Die Crux mit dem Zielwissen. Erkenntnisziele in transdisziplinärer Nachhaltigkeitsforschung und deren methodologische Implikationen

Schwerpunktthema - Method(olog)ische Fragen der Inter- und Transdisziplinarität – Wege zu einer praxisstützenden Interdisziplinaritätsforschung

Die Crux mit dem Zielwissen

Erkenntnisziele in transdisziplinärer Nachhaltigkeitsforschung und deren methodologische Implikationen [1]

von Paul Burger, Universität Basel

Das Papier leistet einen Beitrag zur bisher vernachlässigten Diskussion um epistemische Ziele transdisziplinärer Wissenschaftspraktiken und die methodologische Funktion von Partizipation. Methodologie wird verstanden als die Lehre von der Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Methoden, eher zu wahren denn zu falschen Ergebnissen zu kommen. „Transdisziplinär“ bezeichnet den Typ von Wissenschaftspraxis, der zur Erreichung seiner Ziele eine Kooperation mit gesellschaftlichen AkteurInnen eingeht. Da wissenschaftliche Untersuchungen zweckrational auf die Erreichung epistemischer Ziele ausgerichtet sind, müssten sich diese Ziele von traditionellen unterscheiden, wenn besondere Mittel berechtigt sein sollen. Untersucht werden im Folgenden die Nachhaltigkeitsforschung und darin eingebettete Erkenntnisziele. Ob sich diese Ergebnisse auf transdisziplinäre Wissenschaftspraktiken allgemein übertragen lassen, bleibt offen. Ich werfe dazu zunächst einen kritischen Blick auf neuere Vorschläge für Erkenntnisziele im Bereich der Nachhaltigkeit (insbesondere „Zielwissen“), werde dann zweitens ‚Wissen von Handlungsoptionen' als epistemisches Ziel und drittens Partizipation als Element einer adäquaten Methodologie vorschlagen.

1     Epistemische Ziele: Die Ergänzung von Erklärungen mit Zielwissen

Forschung will nicht nur beschreiben (Daten sammeln), sondern systematisierend so vorgehen, dass Erklärungen resultieren. Theorien, Modelle, Experimente etc. haben zur Aufgabe, Erklärungen bezogen auf ihren Gegenstandsbereich zu ermöglichen. Erklärungen oder - in der Terminologie der Nachhaltigkeitsgemeinschaft - Systemwissen ist das epistemische Standardziel wissenschaftlicher Praktiken. [2] Blickt man nun auf die Diskussion um Aufgaben im Bereich der Nachhaltigkeitswissenschaften, fällt auf, dass diese die Beschränkung der epistemischen Ziele auf Erklärungen beklagt und neue Typen von Zielen vorschlägt.

Ein einflussreiches Beispiel ist das von der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichte Positionspapier (CASS 1997), das vor dem Hintergrund eines umfangreichen, aber wenig gesellschaftlichen Impakt zeitigenden Forschungsprogramms die Ausrichtung auf Ziel- und Transformationswissen verlangt. Wissenschaft solle sich nicht nur auf die Erklärung des aktuellen Zustands beschränken, sondern auch erarbeiten, auf welche Ziele hin sich die Gesellschaft entwickeln soll und wie die entsprechenden Transformationsprozesse zu gestalten seien. Analoge Forderungen wurden auch in Deutschland und Österreich erhoben und fanden Zustimmung innerhalb dieser wissenschaftlichen Gemeinschaft. Die Wissenschaft habe die Verantwortung, die Welt nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch gezielt mit zu verändern. [3]

Obwohl diese neuen Ideen viele positive Wirkungen zeitigten, blieben doch zwei Aspekte zu wenig geklärt, nämlich erstens, was überhaupt unter Zielwissen zu verstehen sei und zweitens, welche methodologischen Konsequenzen sich aus einem derartigen Ziel ergeben könnten. Neuere an Forschung und nicht nur an Beratung oder Expertise orientierten Vorschläge (siehe Abb. 1) machen auch deutlich, dass die Diskussion nicht stehen geblieben ist. So finden sich Komponenten wie Bewertungen, Handlungen oder Güter (Werte) in der Liste epistemischer Ziele:

Abb. 1: Ziele der Wissensproduktion

Abb. 1: Ziele der Wissensproduktion

Wenden wir uns zur Gewinnung größerer Klarheit der Frage zu, was mit „Zielwissen“ gemeint sein kann. Mindestens zwei Lesarten lassen sich nämlich für „Zielwissen“ unterscheiden: (1) welche Ziele Menschen tatsächlich verfolgen, (2) welche Ziele sie verfolgen sollen.

Wenn wir „Zielwissen“ als ergänzendes epistemisches Ziel von wissenschaftlicher Forschung akzeptieren wollen, dann sollten wir zunächst die spezifische Differenz dieses Wissenstyps klären. In den hier interessierenden epistemologischen Kontexten muss Wissen semantisch gesehen der Standardform „ich weiß, dass p“ genügen, wo das Ganze ein mentaler Zustand ist, p eine Proposition bedeutet und gelten muss, dass p wahr und begründet (gerechtfertigt, berechtigt etc.) ist. [4] Da mit „Zielwissen“ so etwas wie Wissen von Zielen gemeint ist, scheint es nahe liegend zu sein, „Zielwissen“ so zu verstehen, dass die Proposition p einen Zielzustand ausdrückt.

Für p können wir eine beliebige Zielaussage einsetzen, z. B. „Die Everglades sollen in 30 Jahren mindestens in ihrem jetzigen Zustand oder stärker naturnah sein“. „A weiß, dass p“ kann dann einerseits bedeuten, dass die betreffende Person einen sozialen Sachverhalt kennt, wenn dieses Ziel z. B. gesetzlich oder durch Vereinbarungen verankert ist. Das ist die unproblematische (schwache) Lesart. Darauf ausgerichtete sozial- oder verhaltenswissenschaftliche Forschung zielt auf Einstellungen und Güterpräferenzen von Handelnden. Es ist z. B. interessant zu wissen, wer die mit dem Kyoto-Protokoll eingegangenen Zielverpflichtungen oder wer die in einem Gesetz verankerten Ziele der Luftreinhaltung kennt. Allerdings, und das ist entscheidend, wird damit nicht die Intention eingefangen, die etwa die AutorInnen des CASS-Papiers mit „Zielwissen“ verfolgen - die Generierung von Zielen im Sinne von Orientierungswissen. Die zweite, starke Lesart versteht Zielwissen als genuinen Wissenstyp und besagt so etwas wie „ich weiß, dass dies das richtige Ziel ist“. Hier ist die Sollensaussage nicht deswegen wahr, weil dies die Akteure so sehen (sozialer Sachverhalt), sondern für sich selbst (in Analogie zu einer Erklärung). Das aber ist nicht trivial. Zielaussagen sind Sollensaussagen. Können Sollenssätze per se wahr oder falsch sein?

Die undifferenzierte Rede von „Zielwissen“ übersieht leicht den semantischen Unterschied zwischen Zielbestimmungen und deskriptiven Sätzen. Letztere unterscheiden sich von präskriptiven oder präferentiellen Sätzen durch eine kategoriale Differenz hinsichtlich ihrer Gültigkeitsbedingungen. Hinter die Wahrheitsfähigkeit von Sollensaussagen ist nämlich ein großes Fragezeichen zu setzen. Relevant ist dieser Punkt aber nicht um philosophischer Subtilitäten wegen. Wichtig ist dies, weil daraus epistemische und politische Konsequenzen erwachsen. Wenn die Wissenschaft die Aufgabe der Produktion von zuverlässigem Wissen hat und wenn die kategorialen Unterschiede von Zielwissen nicht beachtet werden, dann könnte leicht der Eindruck entstehen, dass die Wissenschaft zur Aufgabe hat, in Stellvertretung für die Gesellschaft die materiellen (richtigen) Ziele („Lösungsbeiträge“) zu identifizieren. Gewiss gibt es Beispiele wie bei Substanzen mit Risiken für die Gesundheit, bei denen Zielvorstellungen in sehr enger Relation zu Expertisen über Wirkzusammenhänge formuliert werden können (Grenzwerte). Aber das lässt sich nicht verallgemeinern (zumal auch bei Grenzwerten bekanntlich immer Spielräume bestehen). Erstens haben die Wissenschaften die methodischen Instrumente nicht, um einen Zielzustand festzulegen, sagen wir für die Menge der gefahrenen Autokilometer oder für das anzustrebende globale Klima oder für die Größe der künftigen Generationen. Zweitens gibt es äußerst selten das richtige Ziel. Wer mit Indikatorensystemen für die Messung von Nachhaltigkeit vertraut ist, weiß von den Schwierigkeiten zur Festlegung der Zielorientierungen. Diese folgen anerkannten, d. h. bereits ausgehandelten gesellschaftlichen Postulaten (vgl. MONET 2003). Sie werden nicht logisch deduktiv von allgemeinen (quasi naturgesetzlich geltenden) Prinzipien abgeleitet und sie unterstehen dem gesellschaftlichen Wandel. Quantitative Zielbestimmungen sind auch konzeptuell immer abhängig von explizit gemachten oder implizit verwendeten Wertehierarchien (Güterpräferenzen). Demokratische Entscheidungsprozesse, nicht aber die Methoden der Wissenschaften erlauben über die ihnen eigenen Verfahren und Instrumente Aushandlungen von Wertehierarchien.

Diese wenigen Hinweise sollen genügen. Sie tragen meinen Schluss hinreichend stark. Die Rede von Zielwissen in der stärkeren Lesart ist epistemisch betrachtet problematisch, da die epistemische Legitimität im Gegensatz zu Erklärungen höchst fraglich ist. Sie ist weiter auch politisch problematisch. Die undifferenzierte Rede von Zielwissen generiert eine Bias-Gefahr, dass nämlich die WissenschaftlerInnen ihre Güterpräferenzen in Stellvertretung für die Gesellschaft für gültig ausgeben.

Bei der schwachen Lesart geht es hingegen nicht um die Produktion von Zielorientierungen, sondern um die Feststellung der Güterpräferenzen und den damit einhergehenden Zielen der involvierten AkteurInnen. So müsste ein verantwortlich handelnder Unternehmer wissen, welche CO2-Reduktionsziele auf Grund der Kyoto-Verpflichtungen gelten. Im Rahmen eines Lokale Agenda 21-Prozesses müssten die Interessen und Ziele der Beteiligten bekannt werden. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive handelt es sich bei diesen Beispielen aber nicht um eine neue Wissensart. Güterpräferenzen, Interessen und Ziele können als soziale Sachverhalte aufgefasst werden, für deren Analyse die Sozialwissenschaften eine ganze Reihe von bekannten Methoden zur Verfügung haben. Wir können problemlos sagen „Es ist der Fall, dass die Akteursgruppe A die Ziele Z verfolgt“, ohne daraus bekanntlich schließen zu können, was gesollt ist, d. h. welche Ziele die vernünftigerweise anzustrebenden sind. Die schwache Lesart von Zielwissen ist unproblematisch und sollte als Komponente des sozialen Systems und deswegen als Teil des Systemwissens angesehen werden.

Dagegen bedarf die Rede von Zielwissen als ergänzende Leistung zu Erklärungen der Präzisierung, sollen Fehlleistungen vermieden werden. Die Angebote in der rechten Spalte der Abbildung 1 drücken Varianten einer dritten, präzisierenden Lesart aus. Ohne auf diese Vorschläge einzeln einzugehen, möchte ich als neu „Wissen von Handlungsoptionen“ vorschlagen und die weitere Diskussion daran ausrichten.

2     Neuer Vorschlag: Wissen von Handlungsoptionen

Wenn es einen wissenschaftlichen Forschungsbereich zu Nachhaltigkeit gibt, dann steht er unter dem durch die allgemeinen Elemente des Leitbilds abgesteckten normativen Rahmen. Dieses gesellschaftliche Leitbild zielt auf eine Steuerung menschlicher Handlungen, damit diese die langfristige Sicherung der ökologischen, sozialen, ökonomischen Grundlagen zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse mit berücksichtigen. Auch wenn es keinen positiven Zielzustand formuliert, enthält das UN-Leitbild identifizierbare normative Eckpunkte wie die inter- und intragenerationale Gerechtigkeit, die Menschenrechte und die Sicherung der ökologischen Lebensgrundlagen.

Welchen Stellenwert hat dieses politisch-regulative Leitbild für die Wissenschaft? Ich sehe mindestens zwei essentielle Rahmenbedingungen, die das Leitbild für die Wissenschaft aufstellt. Zum einen müssen sich alle, die sich in ihrer Tätigkeit (also z. B. Lehre und Forschung) auf das Leitbild als Label beziehen, de facto in den damit abgesteckten normativen Rahmen stellen. Wer das nicht tut (z. B. die Komponente der Gerechtigkeit verwirft oder „vergisst“) betreibt Etikettenschwindel. Zum anderen kommt die Nachhaltigkeitsforschung nicht umhin, die allgemeine Funktion dieses Leitbilds mit zu berücksichtigen. Es geht um die vorsorgende Steuerung menschlicher Handlungen. Will Wissenschaft dazu einen rationalisierenden Beitrag leisten, muss sie tatsächlich über das Erklären hinausgehen und sich die Analyse von Zielen zu eigen machen.

Betrachten wir ein Beispiel. Global und lokal gesehen ist die mehr oder weniger ungehindert fortschreitende Versiegelung von Böden eines der schwerwiegendsten Umweltprobleme. In der Schweiz und in Deutschland ist der hohe Flächenverbrauch nicht mehr hauptsächlich an die Bevölkerungszunahme, sondern an wirtschaftliche Entwicklungen gekoppelt (Funktion von Wohlstand). Folgt man der im Leitbild enthaltenen Rahmenbedingung der langfristigen Sicherung der ökologischen Lebensgrundlagen, ist der hohe Flächenverbrauch eindeutig nicht nachhaltig, da er zum einen den Verlust von landwirtschaftlich wertvollen Böden, zum anderen die Fragmentierung von Ökosystemen mit negativen Auswirkungen auf die Artenvielfalt zur Folge hat.

Traditionell an Erklärung ausgerichtete Wissenschaft kann Forschung über diese Problematik mit ihrem potentiellen Beitrag für eine nachhaltigere Bodennutzung legitimieren - etwa so wie medizinisch-biologische Grundlagenforschung mit Aussicht auf verbesserte Heilmöglichkeiten begründet wird. In Bezug auf die geforderte Handlungsorientierung wird der Beitrag dieser Wissenschaften allerdings auf Erklärungsleistungen beschränkt bleiben. So können von naturwissenschaftlicher Seite Bedingungen für Habitate bestimmter Arten untersucht und diese mit den durch die Bodennutzung einhergehenden Auswirkungen auf die Habitate verglichen werden. Von Seiten der Sozialwissenschaften können ökonomische Zwänge und Lebensstandards als Triebkräfte der Entwicklung des sozialen Systems und entsprechend als Gründe für die nicht-nachhaltige Bodennutzung identifiziert werden. Reflexive Wissenschaften können weiter auf die für ökonomische und sozialwissenschaftliche Theorien charakteristische Entkopplung der sozialen Systeme von ihrer natürlichen Umwelt hinweisen. Derartige Forschung entwickelt Antworten auf „Warum-Fragen“. Aus der Beschreibung der Gründe für eine negativ bewertete Entwicklung geht aber analytisch nicht hervor, welche Ziele der therapeutischen Absicht gerecht würden.

Die zuvor kritisch diskutierte Redeweise von „Zielwissen“ zieht ihre Motivation aus der anvisierten Handlungsorientierung. Ziele stellen eine wesentliche Komponente von Handlungen dar. Sie kommen im Rahmen der Nachhaltigkeitswissenschaften unweigerlich in den Blick, ja bilden ein konstitutives Element des Gegenstandsbereichs (im Gegensatz zur erklärenden Ökologie). Vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussion ist allerdings zu fragen, was genau zu den Aufgaben der Wissenschaft relativ zu dieser Zielkomponente gehört. Weiter gilt es auch zu überlegen, wie diese Zielkomponente in den größeren Kontext der Handlungsstruktur eingebaut ist. Beginnen wir mit der zweiten dieser Aufgaben.

2.1     Das System „Handlung“ und seine Umgebung

Obwohl wir über mehrere miteinander konkurrierende Handlungstheorien verfügen, besteht disziplinenübergreifend weitgehend Einigkeit über die strukturellen Komponenten einer Handlung. So beinhaltet eine Handlung, dass sie von einer Person getragen ist, dass sie Zielen/Zwecken auf Grund einer Situationseinschätzung und unter Verwendung von Mitteln folgt, dass ihre Realisation von einer Entscheidung abhängig ist und dass sie bezüglich des betroffenen Systems (oder Gegenstands) intendierte und nicht-intendierte Folgen zeitigt. Ziele bilden systemisch gesprochen ein Element des Systems „Handlung“ und stehen entsprechend in Abhängigkeiten zu den anderen Grundelementen des Systems. Ziele können z. B. je nach institutionellen Kontexten variieren. Dass etwa eine Politikerin in der Opposition andere Ziele propagiert, als wenn sie Regierungsverantwortung trägt, ist durch den institutionellen Kontext mit bestimmt. Eine Situationseinschätzung beinhaltet weiter immer zwei Elemente, ein Wissen über den Zustand resp. die Situation und eine Bewertung derselben (nach welchen Kriterien auch immer). Weiter steht jede Handlung (wie jedes System überhaupt) in einer Umgebung, die Einfluss auf die Realisierung hat. Wenn ein global tätiger Konzern beschließt, die Niederlassung im Land X zu schließen und ausnahmslos alle zu entlassen, schränkt das die Handlungsräume der Betroffenen bekanntlich erheblich ein. Weiter habe ich zu Beginn des zweiten Kapitels darauf hingewiesen, dass ich die Funktion des Leitbilds der Nachhaltigkeit darin sehe, dass es allgemeine, steuernde Rahmenbedingungen für menschliche Handlungen setzt.

Die möglichen Folgen von Handlungen sind entsprechend auf diese Rahmenbedingung hin zu prüfen. Die Rahmenbedingung beeinflusst auch das, was als Bewertung in die Situationseinschätzung einfließen wird. Wer nicht als Hintergrundprämisse akzeptiert, dass die Endlichkeit der vorhandenen natürlichen Ressourcen constraints für die gesellschaftliche Entwicklung zur Folge hat, der wird andere Bewertungen vornehmen. Und bezüglich der zur Erreichung der möglichen Ziele benötigten Mittel stehen schließlich die bereits mehr oder weniger gut etablierten Instrumente des öffentlichen und privaten Nachhaltigkeitsmanagements als „Toolbox“ zur Verfügung. Wir erhalten dann eine Struktur; wie in Abbildung 2 dargestellt.

Abb. 2: Das Handlungsschema innerhalb des Kontexts von Nachhaltigkeit

Abb. 2: Das Handlungsschema innerhalb des Kontexts von Nachhaltigkeit

2.2     Handlungsoptionen und die Aufgaben der Wissenschaft

Ich verstehe unter einer Handlungsoption nicht anderes als eine mögliche Exemplifikation des skizzierten Handlungsschemas: vor dem Hintergrund der Situationseinschätzung S1 (Systemwissen plus Bewertung) wäre Z1 ein mögliches Ziel, für das M1 ein möglicherweise adäquates Mittel mit den zu erwartenden Folgen F1 wäre, wobei für F1 gelten müsste, dass der durch die realisierte Handlung erreichte Zustand nachhaltiger ist als der ursprüngliche. Im Gegensatz zu „Zielwissen“ können wir auch problemloser von ‚Wissen von Handlungsoptionen' sprechen. „Ich weiß, dass p“ (p = eine komplexe Handlungsoption HO), bedeutet, dass ich weiß, dass HO (eine in sich konsistente Exemplifikation des Schemas) besteht. Semantisch gesprochen liegen dabei immer konditionale (hypothetische) Aussagen vor: Wenn Person A in der Situation S das Ziel Z mittels M verfolgt, wird sie zu S+ und den Folgen F kommen.

Worin nun bestehen die analytischen Aufgaben der Wissenschaft? Ich denke, dass die Nachhaltigkeitsforschung idealtypisch gesprochen auf die analytische Durchdringung derartiger Optionen ausgerichtet ist. Wissen von Optionen beinhaltet mindestens vier Teilkomponenten, nämlich (1) Wünsche/Ziele/Zwecke, (2) Situationseinschätzungen (also Systemwissen und Bewertungen); (3) Wissen von Mitteln resp. Mittel-Zweck-Relationen sowie (4) Wissen über Konsequenzen. Wir können relativ zu einem Forschungsstand fragen, ob zu diesen Teilen oder zu ihren wechselseitigen Abhängigkeiten Wissensdesiderate bestehen. Die erklärenden Komponenten sind dabei nicht nur für die Situationseinschätzung, sondern auch als Grundlage für die Modellierung von Zukunftsszenarien von Bedeutung. Aber sie bilden nur die Grundlage. Hinzu kommt das Inbeziehungsetzen der vier Komponenten z. B. in Form von Szenarien. Qualitative Szenarien können als Exemplifikationen der skizzierten Handlungsstruktur verstanden werden. In ihnen können unterschiedliche Komponenten wie Wissen von Sachverhalten, Bewertungen, Instrumente, institutionelle Rahmenbedingungen, persönliche Präferenzen, institutionelle resp. gesellschaftliche Werte (Ziele), erwartete Folgen etc. als Variablen fungieren. Das ist die Grundlage für ein wissenschaftliches Assessment von Handlungsoptionen.

Die Wissenschaft hat natürlich die Aufgabe, gesellschaftlich formulierte Zielvorgaben einer kritischen Analyse zu unterziehen resp. Vorschläge zu machen. Sie trägt damit zur Rationalisierung von Handlungen bei. Sie muss aber mit bedenken (I) wie sie selbst zu adäquaten Zielen kommt und (II) dass funktionale Differenzen zwischen der Wissenschaft (epistemische Kompetenzen) zum einen und den gesellschaftlichen Bereichen (Entscheidungskompetenzen) zum anderen bestehen.

3     Partizipation als methodologische Herausforderung

Wenn meine Argumentation so weit richtig ist, stellt sich die Frage, ob „Wissen von Handlungsoptionen“ mit den traditionellen Elementen wissenschaftlicher Methodologie erreichbar ist. Diese sind ja am Ziel ‚Erklärung' orientiert. Tatsächlich stellen sich einige heikle Fragen nicht zuletzt bezüglich Werten und Bewertungen. Ich beschränke mich hier mit einem Argument, weshalb Partizipation ein zweckrationales Instrument im Kontext der Analyse von Handlungsoptionen sein kann.

Eine an der Universität Basel durchgeführte Untersuchung über transdisziplinäre Projekte hat ergeben, dass zwischen mindestens drei Typen von Partizipation unterschieden werden kann, nicht-kognitive, informative und deliberative Partizipation. Beim ersten Typ hat Partizipation im Wesentlichen eine Türöffnerfunktion, z. B. wenn ich im öffentlichen Raum eine Untersuchung durchführen will. Bei der zweiten geht es um die Erfassung der Wissensbestände der involvierten Akteure. Nur bei der dritten Form haben gesellschaftliche AkteurInnen eine aktive kognitive Funktion. In derartigen Projekten fällt eine Korrelation mit Aufgaben der Szenarienbildung auf (Zierhofer, Burger 2005). Empirische Hinweise und methodologische Überlegungen stützen die Vermutung, dass eine funktionale Beziehung zwischen deliberativen Formen von Partizipation und der Ausarbeitung von Handlungsoptionen besteht.

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist zu überlegen, worin die spezifische Differenz zwischen klassischen Befragungs- und partizipativen Kooperationsformen liegt. Die Erfassung von Einstellungen, institutionellen Handlungsspielräumen oder „lokalem Wissen“ kann weitgehend mit den sozialwissenschaftlich bekannten Methoden geleistet werden. Auch können von den vier Grundelementen für Handlungsoptionen die Konsequenzen und die Mittel-Zweck-Relationen mit klassischen Methoden analysiert werden. Eine besondere Stellung nehmen nur die Ziele sowie die Bewertungen innerhalb der Situationseinschätzung ein. Diese zeichnen sich durch eine hybride Form der Geltung aus. Insofern es sich um soziale Sachverhalte handelt, können sie festgestellt werden. Insofern ihre Gültigkeit zur Diskussion steht, unterstehen sie letztlich normativen (wertebezogenen) Kriterien. Diese Gemengelage, so habe ich oben bei der kritischen Diskussion eines undifferenzierten Gebrauchs von „Zielwissen“ argumentiert, produziert eine Bias-Gefahr, dass nämlich die beteiligten WissenschaftlerInnen ihre persönlichen Wertpräferenzen als die für die Gesellschaft gültigen ausgeben.

Wenn es in der Wissenschaft darum geht, generell den Raum möglicher Handlungsoptionen aufzuspannen, benötigen wir keine Partizipation. Die Wissenschaft kann immer Vorschläge für die beste aller möglichen Welten ausarbeiten. Wenn aber die Handlungsoptionen so etwas wie Entscheidungsgrundlagen darstellen sollen, müssen sie real existierende Handlungsräume widerspiegeln. Die Zieloptionen müssen möglichen Endpunkten eines für die Gesellschaft gerade typischen Aushandlungsprozesses entsprechen. Methodologisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, dass über die quasi experimentelle Simulation der Aushandlungsprozesse beteiligter AkteurInnen in transdisziplinären Forschungsprojekten derartige Zieloptionen adäquat erarbeitet werden können, größer als bei rein wissenschaftsimmanenter Arbeit. In solchen semirealen Situationen werden für die Analyse von Handlungsoptionen unverzichtbare Daten bezüglich Bewertungen und Zielen generiert. Das halte ich für die wesentliche epistemische Funktion partizipativer Wissenschaftsprojekte im Nachhaltigkeitsbereich. Dass Partizipation zudem die Wissensflüsse in die Gesellschaft verbessert (Nachhaltigkeitslernen), darf auch nicht vernachlässigt werden.

Wenn, so mein Schluss, mit „Wissen von Handlungsoptionen“ ein für Nachhaltigkeitsforschung charakteristisches epistemisches Ziel korrekt identifiziert worden ist, dann ist ‚Partizipation' ein Instrument zur Zielerreichung, weil damit in zuverlässiger Weise mögliche Ziele von Handlungen identifiziert werden können.

Anmerkungen

[1] Ich danke den Teilnehmenden des Workshops in Karlsruhe und des Kolloquiums an der ETH-Professur für Mensch-Umwelt-Systeme sowie Wolfgang Zierhofer und Harry Witzthum für wertvolle Anregungen.

[2] In der philosophischen Debatte besteht allerdings keine Einheit darüber, was eine Erklärung ist (vgl. z. B. Salmon 1990). Oft wird darüber hinaus zwischen naturwissenschaftlicher Erklärung (durch Gesetze) und sozialwissenschaftlicher Erklärung (durch Gründe) unterschieden. Diese Differenz ändert aber nichts an der Ausrichtung beider Wissenschaftsbereiche auf Erklärungen. Philip Kitcher (2001) hat jüngst dafür argumentiert, dass die Wissenschaft nicht nach beliebigen, sondern nach relevanten Erklärungen suche, wobei deren Relevanz nicht allein wissenschaftsintern bestimmt werden könne.

[3] Der Frage, inwiefern hier Parallelen und Unterschiede zum Wissenschaftsverständnis etwa der Kritischen Theorie oder gar des Marxismus bestehen, kann hier nicht nachgegangen werden.

[4] Wissen ist der erkenntnistheoretischen Standardform nach wahres berechtigtes Meinen (so genannte „tripartite Definition“). Der erkenntnistheoretische Disput geht in der Regel nicht darüber, sondern wie das Mittelglied „Berechtigung“ präzise zu konzipieren ist und ob die drei Kriterien insgesamt hinreichend oder nur notwendig sind.

Literatur

Bradbury, J.; Rayner, S., 2002:
Reconciling the irreconcilable. In: Abaza, H.; Baranzini, A. (eds.): Implementing Sustainable Development. Cheltenham: Edward Elgar, S. 15-31

Burger, P.; Kamber, R., 2003:
Cognitive Integration in Transdisciplinary Science, Knowledge as a Key Notion. Issues in Integrative Studies, No 21 (2003), S. 43-73

Grunwald, A., 2002:
Technikfolgenabschätzung - eine Einführung. Berlin: edition sigma.

Grunwald, A., 2004:
Strategic knowledge for sustainable development: the need for reflexivity and learning at the interface between science and society. Int. J. of Forsight and Innovation Policy, vol 1 (2004), S. 150-67

Kitcher, Ph., 2001:
Science, Truth, and Democracy, New York: Oxford University Press

MONET - Monitoring der Nachhaltigen Entwicklung, 2003:
Schlussbericht Methoden und Resultate, hrsg. vom Schweizerischen Bundesamt für Statistik, Neuchâtel; http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/infothek/erhebungen__quellen/blank/blank/monet/03.html

Research on Sustainability and Global Change - Visions in Science Policy by Swiss Researchers, 1997. Bern: ProClim (CASS 1997)

Salmon, W., 1990:
Four Decades of Scientific Explanation. Minneapolis: University of Minnesota Press

Scholz, R.; Tietje, O., 2002:
Embedded Case Study Methods. London: Sage

Zierhofer, W.; Burger, P., 2005:
Disentangling Transdisciplinarity. An Analysis of the Epistemic Content of Problem-oriented Research and Participation. In Vorbereitung

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