadurch würden auch Forschungsprojekte denkbar, in denen nicht Techniker*innen, sondern ELSA-Partner*innen den Lead hätten.

Um interdisziplinäres Denken von Anfang an zu fördern, lohne sich auch der Ausbau von interdisziplinären Konzepten der Lehre. Deshalb müssten gut vernetzte interdisziplinäre Studiengänge entwickelt werden. Ideal wäre, wenn sich Studierende nach einem disziplinären Bachelor im Master entweder für eine weitere Vertiefung innerhalb der Disziplin oder eine interdisziplinäre Ausbildung entscheiden könnten.

Die interdisziplinäre Forschung könne weiterhin durch die Gründung „transformativer“ Institute, die nicht an den tradierten Grenzen zwischen Disziplinen und Fakultäten orientiert sind, gestärkt werden. Um Publikationen und Diskussionen zum Thema dauerhaft sichtbar zu machen, bedürfe es Fachjournals für integrierte Technikentwicklung. In so weiterentwickelten Forschungsstrukturen sei dann Platz für evaluative Forschung über integrierte Technikentwicklung. Diese könne fragen, wann die Idee, dass technische Innovationen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen sollen, an ihre Grenzen kommt. Auch qualitative Feldstudien, die erforschen, wie integrierte Technikentwicklung in den geförderten Projekten im Projektalltag umgesetzt wird, seien in diesem Kontext denkbar.

Diese Ergebnisse sollen als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen über die Zukunft der integrierten Technikentwicklung dienen. Wir danken den Teilnehmenden für ihre vielfältigen und anregenden Beiträge zum Slam der Utopien, die wir hier nur stark gekürzt wiedergeben konnten.

Informationen

Projekt INTEGRAM:   www.uni-tuebingen.de/de/76108

Publikation:   Spindler et al. (im Erscheinen): Handbuch integrierte Technikentwicklung. Wiesbaden: Springer VS [Open-Access].

Dokumentation:   Slam der Utopien: www.uni-tuebingen.de/de/153333

Netzwerk Integrierte Forschung:   www.integrierte-forschung.net