Klimaverträgliche Energiezukünfte (nicht) wissen

Dirk Scheer, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlstraße 11, 76133 Karlsruhe (dirk.scheer@kit.edu), orcid.org/0000-0002-7472-8331

Lisa Nabitz, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT) (lisa.nabitz@kit.edu)

Die Energiewende in Deutschland illustriert wie kaum ein anderes Vorhaben Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlichen Zukunftswissens. Vor allem in Wissenschaft und Politik werden Energiezukünfte seit geraumer Zeit entwickelt und diskutiert. Einerseits sollen so mit wissenschaftlicher Fundierung mögliche, rationale, wahrscheinliche, optimierte und/oder sozialverträgliche Wege für ein klimaverträgliches Energiesystem aufgezeigt werden. Andererseits soll das Wissen um unterschiedliche Entwicklungspfade bei Entscheidungsträger*innen als Handreichung und Orientierung für die Konkretisierung und Ausgestaltung der Energiewende dienen. Dieser Beitrag reflektiert über Potenziale und Grenzen der unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätze von Energiezukünften im Lichte soziotechnischer Energiesysteme.

(Not) knowing climate-friendly energy futures

The energy transition in Germany concisely illustrates opportunities and limitations of scientific future knowledge. Energy futures are developed and elaborated primarily in science and politics: On the one hand, science aims at providing possible, rational, probable, optimized, and/or socially acceptable pathways and options for a climate-friendly energy system. On the other hand, policy makers need support and advice for deciding on and implementing the energy transition process. This contribution reflects on potentials and challenges of several scientific energy future concepts against the characteristics of socio-technical energy systems.

Keywords: climate-friendly energy transition, future knowledge, socio-technical system

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TATuP Bd. 28 Nr. 3 (2019), S. 14–19, https://doi.org/10.14512/tatup.28.3.14

Submitted: 05. 07. 2019. Peer reviewed. Accepted: 24. 10. 2019

Einführung

Die Energiewende in Deutschland illustriert wie kaum ein anderes Vorhaben Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlichen Zukunftswissens. Mit dem Ziel der Politikberatung werden vor allem in der Wissenschaft und angrenzenden Bereichen Szenarien und Visionen mittels unterschiedlicher Methoden entwickelt. Dadurch sollen wissenschaftlich fundiert mögliche, rationale, wahrscheinliche, optimierte und/oder sozialverträgliche Wege für ein klimaverträgliches Energiesystem aufgezeigt werden, um Entscheidungsträger*innen als Handreichung und Orientierung für die Konkretisierung und Ausgestaltung der Transformation des Energiesystems zu dienen (Scheer 2013). Diese Energiezukünfte zeigen die Offenheit und Bandbreite eines avisierten Energiesystemumbaus. Dieser Beitrag reflektiert über Potenziale und Grenzen von wissenschaftlich fundierten Energiezukünften. Dabei wird das Energiesystem als soziotechnischer Forschungsgegenstand unterschiedlichen methodischen Ansätzen von Energiezukünften gegenübergestellt. Vor diesem Hintergrund plädieren wir für eine systemische Energiezukünfteforschung unter Einbezug interdisziplinärer Ansätze zum besseren Verständnis von Randbedingungen, Wirkungszusammenhängen und daraus abgeleiteter Erklärung bzw. Prognose (Hempel und Oppenheim 1948). Die Integration unterschiedlicher Ansätze soll dabei helfen, spezifische Randbedingungen und Wirkungszusammenhänge besser zu verstehen und wissenschaftlichen Zukunftsaussagen zugrunde zu legen.

Das Energiesystem als komplexes soziotechnisches System

Das Energiesystem als hochgradig verschränktes, soziotechnisches System mit sektorspezifischen und -übergreifenden Systemeigenheiten und -rationalitäten aufzufassen, gewinnt zunehmend Anerkennung (Elzen et al. 2004; Büscher und Schippl 2013). Entlang der Bereitstellung, Verteilung und Nutzung von Energie in den Sektoren Strom, Wärme und Mobilität sind technische Komponenten mit sozialen Akteuren und ihren individuellen und kollektiven Entscheidungen eng verknüpft. Damit treffen technische, institutionelle, ökonomische und soziale Parameter aufeinander und sind über Wechselwirkungen miteinander verbunden. Das Energiesystem, wie es sich heute oder zukünftig (gewünscht) darstellt, ist damit eine Ausprägung dieses Zusammenspiels und zeichnet sich durch einen hohen Grad an Komplexität aus. Dabei ist es für das Wissen um Energiezukünfte herausfordernd, die genaue Ausgangskonfiguration (Randbedingungen) und die Wechselwirkungen der Einflussfaktoren (Wirkungszusammenhänge) intersubjektiv zu bestimmen. Die Komplexitätsunterschiede im Energiesystem werden im Folgenden über eine Sektorenbetrachtung kurz skizziert.

Der bislang erfolgreichste Sektor mit Blick auf die Transformation – der Stromsektor – gilt als verhältnismäßig moderat komplex. Die hemmenden strukturellen Herausforderungen zu Beginn des Umbaus um die Jahrtausendwende wurden als überschaubar eingestuft, gekennzeichnet durch „Leitungsbindung, Oligopole, Fehlallokationen und auf Beharrung, nicht Innovation setzende Rahmenbedingungen“ (Hesse 2018, S. 17). Zugleich stellt sich die Technikkonfiguration in Verbindung mit sozialer Praxis von Strombereitstellung, Infrastruktur und Nutzung recht „wendegünstig“ dar. Mit dem Fokus auf einen klimaverträglichen Umbau des Strommixes von fossilen auf erneuerbare Stromtechnologien (Wind, Photovoltaik, Biomasse) stand vor allem die Strombereitstellung im Fokus der Transformation, ergänzt um den Aspekt von kurz- und langfristigen Stromspeicherungsoptionen. Weitreichende, radikale Änderungen bei der Infrastruktur sind für die Stromwende im Vergleich mit den anderen beiden Sektoren nicht notwendig. Hier stehen allenfalls inkrementelle Änderungen einer digitalen Ertüchtigung des Netzes oder aber eine deutliche, investitionsintensive Netzerweiterung über den Netzausbau für die Offshore-Anbindung auf der Transformationsagenda. Die Nutzungsphase in Haushalten und Industrie ist hingegen wenig von notwendigen strukturellen Änderungen betroffen. Vielmehr geht es nachfrageseitig darum, bestehende Hemmnisse für ein energieeffizientes Verhalten abzubauen (Böhm et al. 2019 in diesem Heft). Im Vordergrund der Stromwende stehen damit eher institutionelle und gesellschaftliche Faktoren beim weiteren Ausbau von Erneuerbaren Energien. Darunter fallen Aspekte der politischen Rationalität, wie bspw. gesellschaftliche Partizipation und Vertrauen in Planungs- und Entscheidungsprozessen, Verteilungswirkungen von Maßnahmen in der Energiepolitik und politische sowie rechtliche (Kalis und Dittmar 2019 in diesem Heft) und verhaltensorientierte Barrieren.

Im Wärmesektor sind dagegen grundlegendere Transformationen notwendig. Hier reicht eine Substitution des Energieträgers mit Beibehaltung der etablierten Infrastrukturen sowie Endnutzungsgeräten nicht aus, da die Technikketten über den gesamten Sektor u. a. auf die fossilen Energieträger Öl und Gas ausgerichtet sind. Die avisierte Wärmewende über Strategien der Effizienz sowie der direkten und indirekten Elektrifizierung bedarf eines grundlegenderen Umbaus – gerade auch auf der Verbraucherseite. Gefragt sind Neuinvestitionen in Wärmenetze, Wärmepumpen in Neu- und Altbauten sowie eine höhere Gebäudesanierungsrate und -tiefe.

Auf Nutzungs- wie auch auf Anbieterseite treten jedoch transformationshemmende Strukturmerkmale auf (Wesche et al. 2019), z. B. das sogenannte Nutzer-Investor- bzw. Mieter-Vermieter-Dilemma (Ástmarsson et al. 2013): Während Mieter*innen die Kosten von Energieverbräuchen tragen, haben sie kaum Einfluss auf Investitionen im Gebäudebereich. Ihnen bleibt alleine der Weg über Energieverbrauchseinsparungen. Für Vermieter*innen ist der Anreiz in Neuinvestitionen dagegen eher gering, da sie ökonomisch nicht von verbrauchsbedingten Effizienzsteigerungen profitieren. Dem/der Mieter*in ohne Einfluss steht der/die Vermieter*in ohne Anreiz gegenüber. Als weitere Hemmnisse (FVEE 2016) gelten hohe Technologiekosten für den Einsatz klimafreundlicher Wärmetechnik sowie geringe Transparenz und Bekanntheit von marktverfügbaren Produkten.

Der Verkehrssektor hingehen weist im Sektorenvergleich eine deutlich höhere Komplexität auf. Trotz aller politischen Ziele ist es bislang nicht gelungen, die Treibhausgasemissionen des Verkehrs unter das Niveau des Jahres 1990 zu senken, im Gegenteil: Die Emissionen steigen kontinuierlich an – auch wenn 2018 ein leichter Rückgang zu konstatieren ist (BMU 2019). Wirtschaftliche Verflechtungen in stark spezialisierten Wertschöpfungsketten mit entsprechendem Bedarf an hochqualifizierten, mobil einsetzbaren Arbeitskräften einerseits sowie Mobilität als Ausdruck von Freiheit, Individualität und Unabhängigkeit andererseits eröffnen das Spannungsfeld, in dem sich Diskussionen über die „Verkehrswende“ entzünden. Kurz: „Verkehr näht zusammen, was in zunehmend spezialisierten und fragmentierten gesellschaftlichen Teilsystemen raumzeitlich auseinander fällt“ (Hesse 2018, S. 17). Dabei sind mit der Verkehrswende mehrere Zielsetzungen verknüpft, die ein wesentlich breiteres Themenspektrum als nur den Klimaschutz umfassen. Im direkten Umfeld geht es um eine Erhöhung der Lebensqualität durch Senkung der Luftschadstoff- und Lärmbelastung ebenso wie durch eine stärker mensch- als autofokussierte Gestaltung von Straßen, Quartieren und Städten, aber auch um Zeitersparnis durch eine Entlastung der Infrastrukturen und Stauvermeidung. Gleichzeitig sollen die Mobilitätbedürfnisse des Einzelnen in gleichem Maße befriedigt werden können und der heute erreichte Mobilitätsgrad mindestens erhalten, wenn nicht sogar weiter erhöht werden, denn Mobilität wird mit individueller Freiheit gleichgesetzt und diese soll keinesfalls beschnitten werden.

Vier Herausforderungen des (Nicht-)Wissens von Energiezukünften

(Politische) Entscheidungen über Energiezukünfte müssen trotz aller Komplexität des soziotechnischen Energiesystems, möglicher Pfadabhängigkeiten und Unsicherheiten sowie Nicht-Wissens über intendierte und nicht-intendierte wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Folgen dieser Entscheidungen getroffen werden. Die Genese von wissenschaftlichem System-, Orientierungs- und Handlungswissen für Energiezukünfte spielt dabei als Inputgeber für Randbedingungen und Wirkungsketten eine zentrale Rolle und ist analytisch und methodisch mit Herausforderungen konfrontiert.

Soziotechnische Wirkungszusammenhänge besser verstehen

Eine zentrale Herausforderung besteht darin, die sektorspezifischen und -übergreifenden Einflussfaktoren adäquat zu erfassen sowie ihr Zusammenspiel über die Bereiche Technik, Organisation, Verhalten und politische Steuerung zu verstehen. Dabei muss auch zugrunde gelegt werden, dass die Wirkungszusammenhänge kontextabhängig variieren und nicht über die Zeit konstant sind: Unter anderem sind ökonomische, habituelle, wertbasierte oder institutionelle Rationalitäten für Entscheidungsträger*innen und (Energie)Verbraucher*innen relevant. Während bspw. die energieintensive Industrie sehr sensitiv auf Preissignale reagiert, fallen Entscheidungen im Mobilitätssektor je nach Rahmenbedingungen und Präferenzen unterschiedlich aus. So liegt die Hypothese nahe, dass die Kaufentscheidung für ein SUV vornehmlich nach nichtökonomischen Kriterien getroffen wird. Um diese Wirkungszusammenhänge besser herauszuarbeiten und zu verstehen, ist eine stärkere Integration von unterschiedlichen Ansätzen von Zukunftswissen vielversprechend. Dabei ist wichtig, sektorspezifisch die treibenden Faktoren – wie bspw. verschiedene Preiselastizitäten, den Einfluss persönlicher Grundüberzeugungen o. Ä. – und ihre Wirkungsmechanismen herauszuarbeiten. Die Verknüpfung der Annahmen zu Entscheidungsrationalitäten mit der Heuristik der Lebensstile (z. B. Sinus-Milieus) kann dabei ein wichtiger Ansatzpunkt sein, um Varianzen beim Entscheidungsverhalten besser zu erfassen. Ex-post Analysen einer kausalen Rekonstruktion helfen dabei, das Zusammenspiel von Einflussfaktoren soziotechnischer Systeme eingehender zu analysieren und als Ausgangsbedingung den Szenarien und Visionen von Energiezukünften zugrunde zu legen. Ein methodischer Ansatz zur Berücksichtigung nicht-linearer Wirkungsketten wird im Beitrag von Voegele et al. 2019 (in diesem Heft) über die Methode der Cross-Impact-Balance vorgestellt. Globisch et al. 2019 (in diesem Heft) unternehmen konzeptionelle Überlegungen mit Blick auf eine Verknüpfung von innovationstheoretischen Ansätzen mit agentenbasierter Modellierung.

Die (Ir-)Relevanz von Gegenwartsdiskursen

In Energiezukünften hat der gegenwartsbezogene Diskurs oftmals eine große Bedeutung. Einerseits bestimmen Gegenwartsdiskurse substantiell die Ausrichtung von Energieszenarien. Andererseits sind Vergangenheitsdiskurse (und die sich aus ihnen ergebenden Energiezukünfte) heute nicht mehr zeitgemäß und gelten als überholt. Vor etwa fünf Jahren gab es bspw. eine intensive Diskussion über eine CO2-Sequestrierung oder die Desertec-Initiative. Als Folge waren viele Energieszenarien CCS- und/oder Desertec-basiert – mit aus heutiger Sicht nur noch wenig Relevanz. Gegenwartsdiskurse über Technikpotenziale, Akzeptanzniveaus oder politische Rahmenbedingungen haben folglich entscheidenden Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung von Energiezukünften. Dabei stellt sich die Frage: Wie beständig oder wie gegenwartsbezogen sind Energiezukünfte? Dieser Herausforderung sollte mit einer sequenziellen Revision, dem kontinuierlichen Blick in die Vergangenheit und der Integration von lessons learned in zukünftigen Szenarien begegnet werden, die das diskursive und konstruktive Element von Technik- und Zukunftsdebatten auch in die Erarbeitung von wissenschaftlichen Energiezukünften integrieren. Der Beitrag von Epp et al. 2019 (in diesem Heft) ist ein gutes Beispiel, wie eine gegenwärtige Betrachtung von Akzeptabilität und Wünschbarkeit bei Power-to-X-Technologien die Bedeutung von Energiezukünften beeinflussen. Einen methodischen Beitrag zur Berücksichtigung von Gegenwartsdiskursen über die systematische Erfassung von Stakeholder-Perspektiven liefern Schmidt-Scheele et al. 2019 (in diesem Heft).

Transformation als Disruption zwischen Pfadabhängigkeit und Pfadänderung

Pfadfortschreibung oder Pfadänderung sind wesentliche Elemente in der Analyse von Zukünften. Das Entstehen von Pfadabhängigkeiten im Transformationsprozess ist dabei unvermeidbar. Pfadabhängigkeiten entstehen, wenn sich im Zeitverlauf nur noch ein Pfad herauskristallisiert und keine Pfadänderung mehr vorgenommen wird (Fischedick und Grunwald 2017). Pfadabhängigkeiten können zum einen aufgrund bestimmter vergangener Entwicklungen und Entscheidungen entstehen, wie bspw. durch den Bau einer autogerechten Stadt. Zum anderen können sie durch bewusste Handlungen relevanter Akteure induziert werden, z. B. durch geänderte Erwartungshaltungen oder Netzwerkeffekte. Historizität ist somit Wesensmerkmal von Energiesystemen. Insofern liegt eine weitere Herausforderung im Zuge der Reflektion über Energiezukünfte in der Berücksichtigung von Pfadabhängigkeiten bei langfristigen Entscheidungen, wie bspw. bei Transformationsprozessen im Bereich der urbanen Mobilität, des Güterverkehrs oder auch des Netzausbaus und der Sektorkopplung.

Interventionen als sine qua non für zielgerichtete Transformation

Interventionen spielen mit Blick auf das Auslösen von Transformationspfaden eine zentrale Rolle. Spätestens seit der Förderung der erneuerbaren Energien in den 1990er- und 2000er-Jahren sowie sodann verstärkt seit der Veröffentlichung des Energiekonzepts durch die Bundesregierung im Jahr 2010 (BMWi und BMU 2010) wurden zahlreiche unterschiedliche Instrumente in den Sektoren Strom, Wärme und Mobilität auf unterschiedlichen Systemebenen implementiert, die allesamt das Ziel verfolgen, die verschiedenen ökonomischen, technischen, juristischen und informatorischen Hemmnisse für das Gelingen der Energiewende zu überwinden. Die erhöhte Komplexität des Rechtsrahmens, die Verknüpfung verschiedener Governance-Ebenen (Kommune/Stadt, Land, Bund, EU und international) sowie das stetige Anwachsen der Anzahl politischer Instrumente (Kalis und Dittmar 2019 in diesem Heft) stellen eine besondere Herausforderung für die Erarbeitung von Energiezukünften dar. Methodisch stellt sich insbesondere die Frage, wie das Design und die Wirkung von Instrumenten sowie deren Interaktion (sowohl sektorspezifisch als auch -übergreifend) adäquat adressiert werden können, um basierend darauf politische Entscheidungen treffen zu können. Daneben besteht die Herausforderung gleichermaßen darin, die Abschaffung von bestehenden sowie die Einführung von neuen Politikinstrumenten in Energiezukünften systematisch abzubilden.

Exemplarische Methoden für Energiezukünfte

Epistemisches Ziel von Methoden für Energiezukünfte ist es, auf Plausibilität und Konsistenz beruhende Zukunftsentwürfe des Energiesystems zu entwickeln. Wir greifen im Folgenden exemplarisch fünf unterschiedliche Ansätze für Energiezukünfte heraus und erläutern kurz deren Spezifika. Abbildung 1 visualisiert die Spezifika dieser prognose- und erklärungsbasierten Ansätze zur Herleitung soziotechnischer Energiezukünfte.

Abb. 1: Methoden soziotechnischer Energiezukünfte. Quelle: Eigene und erweiterte Darstellung in Anlehnung an Nursimulu 2015

Ein erster Ansatz und von großer Bedeutung sind systemanalytische, oftmals computerbasierte Energieszenarien (Börjeson et al. 2006; Nursimulu 2015). Diese lassen sich unterscheiden in vorhersageorientierte, explorative und normative Zukunftsstudien (Nursimulu 2015). Vorhersageorientierte Ansätze sind in der Regel computerbasierte Simulationsrechnungen mit einem quantitativen Design. Verschiedene Aspekte von prognoseorientierten, quantitativen Energieszenarien wurden herausgestellt: Es können top-down (makroökononische), bottom-up (techno-ökonomische oder ingenieurwissenschaftliche) oder hybride Modellierungen differenziert werden. Diese unterscheiden sich u. a. nach der Fokussierung auf ein ökonomisches Gleichgewicht (partiell oder generell), Optimierung (Minimierung/Maximierung von Variablen wie Kosten, Nachhaltigkeitsmetrik, Wohlfahrt, Gewinn), Input-Output-Modelle, ökonometrische oder Multi-Agenten-Modelle (Herbst et al. 2012), die keine bzw. stark vereinfachte Verhaltensannahmen für Akteure unterstellen. Über einen Algorithmus, indem die Wirkungsbeziehungen hinterlegt sind, werden zukünftige Systemausprägungen „errechnet“. Auf Basis einer extrapolierten Trendfortschreibung über historische Daten werden Prognosen unter plausiblen Annahmen von Randbedingungen, wie etwa bestimmte Politikentscheidungen, geliefert. Explorative Ansätze sind oftmals quantitativ, können aber auch ein qualitatives Design zugrunde legen. Auch diese Ansätze basieren auf plausiblen Trendfortschreibungen, legen allerdings einen deutlichen Fokus auf sudden events – also Ereignisse, die zu disruptiven Entwicklungen führen können, die dann fortgeschrieben werden. Normative Szenarien im Sinne von Zielszenarien nehmen im Vergleich eine entgegengesetzte Perspektive ein, indem sie die Zukunftsausprägung nach bestimmten normativen Zielsetzungen zugrunde legen, um dann ‚rückwärts‘ den Weg zur Gegenwart zu ‚berechnen‘.

Ein weiterer, in den Sozialwissenschaften entwickelter Ansatz firmiert unter Multi-Level-Perspective (Rip und Kemp 1998; Geels 2002) und ist der Innovations- und Transformationsforschung zuzuordnen. Die Multi-Level-Perspektive fokussiert auf das Zusammenspiel und die Verflechtung von technologischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Variablen. Grundannahme ist, dass die entscheidenden Einflussvariablen in realweltlichen soziotechnischen Systemen schwierig zu identifizieren und ihre Wirkungszusammenhänge – weil variabel – bestenfalls über Einzelfallbetrachtungen ex-post zu eruieren sind. Verallgemeinerbare Aussagen der Wirkungsbeziehungen im Sinne von Gesetzmäßigkeiten lassen sich daraus in der Regel nicht ableiten. Auf dieser Grundannahme wurde ein konzeptionell-heuristisches Modell entwickelt, das grundlegende Transformationen über (radikale) Innovationen erklärt. Diese für Pfadänderungen entscheidenden Innovationen werden über eine Mehrebenen-Perspektive aus Nische, Regime und Landschaft betrachtet. Zunächst entwickeln sich Innovationen auf der Ebene der Nische, gestützt durch wenige individuelle oder kollektive Akteure. Die Ebene der Nische ist dabei weitgehend außer Sichtweite der allgemeinen Wahrnehmung. Diese Nischenentwicklungen stehen im Zusammenhang (komplementär oder kompetitiv) mit der zweiten Ebene, des sogenannten Regimes. Beim Regime handelt es sich um etablierte Strukturen von Akteurskonstellationen mit institutionellen Settings, welche bestimmte Regeln, Konventionen sowie ökonomische, technische, etc. Strukturen inkorporiert haben. Auf der dritten Ebene – der sogenannten Landschaft – wirken übergeordnete Dynamiken wie bspw. Demographie oder Digitalisierung, die das Regime dauerhaft beeinflussen. Auch sudden events in der Landschaft, wie beispielsweise die Nuklearkatastrophe von Fukushima, beeinflussen das System. Im Zuge der Wechselwirkung von Nische, Regime und Landschaft kommt es zu Selektions-, Kanalisierungs- und Verfestigungsprozessen, bei denen unter günstigen Bedingungen eines windows of opportunity Nischeninnovationen das Regime herausfordern und langfristig „übernehmen“, so dass Pfadänderungen mit der Etablierung neuer Transformationspfade eingeleitet werden.

Der Ansatz des Sociotechnical Imaginery geht auf Jasanoff und Kim (2009) zurück und ist dem Bereich Science and Technology Studies zuzuordnen. Zentral ist dabei die strukturelle Bedeutung der menschlichen Fähigkeit für Imagination als konstitutives, gestalterisches Element zukünftiger Entwicklungen. Der kulturelle Faktor von kollektiver Imagination wird damit zu einem bedeutenden Faktor für nicht nur mögliche, sondern auch wahrscheinliche Zukünfte. Versprechen, Visionen und Erwartungen an mögliche Zukünfte sind dabei eingebettet in Praktiken und die Organisation von Wissenschaft; deren Akteure formen so Zukunftswege im Bereich Forschung und Innovation. Dabei imaginieren sie auch implizit eine konkrete Vorstellung über die soziale Welt – z. B. wie Wechselwirkungen zwischen Technik, Ökonomie, Politik und Gesellschaft (zu) funktionieren (haben), wer als Öffentlichkeit zu gelten hat oder was als ein öffentliches Gut wahrzunehmen ist. Diese technisch-wissenschaftlichen Imaginationen sind dann zugleich auch soziotechnische Imaginationen, die Visionen und Vorstellungen über eine „gute Gesellschaft“ inkorporieren. Dabei zeigen Gesellschaften parallele, teils komplementäre, teils konkurrierende Imaginationen. Ausgangspunkt der Analyse von Zukünften ist die Bestandsaufnahme von gegenwärtigen Zukunftsvorstellungen und der bereits vollzogenen Inkorporation dieser Vorstellungen in Struktur und Handlung, deren Ergebnisse ebenfalls Bestandteil von soziotechnischen Zukünften sind.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit Blick auf Datengenese, Methodenanwendung und Ergebnisinterpretation jeder methodische Zugang spezifische Stärken und Schwächen zeigt. Eine vergleichende Charakterisierung von vorhandenen Methoden, Modellen und Interventionen ist für eine systemische Energiezukünfteforschung unabdingbare Voraussetzung. Erste Ergebnisse zu einer solchen systematischen Inventur in der Energieforschung liefern Fahl et al. (2018). Ein verstärkt integrierender Einsatz dieser Ansätze kann die Forschung zu Energiezukünften stärken.

Fazit

Die Weiterentwicklung der Energiewende und damit einhergehend stetige Änderungen in den Rahmenbedingungen erfordern umfangreiches und detailliertes Zukunftswissen, auch für Beratungsleistungen von der Wissenschaft an die Politik. Die zugleich anhaltend steigende Komplexität des Energiesystems sowie unterschiedliche Wirkungszusammenhänge und Entscheidungsrationalitäten je nach Sektor und jeweiliger Zielgruppe machen ein interdisziplinäres Befassen mit soziotechnischen Energiezukünften notwendig. Der vorliegende Beitrag reflektierte über Potenziale und Grenzen von wissenschaftlich fundierten Energiezukünften. Dabei wurde das Energiesystem als soziotechnischer Forschungsgegenstand unterschiedlichen methodischen Ansätzen von Energiezukünften gegenübergestellt. Vor diesem Hintergrund und auch mit dem Ziel, eine höhere Kohärenz, Vergleichbarkeit und Transparenz der verschiedenen methodischen Ansätze zu erreichen, plädieren wir für eine systemische Energiezukünfteforschung, die explizit interdisziplinäre Ansätze sowie eine sequenzielle und komplementäre Kombination techno-ökonomischer und sozialwissenschaftlicher Theorien und Methoden einschließt. Im Kontext der Kombinatorik dieser Methoden skizziert der Artikel verschiedene Herausforderungen, wie sektor- und personengruppenspezifische Entscheidungsrationalitäten, verschiedene Pfadabhängigkeiten, die (Ir-)Relevanz von Gegenwartsdiskursen, sowie die Rolle von Interventionen als sine qua non für eine zielgerichtete Transformation, die im Sinne eines zukünftigen Forschungsbedarfes allesamt von besonderer Relevanz für soziotechnische Energiezukünfte sind. In Fällen, in denen ein integrierter Einsatz von Forschungsmethoden nicht möglich erscheint, ist es wünschenswert, die Ergebnisse der disziplinären Einzeluntersuchungen als integrierte, interdisziplinäre Betrachtung mosaikartig zusammenzuführen. Wie eine Systematik eines solchen Mosaiks aussehen kann, ist Gegenstand zukünftiger Forschungsaktivitäten.

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Autor und Autorin

Dr. Dirk Scheer

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Seine Forschungsschwerpunkte sind sozialwissenschaftliche Energieforschung, Technologieakzeptanz, Wissenstransfer und -management (science-policy interface) sowie Partizipations- und Risikoforschung.

Lisa Nabitz

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT). In ihren Arbeiten befasst sie sich mit sozialwissenschaftlicher Forschung zur Transformation des Energiesystems, derzeit forscht sie u. a. zu Fragen der Multi-Level-Governance im Mobilitätssektor sowie zum gegenwärtigen Zukunftsdiskurs von synthetischen Kraftstoffen.