Rezension

Der unterlegene Mensch

Digitalisierung zwischen Hoffen und Bangen

Yannick Julliard, Kreuzäckerstr. 4, 76316 Malsch (yannick.julliard@web.de)

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TATuP Bd. 28 Nr. 3 (2019), S. 76–77, https://doi.org/10.14512/tatup.28.3.76

Grunwald, Armin (2019):
Der unterlegene Mensch. Die Zukunft der Menschheit im Zeitalter der Algorithmen.
München: Riva Verlag.
256 S., 19,99 Euro, ISBN 9783742307187

„Chancen und Risiken der Digitalisierung“ – hierzu hat Armin Grunwald mit dem Buch Der unterlegene Mensch. Die Zukunft der Menschheit im Zeitalter der Algorithmen eine brillante Analyse mit einem guten Überblick vorgelegt. Dem Autor gelingt es, ein komplexes Thema in einer allgemeinverständlichen Sprache darzustellen sowie die Chancen und Risiken der Digitalisierung jenseits der beiden Extreme Technikeuphorie und Technikpessimismus zu beurteilen. Mehr noch, indem er sich nicht auf eine der Seiten schlägt – im Buch treffend als Paradieserzählung bzw. Höllenfahrten der Digitalisierung beschrieben – entlarvt er die derzeitigen Narrative des Diskurses um die Digitalisierung. Die Narrative sind Epen und Erzählungen, die entweder die neue Technologie als Rettung der Menschheit durchsetzen oder im umgekehrten Sinn diese als Teufelszeug disqualifizieren wollen. Das Buch verfolgt an dieser Stelle klassische Ziele der Aufklärung.

Die Fallbeispiele bieten einen breiten Eindruck: Von der derzeit viel diskutierten Zukunft der Arbeit über den Transport und die Gesundheit bis hin zum Wohnen spricht der Autor vielfältige Aspekte der Digitalisierung an. Ein Buch in dieser Breite und mit einer allgemeinverständlichen Sprache tendiert üblicherweise dazu, feinere Details zu nivellieren. Die Balance zwischen wissenschaftlichem Anspruch und guter Darstellung gelingt hier jedoch erstaunlich gut. Man merkt dem Autor seine lange Vertrautheit mit Technikfolgen und ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung an. Umso erfreulicher sind die in die Argumentation eingegangenen wirtschaftsethischen Perspektiven, die in den Kapiteln „Zukunft der Demokratie“ und „Digitalisierung gestalten – aber wie“ zur Sprache kommen.

Armin Grunwald gelingt es, die Chancen und Risiken der Digitalisierung darzustellen und herauszuarbeiten, dass es sich bei der Digitalisierung mitnichten um eine Naturgewalt handelt, sondern dass es um ein von Menschen geformtes und wirtschaftlichen Interessen folgendes Geschehen geht. Dass Akteure dieses Geschehen gestalten und es einer gesellschaftlichen Legitimation bedarf, die an der ein oder anderen Stelle noch mangelhaft ausgebildet ist oder sich gar erst ausbildet, wird schlüssig vorgestellt, wobei das Buch die Risiken des totalen Überwachungsstaats mehr als deutlich an die Wand projiziert. Die grundlegende These bleibt, dass das Risiko einer allumfassend durch Algorithmen bestimmten Welt eher gering ist, die Gesellschaft als Ganze sich aber darüber verständigen muss, in welcher digitalen Zukunft sie leben will.

Zur Sprache kommen Bedenken zur Dominanz der Technik und zum Menschenbild der Digitaltechnik, wobei sich an dieser Stelle viele klassische Argumente der Technikphilosophie wiederfinden: die Antiquiertheit des Menschen angesichts der Technik, die geforderte Anpassung an bestimmte Nutzungsformen sowie die Frage nach einem inhärenten Technikdeterminismus, der Abhängigkeiten von technischen Systemen schafft, die nicht mehr leicht zu kontrollieren sind. Haben die hier dargestellten Sachverhalte wirklich spezifisch mit Digitalisierung zu tun oder handelt es sich nicht vielmehr um (auch) grundsätzlich zutreffende technikphilosophische Überlegungen? Eine Stärke des Kapitels über das Menschenbild im Zeitalter der Digitaltechnik bildet die Forderung, dass der Mensch sich nicht kleiner machen solle als er ist. Sicherlich sei er bei manchen Tätigkeiten der Technik hoffnungslos unterlegen, allerdings sei es gerade die Vielfalt des menschlichen Lebens, die sich nicht vollständig digitalisieren lasse. Bemerkenswerterweise kommen die negativen Folgeerscheinungen der Digitaltechnik ebenfalls zur Sprache: Ressourcenverbrauch und Energieeinsatz.

Eine weitergehende Analyse wünschte man sich in der Besprechung von Digitalisierung als Querschnittstechnologie. Grunwalds Argumentation klingt hier zu stark nach Maschinenmetapher. Überspitzt formuliert, reduziert hier das Buch das Phänomen Digitalisierung auf die Einführung einer auf Algorithmen basierten Technik. Mit einer etwas anderen Akzentuierung ließe sich in der Querschnittstechnologie nämlich das Ausmaß der industriell verursachten Eingriffstiefe von Digitalisierung in unser Leben identifizieren und dessen dadurch verursachte revolutionäre Veränderung erkennen. Die digitale Überformung unseres Alltagslebens bis hinein in unser Wissen und Wollen käme dann stärker zur Sprache. Sie betrifft die Mitte der persönlichen Erfahrung, denn heute gilt: Ich bin das, was ich bin, nicht nur im Spiegel der analogen, sondern mehr und mehr auch im Spiegel der digitalen Welt. Zumindest diese Ebene der Lebenswirklichkeit der digital natives gerät aus philosophischer Sicht ins Abseits. Das Spektrum der Virtualität und ihrer Bedeutung erhält wenig Beachtung, denn dass Menschen heute ein analoges und ein digitales Leben führen und welche Aus- und Rückwirkungen dies hat, kommt nur am Rande vor.

Beim letzten Kapitel des Buches fragt man sich, ob sich der Autor nicht doch eine Rückkehr ins analoge Paradies wünscht, wenn er mit einem Lob auf die analoge Welt schließt. Man kommt fast auf den Gedanken, analog sei das neue Bio. Hier hätte man sich eine Argumentation gewünscht, die der gesellschaftlichen Realität der digitalen Generation stärker Rechnung trägt, die in einer analogen und zugleich virtuellen Realität ihr(e) Leben bewältigt.

Ein paar kritische Fragen zum Weiterdenken ergeben sich aus der Lektüre:

Alles in allem ein sehr empfehlenswertes Buch für alle, die sich mit dem Thema Digitalisierung auseinandersetzen möchten, lesenswert sowohl für NichtwissenschaftlerInnen als auch für die wissenschaftliche Community. Die ansprechende Aufmachung mit Fließtext und eingestreuten Beispielen in Textboxen lockert die Lektüre auf und vertieft an Einzelpunkten die Argumentation.