Energiezukünfte

Wissen, beraten, gestalten

Dirk Scheer, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlstraße 11, 76133 Karlsruhe (dirk.scheer@kit.edu) https://orcid.org/0000-0002-7472-8331

Lisa Nabitz, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT) (lisa.nabitz@kit.edu)

Witold-Roger Poganietz, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT) (witold-roger.poganietz@kit.edu) https://orcid.org/0000-0002-5839-1206

Das vorliegende TATuP-Thema präsentiert mit empirischen und konzeptionellen Beiträgen neue und innovative Ansätze zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Energiezukünften aus den Blickwinkeln der inter- und transdisziplinären Zukunftsforschung, der Technikfolgenabschätzung und der Systemanalyse.

Energy futures

Knowing, advising, and shaping

This TATuP special topic presents new and innovative empirical and conceptual contributions that discuss approaches to research on energy futures from the perspectives of inter- and transdisciplinary future studies, technology assessment, and systems analysis.

Keywords: climate-friendly energy transition, future knowledge, socio-technical system

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TATuP Bd. 28 Nr. 3 (2019), S. 11–13, https://doi.org/10.14512/tatup.28.3.11

Einführung

Mit dem Ziel einer langfristigen Reduktion von Treibhausgasen nahe Null bis zum Jahr 2050 steht eine Transformation des Energiesystems national und global auf den Agenden wissenschaftlicher Forschung und politischer Entscheidung. Zentrale Triebfeder für den avisierten Umbau des Energiesystems ist die Problematik der anthropogen verursachten Erderwärmung und des Klimawandels (Meadowcroft 2009; Smil 2010).

Die deutsche Energiewende verdeutlicht in einem besonderen Maße den soziotechnischen Charakter von Energiesystemen (Schippl und Grunwald 2013; Schippl et al. 2017). Sie ist gekennzeichnet durch ambitionierte, prima facie technische Ziele wie beispielsweise den Ausstieg aus der Kohleverstromung, die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien und die Senkung des Primärenergieverbrauchs (BMU 2016). Die Zielvorgabe der Transformation des Energiesystems kann dabei allerdings nicht nur nach Maßgabe technisch-ökonomischer Machbarkeit bewertet werden. Die Energiewende wird ohne Zustimmung der Bevölkerung kaum erfolgreich umzusetzen sein, da die Rückversicherung durch die Bürger*innen in einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist und privates Entscheidungsverhalten den Transformationserfolg in erheblichen Maße mitbestimmt (Scheer et al. 2014). Der Umbau des Energiesystems ist zudem eine Operation „im laufenden Betrieb“ und muss unter Aufrechterhaltung eines möglichst vollständig funktions- und leistungsfähigen Energiesystems vonstattengehen.

Damit ist das Ziel eines klimaneutralen Energiesystems recht eindeutig vorgegeben – die Wege dahin bleiben allerdings vielfältig und heterogen. Selbst die Spezifizierung der Ziele der deutschen Energiewende lässt Spielraum für unterschiedliche Wege. Vor diesem Hintergrund wird Zukunft zu Zukünften. Aber was heißt eine Pluralisierung von Energiezukunft? Unter dem Begriff Energiezukünfte fassen wir die aus heutiger Sicht prinzipielle Offenheit des Energiesystemumbaus in jeweils unterschiedlich möglichen soziotechnischen Konfigurationen selbst unter eindeutiger Zielvorgabe (Grunwald 2011). Diese unterschiedlichen Konfigurationen basieren auf bestimmten Akzentuierungen im Zusammenspiel von Technik, Politik, Ökonomie und Gesellschaft. Diese Akzentuierungen sind zunächst erdachte und gemachte Zukunftsentwürfe auf dem Spektrum plausibler Zusammenhänge von Machbarkeit und Wünschbarkeit und konkretisieren sich in bestimmten Annahmen über spezifischen Technikeinsatz, Konsumentenverhalten oder auch Politikentscheidungen.

Die Vorgeschichte der Energiewende sowie aktuelle Debatten über ihre Zukünfte zeigen aber deutlich, dass potenzielle Transformationspfade über einen Aushandlungsprozess in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beschritten werden. Konzeption, Planung und Umsetzung eines solch langfristig angelegten Prozesses sind durch einen hohen Grad an Komplexität und Unsicherheit gekennzeichnet, so dass aus einer ex ante Perspektive explizit unterschiedliche Zukünfte möglich sind. Da in einer demokratisch verfassten Gesellschaft über den Diskurs allgemein akzeptierte oder zumindest mehrheitlich tolerierte Transformationspfade gefunden werden müssen, stellt sich für die Wissenschaft die Frage, wie relevante Informationen über mögliche Zukunftspfade generiert und in den gesellschaftlichen Diskurs eingespeist werden können.

Wissenschaft hat die Aufgabe, Zukunftspfade der Energiewende zu identifizieren und zu charakterisieren, um Entscheidungsträger*innen Wissen (und Nicht-Wissen) an die Hand zu geben.

Die Wissenschaft hat dabei die Aufgabe, Zukunftspfade der Energiewende zu identifizieren und zu charakterisieren, um Entscheidungsträger*innen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Öffentlichkeit Wissen (und Nicht-Wissen) für eine erfolgversprechende Transformation an die Hand zu geben. Die Komplexität der Aufgabe bedarf der Integration unterschiedlicher Perspektiven, Disziplinen und Vorgehensweisen, aus denen wir für dieses TATuP-Thema insbesondere drei Herausforderungen aufgreifen:

  1. Wissen über Energiezukünfte: Als soziotechnisches System mit einem hohen Grad an Komplexität, Unsicherheit und Ambivalenz zeichnet sich das Energiesystem durch eine Vielzahl von möglichen gesellschaftspolitischen und techno-ökonomischen Zukunftspfaden aus, die nicht zwingend kompatibel zueinander sind. Dabei stellen sich interdisziplinäre Herausforderungen, wie Transformationspfade methodisch und inhaltlich identifiziert, charakterisiert und gegeneinander abgegrenzt werden können.
  2. Beratung über Energiezukünfte: Den unweigerlich offenen, mehrgleisigen und nur bedingt vorhersagbaren Charakter von soziotechnischen Energiezukünften behandelt die Wissenschaft u. a. mit den Begriffen Kontingenz, Unsicherheit und Nicht-Wissen. Damit bewegen sich wissenschaftliche Zukunftsaussagen zur Beratung über Energiezukünfte im Spannungsfeld zwischen möglichst validen und hochgradig unsicheren Aussagen. Vor diesem Hintergrund liegen zentrale Herausforderungen der Reflexion insbesondere in methodischen und inhaltlichen Weiterentwicklungen, die Aspekte wie Sicherheit und Unsicherheit sowie Wissen und Nicht-Wissen identifizieren, beforschen und Wege aufzeigen diese zu kommunizieren.
  3. Gestaltung von Energiezukünften: Akteure der Transformationsgestaltung sind auf wissenschaftliche Untersuchungen und Umsetzungshilfen für diese hochkomplexen und zum Teil auf verschiedenen Ebenen parallel verlaufenden Veränderungsprozesse angewiesen. (Politische) Entscheidungsträger*innen brauchen und fordern von der Wissenschaft Gestaltungshilfen über zukünftige Handlungsoptionen, Priorisierungen sowie erfolgversprechende Umsetzungsvorschläge. Damit stellt sich die Herausforderung, wie wissenschaftliche Expertise bestmöglich an Entscheidungsträger*innen und Öffentlichkeit übermittelt wird.

Die Beiträge in diesem Schwerpunkt bewegen sich mit jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen an diesen Schnittstellen von Wissen, Beratung und Gestaltung für wissenschaftliche Energiezukünfte.

Beiträge in diesem TATuP-Thema

Um den Herausforderungen gerecht zu werden, die sich aus dem notwendigen oder auch nur gewünschten Wissen über Energiezukünfte ergeben, entwickeln die ersten beiden Beiträge Vorschläge zur interdisziplinären Berücksichtigung von unterschiedlichen methodischen Zugängen.

Dirk Scheer und Lisa Nabitz öffnen den Fokus auf Energiezukünfte mit einer Gegenüberstellung des soziotechnischen Energiesystems als Forschungsgegenstand mit vorhandenen methodischen Ansätzen von Zukunftswissen. Mit einem Plädoyer für eine systemische Energiezukünfteforschung sprechen sie sich für eine explizit interdisziplinäre Weiterentwicklung aus, die sequentielle und komplementäre Kombinationen von techno-ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Theorien und Methoden berücksichtigt.

Die Komplexität soziotechnischer Systeme mit vielfach nicht-linearen Zusammenhängen ist Ausgangspunkt des Beitrags von Stefan Vögele, Witold-Roger Poganietz und Philip Mayer. Mit dem Ansatz der Cross-Impact-Balance (CIB)-Methode schlagen sie eine Methodeninnovation vor, die eine realitätsnähere Betrachtung von nicht-linearen Zusammenhänge in quantitativen Energieszenarien ermöglicht. Dadurch sollen wissenschaftliche Energieszenarien näher an soziotechnische Wirkungszusammenhänge herangeführt werden.

Die Validität von Zukunftsaussagen ist ein kritischer Punkt in der Beratung über Energiezukünfte. Die folgenden drei Beiträge thematisieren dies hinsichtlich einer besseren Berücksichtigung von gesellschaftlichen Vorstellungen, Technikdiffusion sowie Technikakzeptabilität.

Vorschläge zur methodischen Integration von unterschiedlichen Positionen von Stakeholdern in die Erarbeitung von Energiezukünften stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Ricarda Schmidt-Scheele, Dierk Bauknecht, Witold-Roger Poganietz, Dominik Seebach, Christof Timpe, Wolfgang Weimer-Jehle und Annika Weiss. Die Zielorientierung eines klimaverträglichen Energiesystems setzt gesellschaftliche Vorstellungen und Visionen über dessen Umbau voraus. Diese Vorstellungen müssen bei der Erarbeitung von Energiezukünften als intentionales Handeln Berücksichtigung finden. Über die methodischen Ansätze von Leitmotiven und partizipativer Storylineentwicklung werden die Vorschläge konkretisiert.

Der Diffusion nachhaltiger Technologien kommt bei der Transformation des Energiesystems eine zentrale Bedeutung zu, zugleich ist sie aufgrund vielfältiger Einflussvariablen als Zukunftsaussage schwer abschätzbar. Der Beitrag von Joachim Globisch, Bert Droste-Franke, Gabriele Fohr und Sandra Wassermann thematisiert einen Ansatz, wie sich die Robustheit von Zukunftsaussagen zur Technikdiffusion verbessern lässt. Der Ansatz fokussiert vor dem Hintergrund der Heuristik des Technologischen Innovationssystems (TIS) auf eine Kombination von empirischen, sozialwissenschaftlichen Daten mit einer innovationsbezogenen, agentenbasierten Modellierung (ABM). Im Kern geht es um Vorschläge, wie verschiedene qualitative und quantitative Datenquellen zur Validierung und Kalibrierung eines ABM-Modells genutzt werden können.

Julia Epp und Theresa Pfaff nehmen in ihrem Beitrag die Akzeptabilität von neuen Technologien für Energiezukünfte in den Blick. Als Beispiel dienen die derzeit intensiv diskutierten Power-to-X-Technologien (P2X), bei denen mithilfe von (überschüssigem) Strom Energie gespeichert bzw. für anderen Nutzungsarten umgewandelt werden kann. Anhand sozialer und ökologischer Akzeptabilitätskriterien werden unterschiedliche P2X-Szenarien diskutiert.

Die beiden letzten Beiträge thematisieren die Gestaltung von Energiezukünften. Zum einen werden energierechtliche Interventionen als staatliche Gestaltungsoptionen betrachtet. Zum anderen werden Alltagspraktiken in den Blick genommen, an denen sich eine erfolgreich gestaltete Energiewende letztlich beweisen muss.

Herausforderungen von Energiezukünften aus rechtswissenschaftlicher Perspektive stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Michael Kalis und Lars Dittmar. Die Ausgestaltung der Energiewende obliegt zuvorderst staatlicher Rahmensetzungen. Dabei kommt dem Energiewenderecht eine zentrale Bedeutung zu, sind doch rechtliche Machbarkeit und Steuerungsfähigkeit entscheidende Stellgrößen für eine erfolgreiche Transformation. Vor diesem Hintergrund analysieren die Autoren sogenannte Experimentierklauseln, Sonderförderregionen und eine CO2-Bepreisung als rechtliche Transformationsinstrumente.

Schließlich greifen Uta Böhm, Martina Schäfer und Maria Stadler das Handlungsfeld Energieeffizienz im Spannungsfeld zwischen Anlagentechnik und sozialen Akteuren auf. Die Transformation des Energiesystems wird sich letztlich in adäquaten Alltagspraktiken entscheiden. Am Beispiel des energieeffizienten Betriebs von Heizungsanlagen zeigen die Autorinnen, dass die prognostizierten Einsparungen in der Praxis meist nicht erreicht werden. Aus soziotechnischer Perspektive wird deutlich, dass insbesondere arbeitsorganisatorische Aspekte als Hemmschuh fungieren.

Literatur

BMU – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2016): Klimaschutzplan 2050. Klimaschutzpolitische Grundsätze und Ziele der Bundesregierung. Online verfügbar unter http://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Klimaschutz/klimaschutzplan_2050_bf.pdf, zuletzt geprüft am 25. 10. 2019.

Grunwald, Armin (2011): Energy futures. Diversity and the need for assessment. In: Futures 43 (8), S. 820–830.

Meadowcroft, James (2009): What about the politics? Sustainable development, transition management, and long term energy transitions. In: Policy sciences, 42 (4), S. 323–340.

Scheer, Dirk; Konrad, Wilfried; Renn, Ortwin; Scheel, Oliver (2014): Energiepolitik unter Strom. Alternativen der Stromerzeugung im Akzeptanztest. München: oekom.

Schippl, Jens; Grunwald, Armin; Renn, Ortwin (Hg.) (2017): Die Energiewende verstehen – orientieren – gestalten. Baden-Baden: Nomos.

Schippl, Jens; Grunwald, Armin (Hg.) (2013): Energiewende 2.0. Vom technischen zum soziotechnischen System? In: TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis 22 (2), S. 4–62.

Smil, Vaclav (2010): Energy transitions. History, requirements, prospects. Santa Barbara: Praeger/ABC CLIO.

Autoren und Autorin

Dr. Dirk Scheer

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ITAS/KIT. Seine Forschungsschwerpunkte sind sozialwissenschaftliche Energieforschung, Technologieakzeptanz, Wissenstransfer und -management (science-policy interface) sowie Partizipations- und Risikoforschung.

Lisa Nabitz

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ITAS/KIT. In ihren Arbeiten befasst sie sich mit sozialwissenschaftlicher Forschung zur Transformation des Energiesystems, derzeit u. a. zu Fragen der Multi-Level-Governance im Mobilitätssektor sowie zum gegenwärtigen Zukunftsdiskurs von synthetischen Kraftstoffen.

Dr. Witold-Roger Poganietz

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ITAS/KIT. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Analyse von soziotechnischen Treibern und Hemmnissen bei der Transformation von Energiesystemen in Europa und im „Globalen Süden“.