Diskussionsforum
Die Technik aintentionaler Entdeckung unbewusster Nebenwirkungen, erläutert an James Lovelock, dem Ermöglicher vorsorgender Umweltpolitik
Die Technik aintentionaler Entdeckung unbewusster Nebenwirkungen, erläutert an James Lovelock, dem Ermöglicher vorsorgender Umweltpolitik
von Hans-Jochen Luhmann, Wuppertal Institut
Im Stil eines Features wird im Folgenden eine wenig beachtete Form (Technik) der Technikfolgenabschätzung vorgestellt und auf ihre Bedingungen hin analysiert: die Technik der aintentionalen Entdeckung unbewusster Nebenwirkungen. Da diese Bedingungen notwendigerweise in der Tiefe einer Person wurzeln, trägt eine solche Analyse zu Recht biographische Züge. Das erklärt die Wahl des Feature-Stils als sachgerecht. Die Person, an der diese kaum beachtete Technik jenseits der Rationalität, aber im Raum der Vernunft erläutert wird, ist James Lovelock.
1 Die Entdeckung der Gaia-Vorstellung
James Lovelock ist der Entdecker der Tatsache, dass der Planet Erde ein Lebewesen ist. In die Wiege gelegt war es ihm nicht, dass gerade er zu dieser Einsicht kommen sollte. Er wurde am 26. Juli 1919 in eher ärmlichen Verhältnissen in Letchworth Garden City, 50 km nördlich von London, geboren. Nach dem High School Abschluss im Jahre 1938 wurde er Laborassistent in einem Unternehmen in London, welches Leistungen rund um die Photographie erbrachte. Sein Arbeitgeber machte zur Bedingung einer Anstellung, dass Lovelock parallel im Abendstudium Chemie studiere. Nach Abschluss des Studiums, im Juni 1942, wird Lovelock Mitarbeiter des National Institute for Medical Research (NIMR) in Hampstedt/North London. Er bleibt dort bis 1961. In diesem Jahr erreicht ihn eine Einladung der NASA, an der Vorbereitung der ersten Mond-Mission (Surveyor) mitzuwirken. Er sagt zu und beschließt zugleich, mit diesem Startauftrag ein Leben als „independent scientist“ vorzubereiten.
Mitte 1963 kommt das Thema der Prüfung von Konzepten von Experimenten, die ein Leben auf dem Mars nachweisen können sollen, bei der NASA auf. Regelmäßig nimmt Lovelock nun an Sitzungen teil, bei denen er mit Konzepten konfrontiert wird, denen sämtlich gemeinsam ist, dass in der Atmosphäre bzw. von der Oberfläche des Mars eine Stichprobe genommen werden soll, um sie anschließend zu analysieren - diese Analyse soll dann die Antwort auf die Frage bringen, ob auf dem Mars Leben existiere. Lovelock beobachtet:
- „The flaw in their thinking was their assumption that they already knew what Martian life was like. From them, I gathered the distinct impression that they saw it as like life in the Mojave Desert, to the east of Los Angeles. This was convenient, for the Mojave Desert was close by and the experimenters could go there to test their equipment. Perhaps Mars was like this, but no one seemed to ask, what if it is different? Will its organism grow on our culture media?" (Lovelock 2000, S. 228-229)
Bei einer solchen Sitzung schließlich verfällt Lovelock in tiefes Schweigen. Zum Ende von der Sitzungsleitung um sein Urteil gebeten, sagt er: Er denke, so gehe es nicht. „Wie denn dann?“ ist die nächste Frage, allerdings schon nur noch unter vier Augen gestellt. Lovelock bittet um zwei Tage Bedenkzeit. Sein Ergebnis: Eine Kritik der leitenden Vorstellung, Leben sei nur im Kleinen, und dann qua Stichprobe, feststellbar. Seine These ist: Leben könne nicht anders als sich auch im Großen, in der Atmosphäre etwa, zu manifestieren. Damit ist es Methoden der, wie wir heute sagen, ‚Fernerkundung' zugänglich - Lovelocks Einsicht würde eine Marsmission also überflüssig machen. Es wird folglich nicht auf ihn gehört, praktisch wird weiter an ‚in-situ'-Experimenten zur „Entdeckung des Lebens auf dem Mars“ gearbeitet. Das Viking-Raumschiff startet im Jahre 1975 unbehelligt seine Mission zum Mars.
Es ist jedenfalls bei der Klärung der ahnungsvoll bereits gegebenen Antwort auf die ihm gestellte Frage, dass Lovelock im September des Jahres 1965, nach zwei Tagen konzentriertester Arbeit, im Jet Propulsion Laboratory (JPL) in Pasadena das zu Bewusstsein kommt, was er später, auf Anraten seines Freundes, des Schriftstellers William Golding, the Gaian view nennt. In der Folge lässt er sich als ‚independent scientist' nieder, also selbständig und in diesem Sinne ‚frei', wenn auch unter finanziell häufig prekären Umständen.
2 Bastlerbegeisterung und Neugier als zentrale Eigenschaften
Die Entdeckung des Gaia-Charakters der Erde wurde im Vorstehenden auf ihre ‚Technik' hin herausdestilliert. Mit ihrer Hilfe hat Lovelock seine umweltpolitisch zentrale Leistung erbracht - das ist ein Anlass, sie zum Thema zu machen. Lovelocks Leistung bestand in zweierlei, (1) in der Entwicklung eines Messgerätes, des electron capture detector (ECD), zu cryobiologischen Zwecken sowie (2) in dessen ‚zweckentfremdetem' bzw. ‚interesselosem' Einsatz zur Detektion von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) in der Atmosphäre, also aus allein ‚ästhetischen' Gründen. Die damit als erfolgreich erwiesene Lovelocksche ‚Technik' basiert auf zwei tief in seiner Persönlichkeit wurzelnden Fertigkeiten, die in der Mars-Gaia-Entdeckungsgeschichte anklingen. Lovelock ist zum einen ein begeisterter und begnadeter Geräteentwickler. Und Lovelock vermag zweitens in an Nils Bohr erinnernder Weise quantitative Fragen zu stellen und sie offen zu halten zugleich.
Der ECD ist ein Gerät von herausragender Sensitivität. Lovelock macht sie in folgenden Worten anschaulich:
- Imagine that you have a wine bottle full of a rare perfluorocarbon liquid somewhere in Japan and that you poured this liquid onto a blanket and left it to dry in the air by itself. ... Within two years, it would be detectable by the ECD anywhere in the world. (S. 186)
Dies ist ein Bild für die Detektierbarkeit von Mengen in Spurenstoffquantität. Umweltpolitisch notwendig ist deren Detektierbarkeit geworden, weil zwar nicht solch extrem geringe Mengen, aber eben doch geringe Mengen Ursache massiver Wirkungen sein können. Das ist schwer vorstellbar, denn wir denken im Alltagsleben linear, in Übereinstimmung mit klassisch physikalischen Vorstellungen. Und doch gilt, dass dies ein Spezifikum moderner menschgemachter Umweltprobleme ist: Die Nicht-Linearität der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung(en). Umweltprobleme solchen Charakters weisen eine Erkennbarkeits-‚Tücke' auf, sie verstoßen gegen den ‚gesunden Menschenverstand'. Sie vermögen sich damit gleichsam vor dem Augenschein seitens des Täters zu ‚verhüllen', der wir selber sind. Dieser Eigenschaft wegen nämlich geben sie dem nahe liegenden seelischen Widerstand gegen die Einsicht in die Akteursrolle des Menschen Nahrung. Erst wer durch die Einsicht in diese Verhüllungs-‚Technik' hindurchgegangen ist, vermag als Regel zu erkennen, dass bei globalen, den ‚modernen' Umweltproblemen gilt: Es ist der Schwanz, der mit dem Hund wedelt.
Quantitativ gesehen ist der Ozon-Schutzschirm eine Schicht von Molekülen, die, wenn man sie konzentriert um die Erdoberfläche legen könnte, eine Stärke von vier Millimetern aufwiese - das ist in dem eingeführten Bilde der Hund. Die Konzentration von FCKW-Molekülen, die Lovelock im Herbst 1971 detektierte, war nochmals um einen Faktor 500 geringer - das ist der Schwanz. Die anthropogenen FCKW, zu dieser Einsicht kommt der US-Chemiker Sherwood F. Rowland zusammen mit seinem Doktoranden Mario Molina zu Weihnachten 1972, bedrohen diese schützende natürliche Ozonschicht. Gekommen ist das wie folgt:
Mit Hilfe des ECD-Gerätes war Lovelock in der Lage, nach Überwindung von Hindernissen allerdings erst, die im Nachhinein als abenteuerlich anmuten, die Konzentration und damit den Bestand von FCKW-Molekülen in der Troposphäre zu messen bzw. zu bestimmen. Das gelang im letzten Quartal des Jahres 1971. Diese Ergebnisse werden Rowland, der bemerkenswerterweise ebenfalls ein Außenseiter etablierter Stratosphärenforschung ist, umgehend, bereits im Januar 1972, bekannt - gesprächsweise, nicht durch Studium qualitätsgesicherter Literatur. Lovelocks Ergebnisse regen Rowland dazu an, einen Forschungsantrag bei der NASA zu stellen. Von einer Vorahnung eines möglichen Problems, von einem ‚Alarm-Interesse', kann nicht im Entferntesten die Rede sein. Rowland will vielmehr, in aller Unbefangenheit hinsichtlich möglicher Ergebnisse, einfach nur projektförmig darüber nachdenken, was denn mit den FCKW geschehen mag, wenn sie die schützende Ozonschicht durchstoßen haben und dann dem zerstörerischen Einfluss der unabgemilderten UV-Strahlung ausgesetzt sind. Er fand einfach die Frage interessant, sie versprach ‚neue' Ergebnisse (Rowland 2000).
Die erdgeschichtliche Funktion der Ozonschicht besteht darin, dass sie den harten Anteil der UV-Strahlung von der Sonne herausfiltert und dadurch Leben auf Land erst möglich macht. Evolutionsgeschichtlich gesehen ging das Leben aus dem Wasser, welches gegen UV-Strahlung schützt, erst an Land, als die Erde die stratosphärische Ozonschicht als Schutzschirm gebildet hatte. Ohne sie sind weite Teile der Biosphäre auf Erden bedroht.
Im Detail: Die Stratosphäre ist der in etwa 10 bis 50 km Höhe liegende obere Teil der Erdatmosphäre. Das ist weit weg und zudem schwer erforschbar - so wurde sie früher auch zu Recht, wenn auch im Scherz, „Ignorosphäre“ genannt. Wären die sich dort erst entwickelnden, FCKW getriebenen Vorgänge, diesem Namen gemäß, unerforscht geblieben, so hätten die Verlaufskurven der Konzentration ozonzerstörender Substanzen, von Ozonabbau und zunehmender UV-Strahlung mit Sicherheit eine andere Gestalt angenommen als den steilen Glockencharakter, den sie heute aufweisen (vgl. Abb. 1). Die zeitgenössisch lebenden Menschen hätten von diesen Kurven beziehungsweise den Phänomenen, die sie bezeichnen, nämlich nichts erfahren, sie hätten also, mangels Indizien, auch nicht reagieren können. Die Erhöhung der UV-Strahlung auf der Erde z. B. hätte man lange nicht erkennen können - erst seit den 1990er Jahren verfügen wir über geeignete Messgeräte, die aufgrund des Rowlandschen Alarms eigens entwickelt wurden.
Abb. 1: Wirksame Faktoren des Ozonabbaus in der Stratosphäre und die Auswirkungen der Ausdünnung der Ozonschicht nach Messungen von 1975-2000 und Prognosen bis 2100
Die Zerstörung der Ozonschicht ist indirekt an der Zunahme der UV-B-Strahlung abzulesen. Die Kurven geben lediglich die quantitativen Veränderungen wieder und sind nicht maßstabsgerecht.
Quelle: Wuppertal Institut, nach (Farman 2002)
Im Ergebnis kann man m. E. nur mit der Formulierung von Thornton Wilder feststellen: „Wir sind noch einmal davongekommen.“ Erlebbar ist das nur dem, der ungeschehene Geschichte etwa in der eben präsentierten Weise nachvollzieht: Wären nicht Lovelocks Zahlen gewesen, wäre Rowland nicht auf die Idee gekommen, seinen Forschungsantrag bei der NASA zu stellen, usw. usf. (vgl. Luhmann 2001). In dieser Kette erschließt sich die Bedeutung von Lovelocks umweltpolitisch zentraler, aber unintendiert herbeigeführter Leistung mit seinen beiden Elementen.
Nebenbei sei erwähnt, dass auch die Tatsache, dass Rowlands Zahlen in ihrer Bedeutung für das Leben umgehend erkannt werden, Ergebnis eines glücklichen Zufalls ist. Diese Fähigkeit war nicht absichtsvoll herbeigeführt, sondern hatte sich durch einen parallelen Prozess rechtzeitig eingestellt - eine Selbstverständlichkeit war diese Fähigkeit in keiner Weise. Die Nachricht von der Bedrohung der Ozonschicht und den Folgen ihrer möglichen Ausdünnung trifft auf ein zeitgenössisch vorbereitetes Bewusstsein, das seitens der Wissenschaft geschaffen worden war - auch das unintendiert, ein Nebenergebnis der Kriegsfolgenforschung. Zu Beginn der 1970er Jahren hatte der National Research Council der U.S. National Academy of Sciences (NAS) eine beispielhafte Initiative ergriffen. Er brach ein Tabu und initiierte endlich die Erforschung eines zentralen Effekts eines Nuklearkriegs. Ausgerechnet den Effekt nämlich, der am langsamsten abklingt, hatte man bis dahin ausgespart zu studieren. Im Falle eines Nuklearkriegs hat man eine massive Injektion von NOx in die Stratosphäre zu gewärtigen und Folgen in Form eines erheblichen Abbaus der Ozonschicht zu befürchten. Untersucht worden waren Szenarien mit 70 %, 50 % und 25 % Abbau der Ozonschicht (vgl. Makhijani, Gurney 1995, S. 89). Insbesondere Effekte auf die landwirtschaftliche Produktionsweise in Ländern der Dritten Welt waren thematisiert worden. Zwei Stichworte mögen genügen, um die Perspektive zu skizzieren. Gegenstand der Untersuchung waren (a) die Möglichkeit des nächtlichen Feldanbaus sowie (b) die Folgen der weitreichenden Blindheit des Wildes.
3 Einsichten im Rücken unserer Ambitionen zum Wachstum zulassen
Lovelock schaffte somit Voraussetzungen - mehr nicht. Lovelocks Leistung war scheinbar nur der Beitrag eines ‚Technikers', eines Geräteentwicklers. Aber er schuf immerhin die ‚Augen', er schuf die Entdeckbarkeit der Probleme aufgrund von erdgeschichtlich neuen und global verteilten Substanzen in äußert geringen Mengen und damit die Voraussetzungen für den erstmaligen Erfolg vorsorgender globaler Umweltpolitik. Stellen wir uns Rowland als Galilei vor, so wäre Lovelocks Rolle, hinsichtlich des EDC allerdings nur, die des anonymen niederländischen Glasschleifers, der das Fernrohr erfunden und gebaut hatte, mit dessen Hilfe Galilei die Jupiter-Monde entdecken und das Kopernikanische Weltbild zum Einsturz bringen konnte. Lovelocks hervorragende Leistung bestand zunächst einmal nur in dem Beitrag eines ‚Technikers'. Lovelock brachte in dieser Geschichte aber mehr zustande. Das aber auf der Basis, dass er in seiner Person die Eigenschaft eines zum Staunen befähigten Laien pflegte und sie zu einer gewissen Meisterschaft geführt hatte - in seinen eigenen Worten: mit der retention of a child's sense of wonder.
- „I dislike the thought of rewards as the prime motivation for work. The joy of science lies, for me, in the sense of adventure, and the retention of a child's sense of wonder, even to my dotage.“ (S. 127)
Blicken wir methodisch zurück: Jedes technische Gerät ist zwar, genetisch gesehen, nicht zweckfrei. Doch ist es erst einmal in der Welt, so ist es mindestens zweckambivalent. In diesem Sinne ist es, dass ich betone: Hinter der Entwicklung des ECD stand keinerlei umweltschützende Intention; dasselbe gilt für den Einsatz des ECD. Es gab keine guten Absichten auf ‚Menschheitsrettung'; der Vorgang hatte davon nichts an sich - dennoch ist Lovelocks Technik des Studiums wert. Es ist ja nicht auszuschließen, dass auch das Unintendierte und gleichzeitig Zweckmäßige mit höherer Wahrscheinlichkeit den ‚richtigen' Personen ‚kommt', wenn die Bedingungen dafür, dass das geschieht, ‚gastfreundlicher' gestaltet werden. Der Satz, ‚Das Eintreten des Unintendierten ist kein möglicher Gegenstand intentionaler Gestaltung', ist nicht wahr.
Die Antwort auf die skizzierte Herausforderung hat vielmehr zu lauten: So wie Umweltverschmutzung in der Regel die nicht-intendierte Nebenwirkung von menschlichen Aktivitäten ist, die anderen Zwecken dienen, so ist auch die Entdeckung von Umweltproblemen ihrerseits gelegentlich bis regelmäßig ein Nebeneffekt, etwas, was sich ohne Intention einstellt. Diese Struktur bietet eine ‚Technik' der Technikfolgenabschätzung. Man kann sie genauer studieren, sie ernst nehmen und auf Basis dieser Einsicht die Wahrscheinlichkeit nicht-intendierten Entdeckens steigern. Sie ist missverstanden, wenn man sie zum Anlass für Defaitismus nimmt. Die im wörtlichen Sinne ‚notwendenden' Einsichten vermögen auch im Rücken unserer Rationalität, unserer Ambitionen, zu wachsen. Der Mensch ist angesichts der Struktur seiner Umweltprobleme, genauer: seiner Orientierungs- und Steuerungsprobleme mit selbstgestalteten, ihn tragenden Systemen, nicht in einer Position, auf eine solche Option, auch wenn sie nur ein ‚Strohhalm' sein mag, zu verzichten.
4 Wie Lovelock dem ‚Tunnelblick' des Fachexpertentums entkommt
Lovelocks vom Arbeitgeber erzwungenes Abendstudium in Chemie verschlägt ihn mit Kriegsbeginn nach Manchester, an die dortige Universität - eher zufällig in das Labor eines späteren Nobelpreisträgers, von Alexander Todd. Lovelock hat keinerlei akademische Ambitionen; dessen ungeachtet empfindet er eine klare Bestimmung, scientist zu werden. Er war nach eigenem Bekunden ein eher nachlässiger Student; die frühen Stationen seines studentischen und beruflichen Werdegangs ‚geschahen' ihm eher als dass er auf Karriere aus war. Er wurde gefördert von Personen, die ihn schätzten, meist auf der Grundlage seiner ausnehmend guten praktischen Fähigkeiten im Labor und in der Instrumententechnik - und möglicherweise auch wegen der sich darin schon abzeichnenden ‚inventorischen' Fähigkeiten. Die frühe Lehre als Laborassistent sollte weitreichende Folgen haben. Lovelock machte keine Fachkarriere, er war keinem ‚Fach' so recht zuzurechnen - genau das aber war ihm, wie er selbst formuliert,
- „... a passport that let me cross the frontiers of scientific disciplines which otherwise are guarded as jealously as national boundaries.“( S. 181/2)
Mit seiner Disziplinen übergreifenden Erfahrung konnte er ein neues Verständnis von science mit Leben füllen. Dieser Ausstieg aus dem Tunnelblick-Training seiner Kollegen war offenbar die Basis für seine ausnehmend hohe Produktivität und die ‚Frische' seines Blickes. Die führte zu Entdeckungen, die anderen nicht möglich waren.
Nach Abschluss des Studiums wird Lovelock Mitarbeiter des NIMR, ein Institut des Medical Research Council (MRC). Der MRC ist eine zwar staatliche Institution, aber direkt der Krone unterstellt und damit von einer beispiellosen Unabhängigkeit von der Politik. Er wird zunächst Mitarbeiter der Abteilung für virologische Forschung. Zu seinen ersten Aufgaben gehört das Studium der Verbreitung von Erkältungen, eine Tätigkeit, die es erforderte, Luftproben zu nehmen. Er entwickelt im Jahre 1949 ein Ionen-getriebenes Anemometer, welches sich für den damals verfolgten Zweck, seiner Hypersensitivität wegen, jedoch als ungeeignet erwies. Das ist eine dezent-abstrakte Formulierung, die auf den Gebrauch für Lexika abzielt. Dahinter steht ein banaler Sachverhalt: Auch Laborchemiker sind Raucher. Geräte, die sie dies aufzugeben nötigen könnten, sind „wegen Hypersensitivität ungeeignet“.
Bezeichnend für seine Auffassung von guter Wissenschaft bzw. für seine Haltung als Forscher ist, was sich in folgendem Geschehen offenbart: Im Jahre 1956 will Lovelock innerhalb des NIMR das Department wechseln, in das von Archer Martin, der zu Beginn der 1950er Jahre die Gas-Chromatographie etabliert hatte. Die Gründe: Er will dort Detektoren entwickeln und hat außerdem das Empfinden, dass der Zenit seiner fruchtbaren Zeit in der Cryobiologie überschritten sei. Als er seinem Abteilungsleiter mitteilt, dass er wechseln wolle, und die Gründe dafür nennt, reagiert der mit der bemerkenswerten Feststellung:
- Maybe it means little to you but if you go on like this, moving from one department to another, you will never be elected a Fellow of the Royal Society. (S. 122)
Das eben ist der höchste Wert: Die Aussicht, Mitglied der Royal Society zu werden. Dafür muss man der Versuchung, in seiner wissenschaftlichen Karriere einen breiten Überblick gewinnen zu können, abschwören und sich auf den Tunnelblick des Fachmanns einschwören - ‚lebenslänglich'.
In der Abteilung von Martin geschieht es, dass Lovelock, allerdings aus Anlass einer cryobiologischen Problemstellung, im Jahre 1957 seine eigene frühere Entdeckung, den ECD, wieder aufgreift und zu Ende entwickelt - im Jahre 1959 ist das Gerät voll entwickelt. Der Anlass selbst ist eher banal wenn nicht sogar rufschädigend: Lovelock hatte eine Reihe von Experimenten durchgeführt, ohne sich rechtzeitig der Probenmengen, die für das etablierte Auswerteverfahren erforderlich sind, zu vergewissern - die erwiesen sich nun als zu klein. Statt aber unverzüglich an die Wiederholung der Experimentalreihe zu gehen, sann Lovelock systematisch auf einen arbeitssparenden Ausweg. So verfiel er auf die komplementäre Lösung, die Sensitivität des Auswertegeräts zu steigern, und so auf seinen EDC.
Zu den Bedingungen für seinen Erfolg in der Geräteentwicklung gehörte nach Lovelocks eigenem Bekunden die folgende damalige wissenschaftskulturelle Eigenart:
- At the National Institute it was the tradition of those days never to read the literature, especially textbooks. Senior scientists asserted that our job was to make the literature, not read it. (S. 184)
Der Fetischcharakter der wissenschaftlichen Literatur war nicht so entwickelt, wie er es heute ist. Es gab noch ein entspanntes Verhältnis. Die Wissenschaftler schauten auf die Wirklichkeit selbst und erzählten einander davon; die Literatur war lediglich für die breite Masse der Anwender und Interessierten bestimmt, nicht für die produktiven Wissenschaftler selbst, noch gar für den Austrag ihrer Prioritätswettkämpfe. Der Fetischcharakter heute zeigt sich demgegenüber u. a. daran, dass die Wissenschaft es inzwischen fertig bringt, bekannte Züge der Wirklichkeit so lange zu leugnen, als sie nicht in peer reviewed journals beschrieben sind. Lovelock jedenfalls bekennt:
- This recipe worked well for me. Had I read the literature of ionozation phenomena in gases before doing my experiments, I would have been hopelessly discouraged and confused. Instead, I just experimented. (S. 184)
5 Der Beinahe-GAU der fachlich gesteuerten Forschungsförderung und deren Ausgleich durch Mäzenatentum
Eine zweite Voraussetzung war wichtig: Wie andere Eltern mit ihren Kindern in der Freizeit in den Zoo gehen oder Radfahren, so gehörte es in der Lovelock-Familie zu den Wochenend-Vergnügungen, in die auch die Tochter involviert war, regelmäßig den Zustand der Luft zu beobachten und ihn mit Messgeräten zu analysieren und quantitativ zu beschreiben. Solche ohne jedes ergebnisorientierte Interesse durchgeführten Messungen an seinem Wohnort Bowerchalk haben Lovelocks Neugier auf die Frage gelenkt, wie die Luft hinsichtlich der drei Spurenstoffe Dimethylsulphid, Methyljodid und Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) zusammengesetzt sein mag, wenn sie diesbezüglich nicht durch nahe gelegene industrielle Quellen verunreinigt ist.
Eine Chance, diese Frage zu klären, ergab sich, als für den Herbst des Jahres 1971 der Beginn einer halbjährigen Reise des britischen Forschungsschiffes Shackleton in die Antarktis geplant wurde. Auf Anraten von Freunden stellt Lovelock zu Anfang des Jahres 1971, zu diesem Zeitpunkt seit bereits neun Jahren „freiberuflicher Wissenschaftler“, erstmals in seinem Forscher-Leben einen Antrag auf Förderung, beim britischen Natural Environment Research Council (NERC). Sein Plan ist, bei der Fahrt quer über die Südhalbkugel den Zustand ‚natürlicher' Luft hinsichtlich des Gehalts der drei genannten Spurenstoffe zu bestimmen. Seine FCKW-Neugier sollte Weltgeschichte machen.
Die von der NERC zur Begutachtung der Anträge herangezogenen Fachleute, die Peers, lehnen seinen Antrag aber ab - und zwar „einstimmig“. Doch nicht nur das. Das Komitee nimmt diesen Antrag zum Anlass, den Stab von NERC abzukanzeln: Er solle in Zukunft Anträge von offensichtlichen „Aufschneidern“ gar nicht erst zur Beratung in das Wissenschaftler-Gremium geben - das sei „nur Zeitverschwendung“. Der Stab teilt diese Ansicht nicht, aber die ordnungsgemäß zustande gekommene Entscheidung der Peers ist sakrosankt - der Stab von NERC ist an ihr Votum gebunden. Die peer-gesteuerte Förderpolitik führt zu einer Situation, die an die Persiflage erinnert: „Die Partei hat immer recht“ - auch wenn sie offensichtlich unrecht hat. Der bizarre Vorgang zeigt, wie im wörtlichen Sinne „lebensgefährlich“ Wissenschaft sein kann, wenn ihr Evaluationswesen ihrerseits weder qualitätsgesichert noch offen dafür ist, aus festgestelltem Versagen zu lernen. Es ist Lovelock zugleich eine Rechtfertigung für seine Entscheidung, als „independent scientist“ seinen Ahnungen und Neigungen selbstbestimmt nachzugehen.
Der Stab schickt dann doch einen Abgesandten zu Lovelock mit dem Auftrag, sich ‚heimlich' davon zu überzeugen, dass man es nicht mit einem Aufschneider zu tun habe. Für Lovelock ist die Intention der Tee-Stunde, die als absichtsloser ‚Trost'-Besuch getarnt war, durchschaubar. Doch er spielt mit - zum Glück. Das Ergebnis: Es gelingt, den zu Vollkosten kalkulierenden Freiberufler dafür zu gewinnen, die Reise auf eigene Rechnung mitzumachen - lediglich die Passage selbst und die Verpflegung an Bord könne man ihm unentgeltlich anbieten, denn das sei eine Leistung ‚in kind', das falle nicht auf in den Büchern von NERC. Lovelock führt seine menschheitsgeschichtlich entscheidenden Messungen somit gleichsam als Mäzen durch.
Literatur
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A Critical Analysis of the Gaia Hypothesis as a Model for Climate/Biosphere Interactions. In: Gaia 11, S. 96-103
Farman, J., 2002:
Halocarbons, the Ozone Layer and the Precautionary Principle. In: European Environmental Agency (Hrsg.): Late Lessons from Early Warnings: The Precautionary Principle 1896-2000. Environmental Issue report no. 22. Copenhagen: European Environmental Agency (EEA) - Oder in: Harremoës, P. et al. (Hrsg.), 2002: The Precautionary Principle in the 20th Century: Late Lessons from Early Warnings. London: Earthscan, S. 79 - 89 [siehe hierzu auch die Rezension von H.-J. Luhmann in TA-TuP Heft 2, Juli 2002, S. 129-132]
Fasterding, M., 2003:
Die GAIA-Hypothese von James Lovelock. Eine zusammenfassende Betrachtung. In: Ders. (Hrsg.): Aufbruch der Wissenschaft. Forschung am Anfang des dritten Jahrtausends. Gelsenkirchen, Schwelm: Edition archaea, S. 127-136
Lovelock, J., 1979:
Gaia. A New Look at Life on Earth. Oxford: Oxford University Press
Lovelock, J., 2000:
Hommage to Gaia. The Life of an Independent Scientist. Oxford: Oxford University Press
Lovelock, J.; Thomas, L., 1988:
The Ages of Gaia. A Biography of Our Living Earth. Oxford: Oxford University Press
Luhmann, H.-J., 2001:
Die Entdeckung der Bedrohung der Ozonschicht - ein Hindernislauf oder Wir sind noch einmal davongekommen! In: Ders.: Die Blindheit der Gesellschaft. Filter der Risikowahrnehmung. München: Gerling Akademie Verlag, Kap. 9, S. 183-204
Luhmann, H.-J., 2002:
Das Beispiel Ozonloch. Zwei unausgeschöpfte Lehren eines politischen Erfolgs. In: Naturwissenschaftliche Rundschau, 55. Jg., H. 9 (Sept.), S. 483-488
Makhijani, A.; Gurney, K.R., 1995:
Mending the Ozone Hole. Cambridge (Mass., USA), London: MIT Press
Rowland, S.F., 2000:
Ozone Hole. In: Newbold, H. (Hrsg.): Life Stories. World-renowned Scientists reflect on their Lives and the Future of Life on Earth. Berkeley: University of California Press, S. 134-140
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