Reflexionen: Tagungsbericht

Technikfolgenabschätzung in Polen

1. Polnischer TA-Kongress, Kamień bei Rybnik, 24.–25. März 2017

Krzysztof Michalski, Institut für Sicherheitswissenschaften, Technische Universität Rzeszów, Al. Powstańców Warszawy 12, PL-35-959 Rzeszów (michals@prz.edu.pl)

Constanze Scherz, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT) (scherz@kit.edu)

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TATuP Bd. 26 Nr. 1–2 (2017), S. 81–83, https://doi.org/10.14512/tatup.26.1-2.81

Im Zuge des fortlaufenden Integrationsprozesses Polens in die EU entstand 2014 eine Initiative, die strukturellen Veränderungsprozesse auch für die Technikfolgenabschätzung zu nutzen. Vor dem Hintergrund des zu diesem Zeitpunkt durchgeführten EU-Projekts „Parliaments and Civil Society in TA“ (PACITA) trafen sich auch in Polen Wissenschaftler, die an Fragen der TA interessiert sind. In den folgenden Monaten wurde die Initiative verstetigt, die „Polnische Gesellschaft für Technikfolgenabschätzung“ (PTOT) gegründet und im März 2017 der 1. Polnische TA-Kongress abgehalten.

Hintergrund und Zielsetzung

Seit den frühen 1970er-Jahren hatte der Warschauer Soziologe Lech W. Zacher Pionierarbeiten für TA-Institutionen und für TA-Netzwerke in Polen geleistet. Mit der Hinwendung zu einer marktorientierten Technologiepolitik seit dem Ende des Ostblocks wurden derartige Initiativen jedoch für die folgenden 20 Jahre unterbrochen. Durch das Engagement des Sejm[1]-Abgeordneten Jan Kaźmierczak – ein TA-kundiger Produktionsmanager und -techniker von der Schlesischen Technischen Universität Gliwice/Zabrze – wurden schließlich die Voraussetzungen für eine politische und wissenschaftliche Institutionalisierung der TA in Polen bereitgestellt. Bald versammelten sich um die gemeinsame Initiative des Technikphilosophen Andrzej Kiepas (Katowice) und Jan Kaźmierczak dutzende Akademiker aus den wichtigsten Bereichen der Technikfolgenforschung, die sich gerne an der Gründung eines TA-Netzwerks beteiligten. Nach einer kurzen Anlaufphase wandelte sich das ursprüngliche „Polnische Akademische Netzwerk für Technikfolgenabschätzung“ (PANTA) in eine größere wissenschaftsübergreifende Fachorganisation, die dann im Frühjahr 2015 unter dem Namen „Polnische Gesellschaft für Technikfolgenabschätzung“ gerichtlich eingetragen wurde. PTOT hat sich bereits an mehreren Beratungs- wie Publikationsprojekten beteiligt und sorgt mit seinem Informationsdienst zu Fragen der Technikfolgenabschätzung für Öffentlichkeitswirksamkeit.

Abb. 1: Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 1. Polnischen TA-Kongresses in Kamień bei Rybnik. Quelle: http://ptot.pl/post1_gallery.html

Im Laufe der Begegnungen und Diskussionen innerhalb des Netzwerks stellte sich schnell heraus, dass dem integrierenden Begriff Technikfolgenabschätzung sehr unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Visionen und Interessen zugrunde liegen: Seitens der Vertreter der Industrieforschung besteht nach wie vor die Erwartung, die Technikfolgenabschätzung könne vor allem dazu beitragen, innovative technologische Entwicklungen gesellschaftlich zu legitimieren, während Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen auf die unerwünschten, nicht-intendierten Folgen technologischer Entwicklungen hinweisen möchten. Beide Seiten argumentieren voraussehbar, während die Methoden und Reflexionen der Wissenschaft zu Fragen der TA eine große Diversität kennen.

Diese Interessenskonflikte innerhalb der polnischen TA-Community verschärfen die ohnehin schwierigen Probleme, mit denen sich eine interdisziplinär ausgerichtete TA theoretisch und methodologisch befasst. Außerdem besteht die Gefahr, dass der Begriff „Technology Assessment/Technikfolgenabschätzung“ verwässert, da er inflationär zur Benennung und Beschreibung aller möglichen, mit Technik und Gesellschaft verbundenen Phänomene herangezogen wird. Vor diesem Hintergrund war es den Veranstaltern des 1. Polnischen TA-Kongresses ein besonderes Anliegen, durch die Präzisierung der theoretisch-methodologischen Grundlagen der Technikfolgenabschätzung und durch die Erarbeitung von leicht handhabbaren Toolboxen für unterschiedliche Anwendungsbereiche (Antragstellung, Durchführung und Begutachtung von TA-Projekten) einer weiteren „Erosion“ der Technikfolgenabschätzung entgegenzuwirken und durch zumindest provisorische Standardisierungen der TA-Verfahren zur Verbesserung der Qualitätssicherung und der gesellschaftlichen Akzeptanz von Assessments beizutragen.

Sessions und Vorträge

Den Eröffnungsvortrag hielt der Vorsitzende der PTOT Jan Kaźmierczak. Er thematisierte Analyseprobleme der Wahrnehmung von Bedürfnissen der Techniknutzer aus der Sicht der industriellen Produktwirkungsforschung. Angesichts der ungünstigen politischen Situation in Polen plädierte er für eine verstärkte Implementierung der TA in industrielle Forschungs- und Entwicklungsprozesse. Die Teilnehmer der ersten Diskussionsrunde nahmen dann Bezug auf theoretische Grundlagenprobleme der TA und machten Verbesserungsvorschläge, wie eine in Ländern mit langer TA-Tradition verstandene Technikfolgenabschätzung an die aktuellen Herausforderungen für eine TA in Polen angepasst werden könnte.

Vor dem Hintergrund sozialwissenschaftlicher Reflexionen über die Nanotechnologie entwickelte Tomasz Stępień (Wrocław) sein Konzept der Technikheuristik, in dem TA und Technoscience (STS) sich gegenseitig ergänzen. Demgegenüber verteidigte Agnieszka Lekka-Kowalik (Lublin) in ihrem Vortrag das Konzept der rationalen Technikfolgenbeurteilung. Eine kritische Betrachtung der wertphilosophischen Annahmen, die der TA zugrunde liegen, und die für deren geringe gesellschaftliche Resonanz in Polen verantwortlich sein könnten, nahm Waldemar Czajkowski (Gliwice) vor. An diese eher skeptischen Überlegungen knüpfte Krzysztof Michalski (Rzeszów) mit seinem Vortrag zu „Kritischen Momenten in TA-Projekten aus methodologischer Sicht“ an. Zum Verständnis, wie die Lösung normativer Probleme gelingen könnte, schilderte Łukasz Nazarko (Białystok) zum Abschluss der Session seine Erfahrungen mit der partizipativen Methode Citizen Dialogue.

In der zweiten Session wurden Probleme der praktischen Umsetzung von TA-Konzepten thematisiert. In ihrem Impulsreferat verwies Izabela Jonek-Kowalska auf die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen der Implementierung innovativer Technologien am Bespiel der Steinkohleindustrie in Oberschlesien. Wie partizipative TA-Methoden als Bestandteil einer Begleitforschung Eingang in die Entwicklung innovativer Produkte und deren Implementierung in kleinen und mittleren Unternehmen finden könnten, fragte der in einem Industrieunternehmen tätige Janusz Karwot (Rybnik). Ebenfalls aus der Sicht eines Praktikers befasste sich Eugeniusz Piechoczek (Katowice) in seinem Vortrag mit Problemen der Konversion von Technologien in ausgewählten Industriebereichen. Dabei ging er auf Faktoren wie Misstrauen, Vorurteile und Vorbehalte ein, deren Untersuchung etwas über das Akzeptanzverhalten gegenüber einer Technologie aussagen könnten. Vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung als Flughafen-Sicherheitsmanager machte der Referent Vorschläge, wie man die technische Akzeptanzforschung in die TA-Verfahren im Bereich der Transportsysteme integrieren könnte. Katarzyna Midor (Gliwice) erschloss in ihrem Vortrag Möglichkeiten, durch technische Verbesserung der Bedingungen am Arbeitsplatz auch die Produktqualität zu optimieren. Bartłomiej Szymczyk (Kielce) präsentierte Methoden der monetären Bewertung von technischen Innovationen. Abschließend referierte Andrzej Wieczorek (Gliwice) methodische Herausforderungen der Folgenabschätzung und Bewertung von technischen Lösungen, die zum Chancenausgleich und zur Unterstützung bestimmter sozialer Gruppen wie Senioren in öffentlichen Verkehrssystemen entwickelt werden.

Neue Kooperationsmöglichkeiten durch und Einsatzbereiche für Technikfolgenabschätzung standen im Fokus der dritten Session. Besondere Aufmerksamkeit wurde den Bereichen Nachhaltigkeitsmanagement, Informations- und Wissensgesellschaft, Responsible Research & Innovation (RRI) und Industrie 4.0 gewidmet. So stellte Andrzej Kiepas (Katowice) in seinem Vortrag die Anliegen von RRI und Industrie 4.0 als Herausforderungen für die Technikfolgenabschätzung dar. Er hob die ethischen Inhalte beider Konzepte als Basis für die TA-Integration sowohl in verantwortungsvolle Forschung und Innovation als auch in die vierte Industrierevolution hervor. Anschließend brachte Aleksandra Kuzior (Gliwice) eine Triade, bestehend aus innovativen Technologien im nachhaltigen Unternehmen aus Sicht der Industrie 4.0, als Aufgabe für die Technikfolgenabschätzung in die Diskussion. Ihre leitende Frage lautete, ob Industrie 4.0 zwangsläufig nur im Hinblick auf die Optimierung definiert werden kann/soll oder auch Nachhaltigkeitsziele wie Verantwortung oder Für- und Vorsorge ausschlaggebend sein könnten. Nachhaltigkeitsaspekte wurden von Agnieszka Janik zu normativen Vorgaben für die Technikfolgenabschätzung erhoben. Sie charakterisierte die für die Nachhaltigkeit einer technischen Lösung grundlegenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Indikatoren und entwickelte auf dieser Basis ein Modell einer nachhaltigkeitsorientierten Technikfolgenabschätzung. Diesen Nachhaltigkeitsüberlegungen schloss Aldona Kluczek (Warschau) ihre Übersicht der TA-Toolbox in Hinblick auf deren Anwendungspotenziale im Rahmen einer industriellen Technikfolgenabschätzung an.

Der vierte Themenblock konzentrierte sich auf Informations- und Kommunikationstechnologien. Zunächst schilderte Alina Betlej (Lublin) ihre Vision der Gesellschaft der Zukunft, die sie aus einer Prognose zur Weiterentwicklung digitaler Technologien ableitete. Marcin Garbowski (ebenfalls Lublin) äußerte sich sehr kritisch über die Grundsätze einer Entwicklungspolitik im Bereich künstlicher Intelligenz. Am Beispiel der IuK-Technologien verdeutlichte Urszula Soler (Warschau) ihr Konzept der Technik als einer „Verstärkerin“ von sozialen Bindungen. Paulina Kuzior (Opole) bereicherte die Diskussion um soziale Folgen des Einsatzes von IuK-Technologien in neuen Anwendungsbereichen mit ihrem Vortrag über elektronische Fernüberwachung von Verurteilten als alternative Freiheitsstrafe. Auswirkungen des Einsatzes der Überwachungstechniken auf den Energieverbrauch in den kommunalen Gebäuden wurden von dem Grünberger Umwelttechniker Joachim Kozioł analysiert, während Martina Kainz (Klagenfurt) die Ergebnisse ihres Forschungsprojekts zur Abschätzung von soziokulturellen Auswirkungen der Nutzung von Mobiltelefonen und Social Media in Westafrika präsentierte. Marek Górka (Koszalin) schätzte die Folgen der Anwendung moderner IuK-Technologien für die Sicherheit des Staates und die Sicherheit der Bürger ab. Zum Abschluss des 1. Polnischen TA-Kongresses erörterte Bartłomiej Knosala (Gliwice) Zusammenhänge zwischen der aktuellen Umweltkrise und der Krise der Geisteswissenschaften.

Fazit

Im Mittelpunkt des Kongresses stand die Frage, wie eine Profilierung der TA in Polen – auch angesichts des im Herbst 2016 erfolgten politischen Machtwechsels und der Regierung unter Führung der Partei Recht und Gerechtigkeit – gelingen könnte. Die meisten Vorträge reflektierten allgemeine Aspekte der theoretischen Grundlegung einer TA in Polen. Sie sei, so wurde übereinstimmend konstatiert, wichtiger Gegenstand für die akademische Forschung und Lehre. Da sowohl Wissenschaftler als auch Praktiker vortrugen, war das Spektrum der behandelten Themen breit und beide Perspektiven befruchteten sich in den Diskussionen. Der 2. Polnische TA-Kongress wird im Frühjahr 2019 in Rzeszów stattfinden.

Fußnoten

[1] Der Sejm bildet neben dem Senat eine der beiden Kammern der polnischen Nationalversammlung.