Schwerpunktthema - Method(olog)ische Fragen der Inter- und Transdisziplinarität – Wege zu einer praxisstützenden Interdisziplinaritätsforschung
Methodische Transdisziplinarität
Methodische Transdisziplinarität
von Jürgen Mittelstraß, Universität Konstanz
Transdisziplinarität wird als ein Forschungs- und Wissenschaftsprinzip verstanden, das überall dort wirksam wird, wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird. Hingegen ist Transdisziplinarität kein Theorieprinzip, das Lehrbücher verändern könnte. Wie Fachlichkeit und Disziplinarität ist auch Transdisziplinarität ein forschungsleitendes Prinzip und eine wissenschaftliche Organisationsform, allerdings in der Weise, dass Transdisziplinarität fachliche und disziplinäre Engführungen aufhebt, die sich eher institutionellen Gewohnheiten als wissenschaftlichen Notwendigkeiten verdanken. Methodische Transdisziplinarität heißt, dass diese Aufhebung selbst argumentativ erzeugt und gerechtfertigt wird.
1 Vorbemerkung
Transdisziplinarität - in einem wissenschaftstheoretischen Kontext von mir erstmals 1986 auf einer Tagung des Bielefelder Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) im Sinne einer Weiterentwicklung des Konzepts der Interdisziplinarität als Terminus vorgeschlagen (Mittelstraß 1987, S. 152-158) - hat in der Wissenschaft als Konzept Fuß gefasst und beginnt bald schon ein Modewort zu werden. Nicht nur die Wissenschaft, wenn sie über die eigene Forschungspraxis nachdenkt, auch die Wissenschaftspolitik, wenn diese sich einen wissenschaftstheoretisch gebildeten Eindruck zu verschaffen sucht, führt es im Munde. Dabei sieht es immer häufiger so aus, als erkläre sich Transdisziplinarität gewissermaßen von selbst, sei evident, was gemeint ist, wenn dieser Ausdruck fällt. Doch das ist keineswegs der Fall. Zwar gibt es gelegentlich bereits Versuche, Transdisziplinarität als Methode zu definieren und den Wissenschaften in Form einer ausgearbeiteten Methodologie zu empfehlen, doch steckt dahinter eher ein Missverständnis denn eine Einsicht - das Missverständnis nämlich, Transdisziplinarität sei selbst etwas, das sich in theoretischer Form, hier in Methodenform, formulieren ließe (dazu später mehr unter dem Stichwort ‚methodische' Transdisziplinarität). Die Frage ist zunächst, wie sich das, was wir als Transdisziplinarität bezeichnen, zur disziplinären Struktur der Wissenschaft verhält. Oder anders gefragt: Hat Disziplinarität, die uns bisher auf unseren wissenschaftlichen Wegen begleitete, keine Zukunft mehr? Und ist Interdisziplinarität, die viel beschworene, wenn es um ein gut nachbarschaftliches Verhältnis der Disziplinen untereinander geht, nicht mehr genug? Was ist überhaupt Transdisziplinarität? Hier eine Antwort - in vier Stichworten, wobei ich - mir fällt auch nicht jeden Tag etwas Neues ein - auf einige frühere Arbeiten zurückgreife (zuletzt: Mittelstraß 2003, 2002, 2000).
2 Disziplinarität, Interdisziplinarität und die neue Unübersichtlichkeit der wissenschaftlichen Dinge
Unser Wissenschaftssystem ist auf eine beunruhigende Weise unübersichtlich geworden. Das gilt nicht nur hinsichtlich eines sich immer stärker beschleunigenden Wachstums des Wissens, sondern auch in organisatorischer und institutioneller Hinsicht. Eine fachliche und disziplinäre Partikularisierung nimmt zu; die Fähigkeit, noch in Disziplinaritäten, d. h. in größeren wissenschaftlichen Einheiten, zu denken, nimmt ab. Grenzen der Fächer und Grenzen der Disziplinen, wenn man sie so überhaupt noch wahrnimmt, drohen dabei mehr und mehr nicht nur zu institutionellen Grenzen, sondern auch zu Erkenntnisgrenzen zu werden. Entsprechend verbindet sich mit dem Begriff der Interdisziplinarität, der dieser Entwicklung seit langem entgegengesetzt wird, aber auch eine Reparaturvorstellung, die auf Umwegen und auf Zeit zu einer neuen wissenschaftlichen Ordnung führen soll.
Dabei ist Interdisziplinarität weder etwas Normales, noch etwas wirklich Neues, noch die wissenschaftliche Ordnung schlechthin. Sie korrigiert, wo sie gelingt, wissenschaftliche Fehlentwicklungen, macht aber auch deutlich, dass ein (wissenschaftliches) Denken in größeren disziplinären Einheiten offenbar verloren gegangen ist. Aus Partikularitäten soll wieder ein Ganzes entstehen, im systematischen wie im institutionellen Sinne. Hier soll im Folgenden nicht so sehr der institutionelle Gesichtspunkt, die Wiederherstellung wirklicher Disziplinaritäten, im Vordergrund stehen, sondern die Rolle fach- und disziplinenübergreifender Strukturen und Strategien in der Forschung (mittelbar auch in der Lehre).
Zunächst ist es zweckmäßig, sich in Erinnerung zu rufen, dass Fächer und Disziplinen etwas durch die Wissenschaftsgeschichte Gewordenes und ihre Grenzen in dieser Hinsicht weder Objektgrenzen noch theoretische Grenzen, sondern historisch gewachsene Grenzen sind. Zudem wird Identität gebildet durch bestimmte Forschungsgegenstände, Theorien, Methoden, Forschungszwecke, die sich häufig nicht zu fachlichen und disziplinären Definitionen ergänzen, sondern interdisziplinär interferieren. Dies kommt nicht nur darin zum Ausdruck, dass sich Disziplinen in ihrer Arbeit von methodischen und theoretischen Vorstellungen leiten lassen, die, wie etwa die Begriffe des Gesetzes, der Kausalität und der Erklärung, nicht disziplinär bestimmt sind, sondern auch darin, dass sich die Probleme, zu deren Lösung die Wissenschaften dienen, häufig nicht einfach in einen disziplinären Rahmen einfügen. So waren z. B. in der Geschichte des Problems der theoretischen Beschreibung der Wärme die disziplinären Zuständigkeiten keineswegs immer die gleichen. Zunächst galt Wärme als innere Bewegung der Materie und damit als Gegenstand der Physik. Mit der von Boerhaave Anfang des 18. Jahrhunderts formulierten und später von Lavoisier ausgearbeiteten Wärmestofftheorie wird Wärme, da sie eben als Stoff aufgefasst wurde, zum Gegenstand der Chemie. Schließlich wechselt mit der kinetischen Wärmetheorie die Wärme erneut die Disziplin und wird wieder zu einem physikalischen Gegenstand. Das bedeutet, nicht die Gegenstände (allein) definieren die Disziplin, sondern die Art und Weise, wie wir theoretisch mit ihnen umgehen.
Das Beispiel lässt sich auch so verallgemeinern, dass sich bestimmte Probleme dem Zugriff einer einzelnen Disziplin entziehen. Dies gilt insbesondere für solche Probleme, die sich, wie etwa die Stichworte Umwelt, Energie und Gesundheit deutlich machen, anderen als allein wissenschaftlichen Fragestellungen verdanken. Es gibt, und nicht nur bezogen auf derartige Stichworte, eine Asymmetrie von Problementwicklungen und disziplinären Entwicklungen, und diese vergrößert sich noch dadurch, dass die disziplinären und Fachentwicklungen durch wachsende Spezialisierung bestimmt werden. Das aber bedeutet, dass es unter der in dieser Situation beschworenen Interdisziplinarität auch nicht um ein modisches Ritual geht, sondern um Zwänge, die sich durch die Problementwicklung selbst stellen. Wenn uns die Probleme, wissenschaftliche wie außerwissenschaftliche, nicht den Gefallen tun, sich selbst disziplinär oder gar fachlich zu definieren, dann bedarf es eben besonderer Anstrengungen, die in der Regel aus den Fächern oder Disziplinen herausführen. Mit anderen Worten, ganz gleich, in welchem Sinne hier Interdisziplinarität verstanden wird, als Interdisziplinarität, die größere disziplinäre Orientierungen wiederherstellt, oder als tatsächliche Erweiterung des Erkenntnisinteresses innerhalb von Fächern und Disziplinen und über Fächer und Disziplinen hinweg, eines dürfte klar sein: Interdisziplinarität im recht verstandenen Sinne geht nicht zwischen den Fächern oder den Disziplinen hin und her oder schwebt, dem absoluten Geist nahe, über den Fächern und den Disziplinen. Sie hebt vielmehr fachliche und disziplinäre Engführungen, wo diese der Problementwicklung und einem entsprechenden Forschungshandeln im Wege stehen, wieder auf; sie ist in Wahrheit Transdisziplinarität.
3 Transdisziplinarität
Während wissenschaftliche Zusammenarbeit allgemein die Bereitschaft zur Kooperation in der Wissenschaft und Interdisziplinarität in der Regel in diesem Sinne eine konkrete Zusammenarbeit auf Zeit bedeutet, ist mit Transdisziplinarität gemeint, dass Kooperation zu einer andauernden, die fachlichen und disziplinären Orientierungen selbst verändernden wissenschaftssystematischen Ordnung führt. Dabei stellt sich Transdisziplinarität zum einen als eine Forschungs- und Arbeitsform der Wissenschaft dar, wo es darum geht, außerwissenschaftliche Probleme, z. B. die schon genannten Umwelt-, Energie- und Gesundheitsprobleme, zu lösen. Zum anderen ist Transdisziplinarität auch ein innerwissenschaftliches, die Ordnung des wissenschaftlichen Wissens und der wissenschaftlichen Forschung selbst betreffendes Prinzip. In beiden Fällen ist Transdisziplinarität ein Forschungs- und Wissenschaftsprinzip, das dort wirksam wird, wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird.
Im Übrigen treten reine Formen von Transdisziplinarität ebenso wenig auf wie reine Formen von Disziplinarität oder Fachlichkeit. Auch diese verstehen und realisieren sich meist im Kontext benachbarter wissenschaftlicher Formen, etwa mit soziologischen Komponenten in der Arbeit des Historikers, chemischen Komponenten in der Arbeit des Biologen oder biologischen Komponenten in der Arbeit des Mediziners. Insofern sind denn auch Fachlichkeit, Disziplinarität und Transdisziplinarität forschungsleitende Prinzipien bzw. idealtypische Formen wissenschaftlicher Arbeit, Mischformen ihre Normalität. Wichtig ist allein, dass sich Wissenschaft und Forschung dessen bewusst sind und produktive Forschung nicht durch überholte (meist gewohnheitsmäßig vorgenommene) Einschränkungen auf fachliche und disziplinäre Engführungen begrenzt wird. Eine derartige Begrenzung dient weder dem wissenschaftlichen Fortschritt noch einer Welt, die im Blick auf eigene Probleme Wissenschaft weniger bewundern als nutzen will.
Mit anderen Worten: Transdisziplinarität hebt innerhalb eines historischen Konstitutionszusammenhanges der Fächer und Disziplinen erstens Engführungen auf, wo diese ihre historische Erinnerung verloren und ihre problemlösende Kraft über allzu großer Spezialisierung eingebüßt haben, aber sie führt nicht in einen neuen fachlichen oder disziplinären Zusammenhang. Deshalb kann sie auch die Fächer und Disziplinen nicht ersetzen. Transdisziplinarität ist zweitens ein wissenschaftliches Arbeits- und Organisationsprinzip, das problemorientiert über Fächer und Disziplinen hinausgreift, aber kein transwissenschaftliches Prinzip. Die Optik der Transdisziplinarität ist eine wissenschaftliche Optik, und sie ist auf eine Welt gerichtet, die, selbst mehr und mehr ein Werk des wissenschaftlichen und des technischen Verstandes, ein wissenschaftliches und technisches Wesen hat. Schließlich ist Transdisziplinarität drittens ein Forschungsprinzip, kein oder allenfalls in zweiter Linie - wenn nämlich auch die Theorien transdisziplinären Forschungsprogrammen folgen - ein Theorieprinzip. Sie leitet Problemwahrnehmungen und Problemlösungen, aber sie verfestigt sich nicht in theoretischen Formen. Deshalb ist Transdisziplinarität auch keine Methode, womöglich ausgearbeitet in Methodologieform.
Was hier noch immer sehr abstrakt erscheinen mag, hat seine konkreten Formen längst in der wissenschaftlichen Praxis gefunden und wird zunehmend auch in einem institutionellen Rahmen zu fördern versucht. Dies gilt z. B. für neue wissenschaftliche Zentren, die in den USA, in Berkeley, Chicago, Harvard, Princeton und Stanford, entstehen (Garwin 1999, S. 3), in Harvard z. B. das „Center for Imaging and Mesoscale Structures“. Hier stehen Fragestellungen im Vordergrund, bei denen es keinen Sinn macht, sie einem bestimmten Fach oder einer bestimmten Disziplin zuzuordnen. Es geht um Strukturen einer bestimmten Größenordnung allgemein, nicht um disziplinäre Gegenstände. Dabei sind auch andere institutionelle Formen möglich, ohne dass diese in einem Gebäude zusammengefasst werden, wie z. B. im Falle des „Center for Nanoscience (CeNS)“ an der Universität München.
Derartige Zentren sind auch nicht mehr nach dem traditionellen Muster von Physik-, Chemie-, Biologie- und anderen Instituten oder Fakultäten organisiert, sondern unter einem transdisziplinären Blickwinkel, der in diesem Falle der tatsächlichen Wissenschaftsentwicklung folgt. Das gilt auch dort, wo Einzelprobleme, nicht weit ausgreifende Programme im Vordergrund stehen, wie z. B. im Falle des neuen „Bio-X“-Zentrums in Stanford (Garwin 1999, S. 3) oder des „Center for Genomics and Proteomics“ in Harvard (vgl. Malakoff 1999, S. 610 ff.). Hier verwenden Biologen ausgereifte physikalische und chemische Methoden zur Aufklärung der Struktur von biologisch relevanten Makromolekülen und befassen sich Physiker wie der Nobelpreisträger Steven Chu, einer der Initiatoren des „Bio-X“-Programms, mit biologischen Gegenständen, die sich mit modernsten physikalischen Methoden manipulieren lassen (vgl. Garwin 1999). Disziplinäre Kompetenzen bleiben also die wesentliche Voraussetzung für transdisziplinär definierte Aufgaben, aber sie allein reichen nicht mehr aus, um Forschungsaufgaben, die aus den klassischen Fächern und Disziplinen herauswachsen, erfolgreich zu bearbeiten. Das wird, auch neben den beispielhaft genannten Zentrenbildungen, in Zukunft zu neuen Organisationsformen führen, in denen die Grenzen zwischen den Fächern und Disziplinen blass werden.
Und dies gilt für alle institutionellen Formen der Forschung und der Wissenschaft, keineswegs nur für die Universitätsforschung. Diese stellen in Deutschland derzeit ein außerordentlich differenziertes System dar, das von der Universitätsforschung, definiert über die Einheit von Forschung und Lehre, über die Max-Planck-Forschung, definiert über bahnbrechende Leistungsprofile in neuen Wissenschaftsentwicklungen, die Großforschung, definiert über große Forschungsgeräte und zeitlich begrenzte Forschungs- und Entwicklungsaufgaben (früher ganz offen deklariert als im nationalen Interesse), die Fraunhofer-Forschung, definiert über wirtschaftsnahe Anwendungsforschung, bis zur Industrieforschung, definiert über eine enge Verbindung von Forschung und Entwicklung, reicht.
Doch die Logik dieses Systems, um das uns andere Länder beneiden, weil es nicht nur von wissenschaftlicher Vernunft, sondern auch von außergewöhnlicher Effizienz zeugt, beginnt problematisch zu werden. Sie führt nämlich zu einer Verselbständigung von Teilsystemen, wo doch eigentlich - im Sinne der erwähnten Zentrenbildungen - Vernetzung auf niedrigem institutionellen Niveau das Gebot der Stunde sein sollte, nicht Ausbau von Systemselbständigkeiten auf hohem institutionellen Niveau. Für Deutschland bedeutet dies, dass institutionalisierte Forschungsverbünde auf Zeit an die Stelle sich immer stärker gegeneinander isolierender Wissenschaftsteilsysteme treten sollten. Die Begründung ist gerade aus der Sicht der Wissenschaft einfach: Das Wissenschaftssystem muss sich bewegen, wenn sich die Forschung bewegt. Im Augenblick laufen bei uns die Dinge eher umgekehrt: Nicht die Forschung sucht sich ihre Ordnung, sondern eine in Teilsystemen gegebene und immer fester werdende Ordnung sucht sich ihre Forschung. Hier wird eine Wissenschaftsordnung kontraproduktiv. Das aber kann nicht die Zukunft der Forschung und eines Wissenschaftssystems wie dasjenige Deutschlands sein. Wie man sieht, hat die zunehmende Transdisziplinarität der wissenschaftlichen Forschung weit reichende institutionelle Folgen oder sollte derartige Folgen haben.
Bedeutet das in diesem Abschnitt über Transdisziplinarität Gesagte, dass wir vor einem fundamentalen Paradigmenwechsel stehen, in dem sich nicht so sehr theoretische Konzeptionen - wie etwa im Übergang von der Aristotelischen zur Newtonschen Physik - verändern, sondern in dem die Ordnung unseres wissenschaftlichen Wissens, damit auch unseres wissenschaftlichen Forschens und unserer wissenschaftlichen Ausbildung, zur Disposition steht? Soweit wird es nicht kommen. Es ändern sich ja nicht die wissenschaftlichen Rationalitätsstandards und mit diesen die Methoden und die Formen der Theoriebildung, sondern die Organisationsformen von Wissenschaft und wissenschaftlicher Forschung. Transdisziplinarität ist ein Forschungs- und Wissenschaftsprinzip, das überall dort wirksam wird, wo eine allein fachliche oder disziplinäre Definition von Problemlagen und Problemlösungen nicht möglich ist bzw. über derartige Definitionen hinausgeführt wird, kein Theorieprinzip, das unsere Lehrbücher veränderte. Wie Fachlichkeit und Disziplinarität ist auch Transdisziplinarität ein forschungsleitendes Prinzip und eine wissenschaftliche Organisationsform, allerdings in der Weise, dass Transdisziplinarität fachliche und disziplinäre Engführungen aufhebt, die sich eher institutionellen Gewohnheiten als wissenschaftlichen Notwendigkeiten verdanken.
4 Methodische Transdiziplinarität
Wenn es richtig ist, dass Transdiziplinarität ein Forschungs- und Wissenschaftsprinzip, kein Theorieprinzip, aber auch keine Methodenform ist, die sich in einer Methodologie ausdrücken ließe - was bedeutet dann methodische Transdisziplinarität? Kann etwas methodisch heißen, ohne in einer Methodologie ausdrückbar zu sein? Gemeint ist das Folgende.
Zuvor war die Unterscheidung getroffen worden zwischen Problemstellungen, die sich ‚in der Welt', d. h. im Zuge gesellschaftlicher, selbst wissenschaftlich und technisch imprägnierter Entwicklungen ergeben (als Beispiele wurden Umwelt, Energie und Gesundheit genannt), und solchen, die die Wissenschaft im Zuge ihres Forschungshandelns selbst generiert. In beiden Fällen war von der Notwendigkeit transdisziplinärer Erweiterungen die Rede. Transdisziplinarität, die sich auf außerwissenschaftliche Problemstellungen bezieht, sei nun praktische Transdisziplinarität genannt, Transdisziplinarität, die aus der Lösung innerwissenschaftlicher Problemstellungen entsteht, theoretische Transdisziplinarität. Als Beispiel in diesem Sinne praktischer Transdisziplinarität mag noch einmal die Lösung ökologischer Probleme dienen. Ökologische Probleme erfordern das Zusammenwirken vieler Disziplinen, z. B. Physik, Chemie, Biologie, Klimatologie, aber auch Soziologie und Psychologie; diese tragen mit ihrem disziplinären Wissen zu deren Lösung bei, wobei es einer klugen und effizienten Koordination, keiner Erweiterung oder Transformation der beteiligten Disziplinen bedarf. Diese steuern bei, was sie wissen, aber sie verändern sich in ihren Wissens- und methodologischen Formen nicht.
Eben das aber kann erforderlich sein, wenn es darum geht, von der Wissenschaft selbst generierte ('gestellte') Probleme zu lösen, solche nämlich, die wie ökologische Probleme keine 'gegebenen', in einer gemeinsamen Welt auftretenden Probleme sind, sondern solche, die durch eine Forschungspraxis selbst erzeugt oder im Zuge einer Forschungsentwicklung 'entdeckt' werden. Beispiel einer in diesem Sinne theoretischen Transdisziplinarität ist die schon erwähnte Strukturforschung. Erzeugung, Analyse, Manipulation und Nutzbarmachung von Strukturen einer bestimmten Größenordnung sind nicht nur für Physik, Chemie und Biologie von Interesse, sondern auch für Geologie, Materialwissenschaften, Medizin und Computerwissenschaften. Dafür stellt das Harvard-Zentrum teure wissenschaftliche Geräte, z. B. zur Visualisierung von Nanostrukturen, bereit und fördert auf diese und andere, etwa die Infrastruktur betreffende Weise eine kooperative Atmosphäre.
Nun soll hier zwischen praktischer und theoretischer Transdisziplinarität nicht derart unterschieden werden, dass nur letztere in einem auch allgemeineren Sinne methodisch orientiert sei. Eine derartige Orientierung gilt natürlich auch dort - oder, besser gesagt, sollte auch dort gelten -, wo es um die Lösung praktischer Probleme und, um dieses Zweckes willen, um den Einsatz unterschiedlicher Disziplinen geht. Auch hier stellen sich methodische Probleme, und nicht jede Zusammenführung von Disziplinen führt zum Erfolg. Worum geht es? Ein Beispiel soll weiterhelfen.
Im Jahre 2000 bildete die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Bildung, Begründung und Etablierung von Gesundheitsstandards befassen sollte. Den Hintergrund bildete einerseits der merkwürdige Umstand, dass Gesundheit noch immer - in der Lebenswelt wie in der wissenschaftlichen Welt - ein vager Begriff ist, der meist als Abwesenheit von Krankheit zu bestimmen versucht wird (‚Gesundheit: siehe Krankheit'), dann aber seltsam leer bleibt, andererseits der desolate Zustand des deutschen Gesundheitssystems, dem durch die übliche Flickschusterei, ausgeführt im Reigen der Kommissionen, offenbar nicht beizukommen ist. Hier sollten fundamentalere Überlegungen (etwa zum Gesundheitsbegriff) angestellt und die notwendigen Klärungen tiefer - bis in anthropologische und ethische Überlegungen hinein - gelegt werden. Die Arbeitsgruppe schloss Mediziner, Juristen, Ökonomen, Biologen und Philosophen ein. Die Ergebnisse wurden in einer Studie mit dem Titel „Gesundheit nach Maß?“ vorgelegt (Gethmann 2004).
Worin lagen die Arbeitsprobleme einer derartigen Gruppe, und wie wurden sie auf eine methodisch ausweisbare Weise gelöst? Der faktische Prozess sah so aus, dass sich die Disziplinaritäten, repräsentiert durch unterschiedliche disziplinäre Kompetenzen, aneinander abarbeiteten - von rein disziplinär bestimmten ersten Entwürfen über wiederholte Überarbeitungen unter wechselnden disziplinären Aspekten zu einem gemeinsamen Text. Voraussetzungen dafür (auch wieder in zeitlicher Ordnung) waren:
- Der uneingeschränkte Wille zu lernen und die Bereitschaft, die eigenen disziplinären Vorstellungen zur Disposition zu stellen.
- Die Erarbeitung eigener interdisziplinärer Kompetenz, und zwar in der produktiven Auseinandersetzung mit anderen disziplinären Ansätzen.
- Die Fähigkeit zur Reformulierung der eigenen Ansätze im Lichte der gewonnenen interdisziplinären Kompetenz.
- Die Erstellung eines gemeinsamen Textes, in dem die Einheit der Argumentation ('transdisziplinäre Einheit') an die Stelle eines Aggregats disziplinärer Teile tritt.
Im konkreten Fall waren diese Voraussetzungen gegeben bzw. gelang der beschriebene Prozess.
Dessen methodisch rekonstruierbare Stufen waren, noch einmal kurz gefasst: disziplinärer Ansatz, Einklammerung des Disziplinären, Aufbau interdisziplinärer Kompetenz, ‚Entdisziplinierung' im Argumentativen, Transdisziplinarität als argumentative Einheit. Entscheidend ist der Gesichtspunkt des Argumentativen bzw. der Umstand, dass sich der ganze Prozess, in einem nicht-trivialen Sinne, im argumentativen Raum abspielt; im angeführten Beispiel: Die gesuchte Einheit, hier die Bestimmung von Gesundheitsstandards bzw. die Bestimmung von Maßen für ein gesundes Leben, wurde über unterschiedliche Disziplinen hinweg und gleichzeitig durch diese hindurch argumentativ erzeugt.
Mit anderen Worten: Das Methodische an dieser praktischen Transdisziplinarität liegt in dessen argumentativer Erzeugung und den dabei unterscheidbaren Stufen im Produktionsprozess. Das wiederum dürfte auch auf die hier als methodisch gekennzeichnete innerwissenschaftliche Transdisziplinarität zutreffen. Auch diese stützt sich auf disziplinäre Kompetenzen, bezieht diese aber nicht auf disziplinäre Gegenstände und konstituiert auf diese Weise eine neue ‚Disziplinarität', die sich gegenüber den Ausgangsdisziplinaritäten als Transdisziplinarität erweist. Ein Forschungsprogramm, z. B. die zuvor angeführte Strukturforschung, tritt aus den üblichen disziplinären Bestimmungen heraus, entwickelt eigene Arbeitsformen und verändert mit diesen (und der ihnen zugrunde liegenden Problemkonstitution) auch die involvierten Disziplinaritäten. Das heißt, in den Grenzen einer transdisziplinären Entwicklung bleiben auch die Disziplinen nicht das, was sie waren, zumindest verändern sich ihre methodischen und theoretischen Orientierungen. Nicht nur die Theorien im engeren Sinne, auch die Disziplinen selbst werden in den Forschungs- und Wissenschaftsprozess hineingezogen - auf eine methodisch rekonstruierbare Weise. Eben dies ist mit methodischer Transdisziplinarität gemeint.
Literatur
Garwin, L., 1999:
US Universities Create Bridges between Physics and Biology. In: Nature 397, 7. Januar 1999
Gethmann, C.F. u. a., 2004:
Gesundheit nach Maß? Eine transdisziplinäre Studie zu den Grundlagen eines dauerhaften Gesundheitssystems. Berlin: Akademie Verlag
Malakoff, D., 1999:
Genomic, Nanotech Centers Open: $ 200 Million Push by Harvard. In: Science 283, 29. Januar 1999, S. 610-611
Mittelstraß, J., 1987:
Die Stunde der Interdisziplinarität? In: Kocka, J. (Hrsg.): Interdisziplinarität. Praxis - Herausforderung - Ideologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 152-158
Mittelstraß, J., 2000:
Zwischen Naturwissenschaft und Philosophie. Versuch einer Neuvermessung des wissenschaftlichen Geistes. Konstanz (Konstanzer Universitätsreden 205)
Mittelstraß, J., 2002:
Transdisciplinarity - New Structures in Science. In: Max-Planck-Gesellschaft (ed.): Innovative Structures in Basic Research (Ringberg-Symposium October 4-7, 2000). München, S. 43-54
Mittelstraß, J., 2003:
Transdisziplinarität - wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit. Konstanz (Konstanzer Universitätsreden 214).
Kontakt
Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß, Direktor
Zentrum Philosophie und Wissenschaftstheorie
Universität Konstanz
Fach D 24, 78457 Konstanz
Tel.: +49 7531 88-2498 (Sekr. Sigrid Klauschke)
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