Thema

Öffnung für alle

Einlösung oder Erosion des Projekts moderner Wissenschaft?

Sascha Dickel, Institut für Soziologie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Jakob-Welder-Weg 12, 55128 Mainz (dickel@uni-mainz.de), orcid.org/0000-0003-3620-2934

Der Buchdruck ermöglichte die Ausdifferenzierung eines modernen Wissenschaftssystems, das in kognitiver Hinsicht auf Offenheit orientiert ist. Die Mertonschen Normen können als Selbstreflexion dieser Orientierung an Offenheit interpretiert werden. An ihnen wird sichtbar, dass sich die zeitliche und sachliche Offenheit der Wissenschaft paradoxerweise durch ihre soziale Schließung als Profession vollzieht. Diese Professionsgrenze wissenschaftlicher Praxis wird durch Open Science in Frage gestellt.

Opening science to all

Thriving or erosion of the project of modern science?

The printing press played a major role in the emergence of an open science system. The Mertonian scientific norms reflect this openness. They also demonstrate, however, that science understands itself as a profession of certified experts. The openness of science was enabled by social closure. Open science challenges this social closure of scientific practice.

Keywords: Merton, Luhmann, digital media, open access, citizen science

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TATuP Bd. 26 Nr. 1–2 (2017), S. 55–59, https://doi.org/10.14512/tatup.26.1-2.55

Eingereicht: 29. 03. 2017. Angenommen: 24. 05. 2017

Die gesellschaftlichen Erwartungen an eine digitale Öffnung der Wissenschaft sind hoch: Offenheit – in all ihren Dimensionen – soll sowohl die epistemische Qualität der Wissenschaft erhöhen als auch bislang bestehende gesellschaftliche Zugangsbarrieren senken. Neben diese Hoffnungen treten aber auch Befürchtungen eines Autonomieverlusts der Wissenschaft, etwa durch Medialisierung und Amateurisierung. Ist die zeitgenössische Variante offener Wissenschaft somit die verspätete Einlösung der Versprechen des modernen Projekts der Wissenschaft oder gerade ein Symptom für dessen Erosion?

Um diese Frage beantworten zu können, lohnt ein Blick auf das eigentümliche Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit, welches die moderne Wissenschaft auszeichnet. Ihrer normativen Selbstbeschreibung nach ist Wissenschaft zunächst auf Offenheit angelegt: Dafür stehen die Mertonschen Normen des „Universalismus“ und des „Wissenskommunismus“. Erstere Norm beschwört den offenen Zugang zur Teilhabe an der Wissensproduktion. Letztere verlangt, dass die Resultate der Wissenschaft grundsätzlich allen Interessierten frei zugänglich sein sollen. Den Mertonschen Normen zufolge zeichnet sich Wissenschaft zudem durch „Uneigennützigkeit“ und „organisierten Skeptizismus“ aus. Zur Erfüllung dieser Normen realisiert sich Wissenschaft als Profession – als sich selbst organisierende Berufsgruppe mit hohen Autonomieansprüchen. Gerade durch ihre Professionalisierung wird Wissenschaft aber zugleich sozial abgeriegelt. Die zeitliche und sachliche Offenheit der Wissenschaft vollzieht sich paradoxerweise durch ihre soziale Schließung. In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass die Programmatik offener Wissenschaft als Versuch der Auflösung dieses praxeologischen Widerspruchs der Mertonschen Normen interpretiert werden kann.

Der Argumentationsgang strukturiert sich wie folgt: Zunächst wird Offenheit als kognitive Leitorientierung der Wissenschaft bestimmt. Die Mertonschen Normen werden im Anschluss daran als normative Selbstbeschreibung einer auf Offenheit angelegten Wissenschaft interpretiert. Die aktuelle Programmatik von Open Science wird danach als Versuch einer Erweiterung des Inklusionsraums wissenschaftlicher Wissensproduktion und -rezeption interpretiert. Der Beitrag schließt mit einer Einordnung offener Wissenschaft in den zeitgenössischen Medienwandel.

Offenheit als kognitive Orientierung moderner Wissenschaft

Schon von ihrer strukturellen Bestimmung her konstituiert sich die moderne Wissenschaft als offenes Projekt. Deren fundamentale Offenheit ist durch die spezifische Formatierung dessen, was „Wahrheit“ im wissenschaftlichen Sinne bedeuten kann, bereits in der Zeitdimension gegeben. Jede Wahrheit ist im Kontext von Wissenschaft stets nur als vorläufige Stabilisierung im Kommunikationsfluss zu begreifen. Im Kontrast zu traditionalen und religiös begründeten Wahrheitsregimen, ist die Wahrheit der Wissenschaft stets eine vorläufige Wahrheit, die in Zukunft durch weitergehende wissenschaftliche Prüfungen widerlegt werden kann (oder schlicht vergessen wird). Die Vorläufigkeit der wissenschaftlichen Wahrheit korrespondiert mit der selbstzugeschriebenen Aufgabe der Wissenschaft für die Gesellschaft: Die Wissenschaft hat sich in der modernen Gesellschaft als ein sozialer Zusammenhang ausdifferenziert, der auf die Produktion neuen, überraschenden Wissens fokussiert. Nach innen wie nach außen legitimiert sich die Wissenschaft durch die Produktion neuen Wissens, das alte Beschreibungen der Welt ergänzt, relativiert oder ersetzt. Eine wichtige Bedingung der Möglichkeit der gesellschaftsweiten Unterscheidung von altem und neuem Wissen ist der Buchdruck. „Vor dem Buchdruck hätte man gar nicht wissen können, welches Wissen überhaupt neu ist. Man kann ja nicht ausschließen, daß es irgendwo schon vorhanden ist. Erst die Publikation im Druck und in ihrem Gefolge: die darauf basierte Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Kommunikation stellen ein eindeutiges Kriterium bereit. Als neu zählt, was erstmals publiziert ist – gleichgültig ob jemand und wer es vorher schon gewußt hat.“ (Luhmann 1992, S. 296)

Die Medientechnologie des Buchdrucks befördert eine kognitive Orientierung, die Kreativität und Innovation belohnt und die Wahrheitssuche damit auch von sachlichen Beschränkungen entkoppelt. Jeder Gegenstand kann potenziell zum Objekt wissenschaftlicher Betrachtung und Prüfung werden. Alles kann grundsätzlich Thema gedruckter Publikationen sein. Einzig der interne Strukturaufbau der Wissenschaft (durch bereits erforschte Themen, etablierte Theorien und zur Verfügung stehende Methoden), sowie die Notwendigkeit, sich auf Nützlichkeitserwartungen der Umwelt (etwa seitens von Politik und Wirtschaft) hin zu orientieren, differenziert die Themenfelder, die tatsächlich beforscht wurden und werden, von jenen, die nur potenziell Forschungsthemen sein könnten. Neben der zeitlichen Offenheit ist somit auch und gerade eine Offenheit in der Sachdimension für die moderne Wissenschaft konstitutiv.

Es mag also erstaunen, dass eine Öffnung der Wissenschaft gegenwärtig als innovatives Programm auftreten kann.

Ebenso wie Offenheit in zeitlicher Hinsicht (alles kann in Zukunft in Frage gestellt werden) und sachlicher Hinsicht (alles kann zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung werden) zum Kern wissenschaftlicher Selbstorientierung gehören, ist auch die Sozialdimension der Wissenschaft auf den ersten Blick auf Offenheit hin orientiert: auf eine All-Inklusion in die Produktion und Rezeption wissenschaftlichen Wissens. Auch hierbei ist der Buchdruck maßgeblich: Die Druckerpresse verwandelt unspezifische Adressaten in potenzielle Leser (Luhmann 1992, S. 602), deren Rezeptionspraxen man nicht mehr kontrollieren kann: „Wer für den Druck schreibt, gibt damit die Situationskontrolle auf“ (Luhmann 1992, S. 157) und stellt sich auf ein grundsätzlich unbeschränktes Publikum ein.

Offenheit als normative Erwartung moderner Wissenschaft

Es mag also erstaunen, dass eine Öffnung der Wissenschaft gegenwärtig als innovatives Programm auftreten kann. Denn nicht nur in ihrer kognitiven Orientierung, sondern auch in ihrer normativen Selbstbeschreibung, ist die moderne Wissenschaft grundsätzlich auf Offenheit ausgerichtet. Die Rekonstruktion dieser normativen Ordnung wird heute maßgeblich mit dem Soziologen Robert Merton verbunden. In seinem in den 1940er-Jahren erschienen Aufsatz zu den institutionellen Grundlagen der Wissenschaft (Merton 1972) formulierte er vier Normen, die in der Wissenschaft Geltung beanspruchen. „Obwohl auch für einzelne Wissenschaftler angenommen wird, dass die Orientierung an den genannten Normen die Wahrscheinlichkeit für Erfolg und Anerkennung in der Wissenschaft erhöht, beziehen sich Normen weniger auf individuelle Motive als auf Kommunikationsprozesse in der Wissenschaft. Entscheidend ist demnach, was im Rechtfertigungszusammenhang thematisiert und was dabei als legitimes Argument anerkannt wird.“ (Hasse 2012, S. 47) Es geht bei den sogenannten Mertonschen Normen also nicht um individuelle Gründe, Handlungsweisen oder Wertorientierungen einzelner Akteure, sondern um eine Rekonstruktion systemischer Erwartungsstrukturen. Jede dieser Normen konkretisiert in je eigener Weise den Imperativ der (auch und gerade sozial gefassten) Offenheit.

Die von Merton herausgearbeitete Norm des Universalismus schreibt vor, dass Wahrheitsansprüche unabhängig von der sozialen Herkunft des Autors zu beurteilen sind. „Rasse, Nationalität, Religion, Klassenzugehörigkeit oder persönliche Qualitäten sind als solche irrelevant.“ (Merton 1972, S. 48) Zugleich sollen alle Akteure die Möglichkeit erhalten, wissenschaftlich tätig zu werden: „Der freie Zugang zum wissenschaftlichen Arbeiten ist ein funktionaler Imperativ.“ (Merton 1972, S. 49)

Die zweite Norm der Wissenschaft bezeichnet Merton als Kommunismus. Er beschreibt damit die Leitidee, dass wissenschaftliches Wissen der Öffentlichkeit frei zur Verfügung stehen sollte. Diese Norm steht dem Konzept eines esoterischen Geheimwissens ebenso entgegen wie dem Konzept eines privaten Besitzes an Wissen – womit sich strukturell Spannungen zum kapitalistischen Wirtschaftssystem und zur Institution des Patents ergeben. „Geheimhaltung ist die Antithese dieser Norm, vollständige und offene Kommunikation ihre Erfüllung.“ (Merton 1972, S. 51) Die Norm des Kommunismus stellt Anforderungen an das wissenschaftliche Publikationssystem. Sie impliziert, dass die Resultate der Wissensproduktion offen zugänglich gemacht werden und damit von allen Interessierten rezipiert und ggf. für die eigene Forschungsarbeit zur Verfügung stehen.

Die Norm der Uneigennützigkeit gebietet, dass die Wissensproduktion nach wissenschaftsinternen Kriterien zu erfolgen hat. Betrugsversuche und willkürliche Falschbehauptungen zur Förderung der Karriere müssen demgemäß mit Sanktionen rechnen. In der Rezeption von Wissen sind ferner „Forschungsergebnisse unabhängig von wirtschaftlichen, politischen oder auch ethischen Implikationen zu beurteilen“ (Hasse 2012, S. 47) und ihre Prüfung sollte unabhängig vom Motiv, das ihrer Produktion zugrunde gelegen haben mag, allein nach den Maßstäben der Wissenschaft zu erfolgen (Merton 1972, S. 53).

In Form des Organisierten Skeptizismus wird schließlich ein Primat des systematischen Zweifelns als soziale Norm verankert. Keine etablierte „Wahrheit“, sei es eine wissenschaftliche Behauptung oder eine religiöse Offenbarung, soll vor der wissenschaftlichen Prüfung gefeit sein. Vielmehr steht jede mögliche Wahrheit prinzipiell unter dem Vorbehalt, durch logisches Schließen oder empirische Beobachtungen in Zweifel gezogen und durch neues Wissen ersetzt zu werden, wobei das neue Wissen wieder unter exakt derselben Prämisse der Vorläufigkeit stehen soll (Merton 1972, S. 55). Die zeitliche und sachliche Offenheit der Wissenschaft wird hier zum normativen Selbstanspruch erhoben.

Die Mertonschen Normen können insgesamt als Ausdruck wissenschaftsinterner Reflexivität gelesen werden. Mit ihrer Formulierung beginnt das wissenschaftssoziologische Projekt einer Selbstaufklärung der Wissenschaft über ihre eigenen institutionellen Strukturbedingungen. Die vier Prinzipien explizieren normative Erwartungen an Offenheit, die sich im Wissenschaftssystem im Zuge seiner Ausdifferenzierung herausgebildet haben (Luhmann 1992). Zugleich aber zeigt sich in ihnen eine eigentümliche Paradoxie wissenschaftlicher Offenheit in der Sozialdimension.

Anspruch und Wirklichkeit sozialer Offenheit

Die soziale Ordnung der Wissenschaft basiert auf der regulativen Idee einer relativen Gleichheit der Beteiligten. Dies drückt sich insbesondere bei wissenschaftlichen Publikationen aus, die Leser adressieren, die in der Lage sind, die formulierten Behauptungen ihrerseits kritisch zu hinterfragen und/oder an die veröffentlichten Forschungsresultate anzuschließen und diese wiederum als Prämisse eigener wissenschaftlicher Auseinandersetzung zu verwenden. Jeder so adressierte Akteur soll potenziell Wahrheitsansprüche prüfen und selbst formulieren können – und dies unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung und möglichst unbeeinflusst von den Relevanzkriterien anderer gesellschaftlicher Sphären. Jeder Teilnehmer an wissenschaftlicher Kommunikation soll potenziell Wissensrezipient und Wissensproduzent in Personalunion sein können.

Zugleich bezieht sich die „Gleichheit der Forschenden“ (Luhmann 1992, S. 319) de facto auf einen höchst eingeschränkten Personenkreis, nämlich Berufswissenschaftler. Die Wissenschaft konstituierte sich in der Moderne als Profession, deren Angehörige zugleich als Mitglieder in Organisationen (Universitäten und Forschungseinrichtungen) tätig sind. Die Inklusion der übrigen Gesellschaftsmitglieder erfolgt nur indirekt, etwa durch populärwissenschaftlich-mediale Adressierung oder schulische und universitäre Bildung und Ausbildung. Zwar ist Wissenschaft – wie alle anderen Professionen – von einer indirekten Legitimierung und (nicht zuletzt finanziellen) Förderung durch die Gesellschaft abhängig, ohne aber dass diese in den wissenschaftlichen Kommunikationsprozess selbst einbezogen wäre (Schimank 2012).

Die Paradoxie wissenschaftlicher Inklusion lässt sich im Kontext der Mertonschen Normen auf der Ebene normativer Selbstbeschreibung genauer nachzeichnen. Die Mertonschen Normen des „Universalismus“ und des „Wissenskommunismus“ sind eindeutig auf maximale Offenheit hinsichtlich der Produktion und Rezeption von Wissen ausgelegt. Sie implizieren eine potenzielle All-Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder in den wissenschaftlichen Kommunikationsprozess durch die Forderung eines Absehens wissenschaftsexterner Relevanzen bei der Beurteilung der Kommunikation von Sprechern, die Wahrheitsansprüche zum Ausdruck bringen, sowie der Forderung einer schrankenlosen Kommunikation wissenschaftlicher Resultate und einer damit verbundenen maximalen Erweiterung des Rezeptionsraums.

Die Normen der „Uneigennützigkeit“ und des „organisierten Skeptizismus“ hingegen sind in stärkerem Maße auf die institutionelle Realität eines spezifischen sozialen Feldes bezogen: nämlich der Wissenschaft als organisierter Profession. In seiner Beschreibung der „Uneigennützigkeit“ reiht Merton die Wissenschaft explizit in das System moderner Professionen ein (zu denen etwa auch die Ärzteschaft und die Justiz gehören), die als Treuhänder gesellschaftlicher Zentralwerte fungieren (hier: dem Wert der Wahrheit) und diesen Wert über andere Zielorientierungen (etwa die Gewinnorientierung) stellen. Zugleich vertritt er die Auffassung, dass eine solche Wertorientierung nicht notwendigerweise in der Person des einzelnen Wissenschaftlers verankert ist, sondern – wie alle anderen Normen auch – als institutioneller (Selbst-)Regulierungsmechanismus zu verstehen ist. Auch der „Skeptizismus“ tritt bei Merton nicht als personal gedachte Qualität eines (skeptischen) Individuums in Erscheinung, sondern als institutionelle Regel, die innerhalb der Professionsgemeinschaft – eben als organisierter Skeptizismus – ihre Wirkung entfaltet.

Organisierte Professionalität wirkt damit als der soziale Modus, der die kognitive Offenheit der Wissenschaft absichert und reguliert. Professionalisierung erscheint mithin als soziale Antwort auf die Entgrenzung der Wissenskommunikation durch den Buchdruck. Gerade durch ihre Professionalisierung wird Wissenschaft aber zugleich sozial abgeriegelt.[1] Die zeitliche und sachliche Offenheit der Wissenschaft vollzieht sich somit paradoxerweise durch ihre soziale Schließung.

Open Access und Citizen Science

So wie der Buchdruck als Ermöglichungsbedingung eines zeitlich und sachlich offenen Wissenschaftssystems begriffen werden kann, zeichnet sich mit der Umstellung des Wissenschaftssystems auf digitale Medien ein weiterer Öffnungsschub ab, der auch und gerade die Sozialdimension betrifft.[2] Es entstehen neue Möglichkeiten wissenschaftsspezifischer Partizipation im Kontext digitaler Medien, die von wissenschaftspolitischen Akteuren – von der EU-Kommission bis hin zu zivilgesellschaftlichen Aktivisten – als Demokratisierung der Wissenschaft gedeutet werden. Diese normativen Interpretationen knüpfen an übergreifende Diskurse an, die dem Internet im Allgemeinen und dem Web 2.0 im Besonderen ein demokratisierendes Potenzial zusprechen (Schrape 2010).

Das zeitgenössische Programm einer offenen Wissenschaft schließt dabei an die normativen Prämissen der Mertonschen Prinzipien an und radikalisiert diese. Dies soll im Folgenden an zwei spezifischen Lesarten bzw. Konkretisierungen offener Wissenschaft demonstriert werden: Open Access und Citizen Science. Open Access schließt dabei vor allem an die Mertonsche Norm des Kommunismus an, während Citizen Science die Norm des Universalismus universalisiert.

Die Norm des Kommunismus zwingt zur Publikation wissenschaftlicher Resultate. Damit ist Wissen zwar nicht mehr geheim, aber auch nicht unbeschränkt öffentlich zugänglich. Wissenschaftliche Kommunikation findet vielmehr in Fachjournalen statt, deren Bezug bislang in der Regel Geld kostete. Daran hatte zunächst auch die Umstellung von Printpublikationen auf digitale Publikationen nichts geändert. Auch heute noch ist eine Vielzahl wissenschaftlich relevanter Beiträge weiterhin hinter Bezahlschranken verborgen. Die Überschreitung derselben erfordert üblicherweise die Mitgliedschaft in einer wissenschaftlichen Organisation, die stellvertretend die Verlage entlohnt. Der Zugang zu akademischen Artikeln ist daher faktisch von organisationaler Mitgliedschaft abhängig.

Die aktuelle Bewegung hin zu Open Access setzt genau an diesen Zugangsbarrieren an und drängt auf eine grundsätzlich öffentliche Verfügbarkeit wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Damit werden wissenschaftliche Beiträge einer allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sowohl Angehörige der wissenschaftlichen Profession als auch Laien[3] können Open-Access-Veröffentlichungen rezipieren – und ggf. sogar kommentieren und beurteilen. Eine Vorreiterrolle hat diesbezüglich die Public Library of Science (PLOS) übernommen, die als Open-Access-Plattform 2001 gegründet wurde und nicht zuletzt das Ziel verfolgte, die wissenschaftsinteressierte Öffentlichkeit in ihr Publikationsangebot miteinzubeziehen: „PLOS believes that the general public should have access to the scientific literature, tools to understand that literature, and even the opportunity to engage in scientific debates.“ (Gross 2012, S. 354)

Während Open Access das wissenschaftliche Publikum erweitert und damit die Möglichkeiten zur Wissensrezeption entgrenzt, kristallisiert sich gegenwärtig auch eine Öffnung der Wissensproduktion über die Grenzen der wissenschaftlichen Profession hinaus. Das Schlagwort dafür ist Citizen Science. Gemeint ist damit eine Inklusion von (auch) Nicht-Wissenschaftlern in die Forschung, insbesondere in Prozesse der Datengenerierung und Datenauswertung. Als technologischer Treiber aktueller Citizen Science gelten das Internet und die Verbreitung von mobilen Endgeräten (Haklay 2012). Die digital vermittelte Partizipation kann etwa im Messen des Geräuschpegels der Umgebung via Smartphone, dem „Falten“ virtueller Proteine in spielerischen Umwelten am PC oder der Beschreibung und Klassifizierung von Galaxien oder Kunstwerken bestehen. Die Projekte werden dabei typischerweise von professionellen Wissenschaftlern initiiert und koordiniert.

Das zeitgenössische Programm einer offenen Wissenschaft schließt an die normativen Prämissen der Mertonschen Prinzipien an und radikalisiert diese.

Auch und gerade wissenschaftspolitisch wird die neue Bürgerwissenschaft forciert. Bei der Gründung der European Citizen Science Association (ECSA) formulierte der EU-Forschungskommissar Janez Potočnik 2013 das ehrgeizige Ziel, innerhalb der nächsten fünf Jahre über fünf Millionen Bürger als Citizen Scientists zu motivieren (Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung 2014). Im Rahmen der Digitalen Agenda der EU-Kommission wird die Teilnahme von Bürgern in Forschungsprozessen als wichtiger Baustein zukunftsfähiger und innovativer Wissenschaft betrachtet (DG Connect 2013). Mit der jüngst gegründeten digitalen Plattform www.buergerschaffenwissen.de, die vom BMBF im Rahmen eines großformatigen Verbundprojekts gefördert wird, soll Bürgerwissenschaft nun auch in Deutschland digital verankert werden. Wie auch immer Citizen Science konkret ausgestaltet wird: Ihr Ziel ist die (typischerweise digital vermittelte) Inklusion der Gesellschaft in die Wissensproduktion und eine damit verbundene Ausweitung des „Universalismus“ der Wissenschaft – auch wenn, abgesehen von markanten Ausnahmefällen, die Aktivitäten der Laien weithin auf Zuarbeiterdienste beschränkt bleiben (Dickel und Franzen 2015).

Fazit

Der Buchdruck ermöglichte die Ausdifferenzierung eines modernen Wissenschaftssystems, das in kognitiver Hinsicht auf Offenheit zielt. Die Mertonschen Normen können als normative Selbstreflexion dieser wissenschaftlichen Strukturbedingung interpretiert werden. Die zeitliche und sachliche Offenheit der Wissenschaft vollzieht sich aber paradoxerweise durch ihre soziale Schließung als Profession. Diese Professionsgrenze wissenschaftlicher Praxis wird durch Open Access und Citizen Science zwar nicht gesprengt, aber doch in Frage gestellt. Diese Infragestellung ist ernst zu nehmen: Wenn man in Rechnung stellt, wie disruptiv der Buchdruck auf die Gesellschaft gewirkt hat und wie folgenreich dieses neue Medium für die Kommunikation von Wissen war, erscheint es nur folgerichtig, vom aktuellen Medienwechsel hin zur digitalen Kommunikation eine mindestens ähnlich disruptive Wirkung zu erwarten (Baecker 2007).

Eine Folgenabschätzung der zeitgenössischen, medientechnologischen Innovation im Hinblick auf die Wissenschaft ist dabei aufgrund der gesellschaftlichen Eingriffstiefe aktueller Digitalisierungsprozesse notwendigerweise zur Spekulation gezwungen (Dickel 2013). Eine plausible Spekulation ist dabei die Folgende: Mit der Umstellung wissenschaftlicher Kommunikation auf elektronisch-digitale Verbreitungswege und der damit verknüpften normativ ausgeflaggten Programmatik einer weitgehenden Öffnung der Wissensrezeption (Open Access) und Wissensproduktion (Citizen Science) scheint die Emergenz eines sozial entgrenzten Wissenschaftssystem vorstellbar. Dieses wäre nicht mehr primär durch die Berufsrolle des Wissenschaftlers strukturiert und qua professioneller Autorität monopolisiert, sondern würde vielmehr die Gesellschaft insgesamt als potenzielle Leser und Autoren, Wissensrezipienten und Wissensproduzenten inkludieren. Der digitale Wandel könnte damit als Einlösung des programmatischen Versprechens der modernen Wissenschaft gedeutet werden – und zugleich die Erosion der Wissenschaft als professionell geschlossener Sphäre implizieren.

Dies provoziert nicht zuletzt die Befürchtung eines möglichen Vertrauensverlustes in wissenschaftliches Wissen im Kontext der neuen medialen Ökologie, die auch „Amateure“ zur Beteiligung ermuntert. Zum einen kann für den erweiterten wissenschaftlichen Inklusionsraum nicht umschlagslos eine normative Orientierung an intraprofessionalen (Selbst-)Regulierungsmechanismen unterstellt werden. Somit könnte dem Import außerwissenschaftlicher Relevanzen (etwa politischer Art) Tür und Tor geöffnet werden. Komplementär dazu könnten Wissenschaftler dazu verleitet werden, ihre Ergebnisse immer stärker an den Erfordernissen einer kurzfristig operierenden medialen Aufmerksamkeitsökonomie auszurichten (Weingart und Guenther 2016). Ob diese Befürchtungen angemessen oder aber lediglich als konservative Abwehrreflexe professioneller Selbstbehauptung zu deuten sind, wird davon abhängen, ob sich institutionelle Mechanismen der Regulierung von „Wahrheit“ herausbilden, die einem wesentlich offeneren System der Wissenskommunikation entsprechen (Dickel 2016).

Fußnoten

[1] Selbstverständlich lassen sich darüber hinaus noch sachliche Schließungsfaktoren anführen, die etwa in kognitiven Voraussetzungen der Teilnehmer oder dem faktischen Zugang zu Forschungsmitteln liegen. Die Fokussierung der hier zur Diskussion gestellten These erfolgt im Anschluss an eine Medienepocheneinteilung, die ausdrücklich als heuristisches Instrument und nicht als historische exakte Rekonstruktion zu verstehen ist. Vgl. zu diesem Vorgehen Baecker (2007).

[2] Dieses Unterkapitel basiert auf Dickel und Franzen 2015.

[3] Die Inklusion von Nicht-Wissenschaftlern ist dabei freilich weitgehend eine Art Kollateralfunktion, die aus den prinzipiellen Bestrebungen resultiert, Wissenschaft für einen möglichst breiten Kreis von potenziell Interessierten zu öffnen.

Literatur

Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

DG Connect (2013): Digital Science in Horizon 2020. European Commission. Online verfügbar unter http://ec.europa.eu/information_society/newsroom/cf/dae/document.cfm?doc_id=2124, zuletzt geprüft am 09. 06. 2017.

Dickel, Sascha (2013): Die Regulierung der Zukunft. „Emerging Technologies“ und das Problem der Exklusion des Spekulativen. In: Alfons Bora, Anna Henkel und Carsten Reinhard (Hg.): Wissensregulierung und Regulierungswissen. Weilerswist: Velbrück, S. 201–218.

Dickel, Sascha (2016): Trust in Technologies? Science after De-professionalization. In: Journal of Science Communication 15 (5), S. 1–7.

Dickel, Sascha; Franzen, Martina (2015): Digitale Inklusion. Zur sozialen Öffnung des Wissenschaftssystems. In: Zeitschrift für Soziologie 44 (5), S. 330–347.

Gross, Liza (2012): Practitioner’s Perspective: Science as a Public Resource: Rules of Engagement. In: Simone Rödder (Hg.): The Sciences’ Media Connection. Public Communication and its Repercussions. Dordrecht: Springer, S. 353–360.

Haklay, Muki (2012): Citizen Science and Volunteered Geographic Information: Overview and Typology of Participation. In: Daniel Sui, Sarah Elwood und Michael Goodchild (Hg.): Crowdsourcing Geographic Knowledge. Volunteered Geographic Information (VGI) in Theory and Practice. Dordrecht: Springer, S. 105–122.

Hasse, Raimund (2012): Das institutionalistische Programm. In: Sabine Maasen, Mario Kaiser, Martin Reinhart und Barbara Sutter (Hg.): Handbuch Wissenschaftssoziologie. Wiesbaden: Springer VS, S. 45–57.

Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (2014): Bürger schaffen Wissen. Wie Citizen Science in Deutschland ausgebaut werden soll. Online verfügbar unter http://www.ufz.de/index.php?de=35275, zuletzt geprüft am 09. 06. 2017.

Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Merton, Robert King (1972): Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur. In: Peter Weingart (Hg.): Wissenschaftssoziologie I. Wissenschaftliche Entwicklung und sozialer Prozess. Ein Reader. Frankfurt am Main: Athenäum-Fischer, S. 45–59.

Schimank, Uwe (2012): Wissenschaft als gesellschaftliches Teilsystem. In: Sabine Maasen, Mario Kaiser, Martin Reinhart und Barbara Sutter (Hg.): Handbuch Wissenschaftssoziologie. Wiesbaden: Springer VS, S. 113–123.

Schrape, Jan-Felix (2010): Neue Demokratie im Netz? Eine Kritik an den Visionen der Informationsgesellschaft. Bielefeld: transcript.

Weingart, Peter; Guenther, Lars (2016): Science Communication and the Issue of Trust. In: Science Communication 15 (5), S. 1–11.

Autor

Prof. Dr. Sascha Dickel

ist seit 2017 Juniorprofessor für Mediensoziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit den Arbeitsgebieten Medien- und Wissenschaftssoziologie, Digitalisierung, Partizipation, Naturverhältnisse, Zukünfte.