Allgemeine Systemtheorie als transdisziplinäre Integrationsmethode

Schwerpunktthema - Method(olog)ische Fragen der Inter- und Transdisziplinarität – Wege zu einer praxisstützenden Interdisziplinaritätsforschung

Allgemeine Systemtheorie als transdisziplinäre Integrationsmethode

von Günter Ropohl, Karlsruhe

Zum Andenken an Herbert Stachowiak (1921-2004)

In wissenschaftsphilosophischen und wissenschaftspolitischen Debatten ist bislang vernachlässigt worden, dass Transdisziplin-Wissenschaften einem völlig anderen Paradigma unterliegen als die Disziplin-Wissenschaften. Das betrifft gleichermaßen die Definition der Probleme, die Sprache und Begrifflichkeit, die Denkmodelle, die Methoden und die Qualitätskriterien. Da die Probleme in einer transdisziplinären Wissenschaft nicht analytisch, sondern synthetisch verstanden werden, sind dementsprechend statt der sonst üblichen analytischen Methoden vor allem synthetische Methoden angezeigt. Die Modellmethoden der Allgemeinen Systemtheorie sind hervorragende Ansätze zur synthetischen Bewältigung der komplexen Probleme in Weltverständnis und Weltgestaltung. Letztlich findet Transdisziplinarität ihren theoretischen Ort in einer synthetischen Philosophie.

1     Einleitung

Es ist merkwürdig: Die wissenschaftlichen Fachdisziplinen forschen am Leben vorbei, doch wer eine alternative Orientierung im Umgang mit dem Wissen ins Auge fasst, sieht sich genötigt, doch immer auf diese Disziplinen Bezug zu nehmen, wenn auch in negativer Form. Als wären die Disziplinen der archimedische Punkt aller Wissensorganisation, und nicht etwa ein historisch kontingentes Zufallsprodukt der abendländischen Geistesgeschichte! Als wären alle Wissensbemühungen, die nicht dem Forschungsideal der Disziplinen folgen, dilettantische Abweichlereien, die im Elfenbeinturm der hehren und reinen Wissenschaft nichts zu suchen haben!

Anders wäre es kaum zu verstehen, dass sich alternative Wissenschaftsprogramme nicht selbstbewusst einen eigenständigen Namen geben, sondern mit Ausdrücken wie „Interdisziplin“, „Multidisziplin“, „Supradisziplin“ oder „Transdisziplin“ - das Wort, dass ich mit Mittelstraß (1998) inzwischen bevorzuge - doch nach wie vor nolens volens den unumschränkten Primat der Disziplinen zu bestätigen scheinen. An diesem Primat will ich rütteln.

Zunächst werde ich (1) zeigen, dass die disziplinäre Einteilung des Wissens eine sehr problematische Ontologie zur Grundlage hat, dass aber andererseits Transdisziplinen ein mindestens ebenso legitimes Erkenntnisprogramm verfolgen. Aus den eklatanten Unterschieden in der Definition der Probleme werde ich die These folgern, dass Transdisziplinen ein eigenständiges Paradigma besitzen, ein Paradigma, das sich von dem der Disziplinen grundlegend unterscheidet.

Erst diese fundamentale Paradigmenkonkurrenz macht es (2) verständlich, dass Transdisziplinen auch andere, nämlich synthetisch-integrative Methoden benötigen. Als beispielhafte Grundlage synthetischer Methoden werde ich die Allgemeine Systemtheorie skizzieren, die von Anbeginn als gegendisziplinärer Ansatz konzipiert wurde, aber bis heute mancherlei Missverständnissen und Fehldeutungen ausgesetzt ist. Dabei werde ich einen knappen Überblick über wichtige Systemmethoden geben.

Schließlich werde ich (3) in einem systematischen Überblick zeigen, dass sich Transdisziplinen auch in den weiteren Merkmalen eines Paradigmas von den Disziplinen deutlich unterscheiden. So ist die Frage aufzuwerfen, wie sich diese andere, transdisziplinäre Art von Wissenschaft von den Disziplinen zu emanzipieren vermag und wie sie sich ihres eigenen theoretischen Ortes bewusst wird: nicht „zwischen“ oder „über“ den Disziplinen, sondern jenseits des disziplinären Paradigmas, in einem kognitiven Unternehmen nämlich, das seit alters wohlbekannt und, angereichert um methodische Innovationen, heute so dringlich ist wie kaum zuvor: eine Philosophie „nach dem Weltbegriff“, wie I. Kant sie genannt hat, oder, wie ich sie lieber nenne, eine synthetische Philosophie.

2     Disziplinen und Transdisziplinen

Disziplinen und Transdisziplinen sind verschiedene Wege, um Schneisen in den Urwald möglichen Wissens zu schlagen. Man kann die Bildung der Disziplinen grosso modo mit einer Unterscheidung rekonstruieren, die aus der scholastischen Wissenschaftslehre stammt, der Unterscheidung zwischen Materialobjekt und Formalobjekt. Das Materialobjekt ist der „ganze konkrete Gegenstand, auf den sich die Wissenschaft richtet“, das Formalobjekt dagegen die „besondere Rücksicht, unter der sie dieses Ganze betrachtet“ (Brugger 1953, S. 385; Kosiol, Szyperski, Chmielewicz 1965).

Tatsächlich haben sich die Wissenschaften zunächst nach ihrem Materialobjekt gegliedert, nach den Erfahrungsbereichen „Natur“, „Geist“; „Mensch“, „Gesellschaft“ usw. Im weiteren Verlauf haben sich dann die Wissenschaftsgruppen nach dem Formalobjekt in Disziplinen differenziert. Die Identität einer wissenschaftlichen Disziplin definiert sich insbesondere durch ihr Formalobjekt, etwa durch den chemischen Aspekt der Natur („Chemie“), den psychischen Aspekt des Menschen („Psychologie“) oder den rechtlichen Aspekt der Gesellschaft („Jurisprudenz“).

Hinter dieser Aufteilung des Wissens auf getrennte Erfahrungsbereiche und Erkenntnisaspekte, die in Abbildung 1 durch die waagerechten Balken symbolisiert wird, steht implizit ein ganz bestimmtes Modell der Welt, eine Ontologie nämlich, welche die Wirklichkeit als eine Menge abgegrenzter Regionen auffasst und jede dieser Regionen in eine Menge von einander unabhängiger Schichten einteilt. Die disziplinäre Organisation der Wissenschaft, die den meisten Wissenschaftlern als unanfechtbare Selbstverständlichkeit erscheint, beruht also allein auf einem Modell, und diese Einsicht wirft die Frage auf, ob es nicht auch Alternativen zu diesem Modell geben könnte, in denen das Wissen ganz anders strukturiert wäre. Das ist alles andere als eine hypothetische Frage, denn die konventionelle Wissensstruktur der Disziplinen leidet unter beträchtlichen Defiziten, die spätestens dann offensichtlich werden, wenn das Wissen verwendet werden soll.

Abb. 1: Zur Definition von Disziplinen und Transdisziplinen

Abb. 1: Zur Definition von Disziplinen und Transdisziplinen

In der Wissenschaftslehre und in den Disziplinen gilt das Augenmerk vornehmlich den wissenschaftlichen Aussagensystemen und ihrer theoretischen Begründung, also dem, was in der Mitte von Abbildung 2 eingetragen ist. Tatsächlich aber fallen die Erkenntnisse natürlich nicht vom Himmel. Darum gehört die Entstehung wissenschaftlicher Aussagen zu den metawissenschaftlichen Problemen, die in einer elaborierten Heuristik zu behandeln wären. Vor Allem aber werden wissenschaftliche Erkenntnisse, im Gegensatz zum Selbstverständnis mancher Wissenschaftler, im Regelfall nicht um ihrer selbst willen erzeugt, sondern um in menschlicher Praxis angewandt zu werden. So erweist sich die Verwendung wissenschaftlicher Aussagen als ein drittes metawissenschaftliches Problem, ein Problem allerdings, mit dem die Disziplinwissenschaften die Menschen meist allein lassen.

Abb. 2: Metawissenschaftliche Probleme

Abb. 2: Metawissenschaftliche Probleme

Dann nämlich stehen die Menschen in konkreten Situationen, die sie verstehen oder gestalten wollen. Diese Situationen, beispielsweise die personale Lebensform, die Arbeit, die Gesundheit, die Umwelt, die Technik usw., übergreifen, wie in Abb. 1 mit den senkrechten Säulen verdeutlicht, mehrere Bereiche und Schichten. Die Welt der komplexen Lebensprobleme, insbesondere natürlich auch der Technikfolgen-Analyse und -Bewertung, richtet sich nicht nach der Einteilung der herkömmlichen Disziplinen. Dafür braucht man pragmatische Situationsmodelle, und diese erfordern eine völlig andere Ordnung des Wissens, die jenseits der Disziplinen sich aufspannt. Pragmatische Situationsmodelle definieren die Transdisziplinen. Transdisziplinen grenzen ihre Fragestellungen also in ganz anderer Weise ab als Disziplinen, sie haben, mit anderen Worten, ein ganz anderes Selbstverständnis.

Thomas S. Kuhn (1976, bes. S. 186 ff.) hat das Selbstverständnis einer Wissenschaft ihr Paradigma genannt und zählt dazu:

Schon in der „Definition der Probleme“, dem ersten Merkmal des Paradigmas, unterscheidet sich mithin eine Transdisziplin grundlegend von einer Disziplin. Solche gravierenden Unterschiede sind auch bei weiteren Merkmalen des Paradigmas festzustellen; darauf werde ich noch zurückkommen.

Wichtig scheint im vorliegenden Zusammenhang zunächst, dass Transdisziplinen typischerweise ganz andere Methoden einsetzen, wenn sie Wissen, das bisher in den Disziplinen gewonnen wurde, und situationsspezifisches Wissen für ihre Situationsmodelle reorganisieren müssen. So rechtfertigt sich das Thema dieses Schwerpunkts theoretisch gerade dadurch, dass den Transdisziplinen ein andersartiges Paradigma zu Grunde liegt, das eben auch andere Methoden erheischt als das Paradigma der Disziplinen. Wie aber können integrative Methoden der Wissensorganisation und Wissenssynthese aussehen?

3     Allgemeine Systemtheorie

Wenn ich die Allgemeine Systemtheorie als Methode der Wissenssynthese betrachte, muss ich zunächst klar stellen, dass sie keine „Theorie“ im Sinne der Disziplinen darstellt. Darum meine ich auch nicht die so genannte „Systemtheorie“ von N. Luhmann (z. B. 1986), die sich bei genauerer Betrachtung als eine höchst voraussetzungsreiche, systemsprachlich garnierte, substanzielle Gesellschaftstheorie erweist. Die Allgemeine Systemtheorie ist, anders als substanzielle Theorien über bestimmte Erfahrungsbereiche, eine operative Theorie über die Art und Weise, wie man Modelle von beliebigen Erfahrungsbereichen konstruiert; diese Unterscheidung zwischen substanziellen und operativen Theorien geht auf M. Bunge (1967 I, S. 502 ff.; vgl. Lenk 1978, S. 246) zurück. Anders ausgedrückt, ist die Allgemeine Systemtheorie eine Modelltheorie, die Axiome, Ableitungen und Regeln für die korrekte Bildung von Modellen umfasst (Stachowiak 1973). Sie leitet dazu an, Bilder komplexer Phänomene in endlich vielen, intersubjektiv überprüfbaren, methodischen Schritten anzufertigen (Ropohl 2002).

Der allgemeine Systembegriff umfasst drei Modellkonzepte, die - wie ich an anderer Stelle gezeigt habe (Ropohl 1999, S. 312-322) - formal aus ein und demselben mathematischen Begriff des Relationengebildes abgeleitet werden können (vgl. Abb. 3). Diese drei Konzepte haben methodologische Implikationen, die in den Disziplinwissenschaften alles andere als selbstverständlich wären, aber für die Syntheseleistungen der Transdisziplinen unverzichtbar sind.

Abb. 3: Konzepte der Systemtheorie

Abb. 3: Konzepte der Systemtheorie

Das funktionale Konzept empfiehlt, für eine als System modellierte Ganzheit nach Möglichkeit alle internen Zustände und alle Verknüpfungen (Inputs und Outputs) zu identifizieren, die zwischen dem System und seiner Umgebung bestehen, sowie alle denkbaren Beziehungen zwischen Inputs, Zuständen und Outputs zu prüfen. Dieses Konzept beschreibt das Systemverhalten und bietet eine Heuristik zur Ermittlung aller denkbaren Bedingungen und Folgen.

Das strukturale Konzept modelliert die Ganzheit als eine Menge miteinander verknüpfter Teile und unterstellt, gemäß dem bekannten holistischen Gesetz, dass die Eigenschaften der Ganzheit nicht allein aus den Eigenschaften einzelner Teile, sondern nur aus der besonderen Art des Zusammenwirkens der Teile erklärt werden können. Dieses Konzept steht also im Gegensatz zu jener Erkenntnisposition, die gelegentlich als „methodischer Individualismus“ bezeichnet wird, aber es hebt sich auch von irrationalen Auffassungen ab, die einer geheimnisvollen „Totalität“ unerklärbare Sonderqualitäten zubilligen wollen. Das strukturale Konzept bietet eine Heuristik für die Ermittlung aller Teile und Verknüpfungen des Systemaufbaus, aus denen das Systemverhalten zu erklären ist.

Das hierarchische Konzept schließlich postuliert, dass jede Ganzheit nicht nur, wie im strukturalen Konzept, aus Teilen besteht, sondern darüber hinaus auch wieder als Teil einer umfassenderen Ganzheit verstanden werden muss. In diesem Konzept kommt also ein Grundsatz des Systemdenkens zum Ausdruck, den ich als Prinzip des ausgeschlossenen Reduktionismus bezeichne.

Die Bedeutung der Allgemeinen Systemtheorie besteht darin, eine einheitliche formale Sprache für die geordnete Beschreibung verschiedenartiger Erfahrungsbereiche anzubieten und auf diese Weise deren Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Verknüpfungen aufzudecken und zu präzisieren. Dabei verfolgt sie die Erkenntnisstrategie, Komplexität nicht auf Elementares zu reduzieren, sondern in ihrer Vielgestaltigkeit und Verflechtungsdichte theoretisch zu bewältigen. Das Systemdenken präferiert die Systematisierung gegenüber der Elementarisierung, holistische Modelle gegenüber atomistischen Modellen, die Mehrdimensionalität gegenüber der Eindimensionalität, die Integration gegenüber der Differenzierung, die Synthese gegenüber der Analyse. Somit genügt sie den Bedingungen, die das transdisziplinäre Paradigma kennzeichnen.

Diese methodologischen Grundsätze kommen auch in konkreten Methoden zum Ausdruck, die in systemorientierten Erkenntnis- und Gestaltungsansätzen angewandt werden. Als Beispiel wähle ich einen Methodenkatalog für die Technikbewertung, in der transdisziplinäre Wissenserzeugung und Wissenssynthese eine tragende Rolle spielen (VDI 1991, S. 16-19; vgl. auch Ropohl 1996, S. 190-208). Dort werden u. a. genannt:

Die aufgezählten Methoden werden in ähnlicher Form in allen systemtheoretisch angeleiteten Arbeitsgebieten (Planungstheorie, Prognostik, Systemanalyse, Systemtechnik, Projektmanagement usw.) empfohlen. Allerdings steht ihre konsequent systemtheoretische Rekonstruktion wohl noch aus. Offenkundig ist der systemtheoretische Charakter bei der Methode der Modellsimulation, für die ich als Beispiel das Wachstumsmodell von Forrester und Meadows nennen kann (Forrester 1971; Meadows et al. 1972). Rund hundert Variablen und Parameter sind hier vielfältig miteinander verknüpft und werden in Berechnungsexperimenten mit Computerhilfe auf ihre wahrscheinlichen Entwicklungstendenzen hin untersucht. Die methodologischen Probleme, die eine solche Computer-Simulation aufwirft, sind natürlich bekannt, können jedoch an dieser Stelle nicht näher besprochen werden.

Im letzten Teil will ich stattdessen auf die Frage zurückkommen, wo denn der theoretische und der institutionelle Ort transdisziplinärer Wissenssynthesen zu suchen wäre.

4     Synthetische Philosophie

Wie angekündigt, komme ich auf die Besonderheiten des transdisziplinären Paradigmas zurück und will nun einige Hinweise darauf geben, in welcher Art von Erkenntnisunternehmen sie sich am ehesten verwirklichen ließen. Diese Frage ist meines Wissens bislang nie präzise gestellt worden, und stattdessen hat man sich mit provisorischen Lösungen zur interdisziplinären Wissensintegration zufrieden gegeben. Wenn heterogenes Wissen problembezogen gebündelt werden soll, kommen bislang die folgenden Integrationsformen in Betracht:

Gegenüber diesen provisorischen Formen schlage ich eine methodisch-systematische Integrationsstrategie vor. J. Mittelstraß (1998 sowie Mittelstraß in diesem Schwerpunkt) hat die Transdisziplinarität zu Recht als eigenständiges Forschungsprinzip gekennzeichnet, und ich will diese Auffassung radikalisieren, indem ich diesem Forschungsprinzip einen eigenen theoretischen Ort zuweise. Dieser theoretische Ort ist, um es jetzt gleich zu sagen, eine wohlverstandene Philosophie, in der sich das transdisziplinäre Paradigma verwirklichen kann. Um diese Behauptung zu begründen, will ich an Hand von Abbildung 4 die Unterschiede, die zwischen den Paradigmen einer Disziplin und einer Transdisziplin bestehen, systematisch durchgehen.

Abb. 4: Paradigmenunterschiede zwischen Disziplin und Transdisziplin

Abb. 4: Paradigmenunterschiede zwischen Disziplin und Transdisziplin

Die Definition der Probleme stammt in einer Disziplinwissenschaft, wie gesagt, aus internen Erkenntnisdesideraten der Wissenserzeugung für künstlich isolierte Teilperspektiven, die durch ontologisch-analytische Abgrenzung von Seinsbereichen und Seinsschichten gewonnen werden. In einer Transdisziplinwissenschaft stammt sie dagegen aus externen Bedarfslagen der Wissensverwendung, sei es für effektive Weltgestaltung, sei es für sinnvolles Weltverständnis. Sie kristallisiert sich um einen komplexen Problemkern der Realität, der pragmatisch-synthetisch erfasst wird und allgemeines öffentliches Interesse für sich in Anspruch nehmen kann. Es sind nicht esoterische Spezialfragen, die nur einen kleinen Kreis eingeweihter Fachleute angehen, sondern exoterische Bedürfnisse nach ganzheitlichem Wissen, die im Grunde bei allen Menschen lebendig sind. Transdisziplinwissenschaften definieren ihre Probleme in Anbetracht lebensweltlicher Relevanz.

Das zweite Merkmal eines Paradigmas ist die Sprache, in der die anstehenden Probleme und das erzeugte Problemlösungswissen ausgedrückt werden. Die Einzeldisziplinen bedienen sich höchst entwickelter, oft gar formaler, esoterischer Fachsprachen, die schon für Vertreter anderer Fächer, erst recht aber für Laien kaum zugänglich sind. Das transdisziplinäre Wissenschaftsprogramm muss mithin diese Sprachschwierigkeiten bewältigen, wenn es heterogenes Wissen zur Synthese bringen will. Es muss ein Kernvokabular exoterischer Bildungssprache erarbeiten, das den Wissenssynthesen angemessene Ausdrucksmöglichkeiten bereitstellt. Auch hierfür kann sich übrigens die Allgemeine Systemtheorie empfehlen: Ausdrücke wie „System“, „Umwelt“, „Input“, „Output“, „Zustand“, „Funktion“, „Element“, „Relation“, „Kopplung“, „Rückkopplung“, „Struktur“, „Makro- und Mikroebene“, „Varietät“, „Komplexität“, „Information“ usw. bezeichnen grundlegende Modellvorstellungen, die auch in zahlreichen Einzeldisziplinen eine Rolle spielen und in der Systemtheorie ihre gebührende Verallgemeinerung erfahren. Begriffe sind aber nicht nur Instrumente der Mitteilung, sondern vor allem auch Werkzeuge des Denkens, und die Sprachvermittlung muss zugleich die theoretischen Inhalte analysieren, vergleichen und verknüpfen, die den sprachlichen Ausdrücken zu Grunde liegen. Das transdisziplinäre Wissenschaftsprogramm verlangt mithin eine generalistische Sprach-, Begriffs- und Definitionskompetenz.

Sprachliche Darstellungsmittel und die damit ausgedrückten begrifflichen Vorstellungen gehören zu den Bausteinen, aus denen die Denkmodelle einer Wissenschaft gebildet werden. Während die Disziplinwissenschaften eng abgegrenzte Bilder ihres jeweiligen Erkenntnisobjekts in fachlicher „Reinheit“ als eindimensionale Ableitungsmodelle konstruieren, benötigen transdisziplinäre Wissenssynthesen mehrdimensionale multiperspektivische Verflechtungsmodelle, wie sie besonders in systemtheoretischen Denkformen anzutreffen sind. So zeichnen sich Transdisziplinwissenschaften durch modelltheoretische Vielfalt, Flexibilität und Reflexion aus.

In den spezialisierten Einzeldisziplinen haben Methoden die vornehmliche Aufgabe, für die Planmäßigkeit und Kontrollierbarkeit der Wissensgewinnung sowie für die Prüfung und Begründung des neuen Wissens zu sorgen. Eine Transdisziplinwissenschaft, die das bewährte Wissen verschiedener Fachgebiete für ein relevantes Integrationsmodell auswählt und verknüpft, wird im Allgemeinen auf jenen Vorarbeiten der Disziplinen aufbauen können und nicht jedes Wissenselement noch einmal aufs Neue begründen müssen. Umso wichtiger scheinen dann allerdings, wie schon erwähnt, integrative Methoden der Wissensorganisation und Wissenssynthese, die der Verknüpfung, Abgleichung und Systematisierung des heterogenen Wissens dienen. Als hervorragendes Beispiel habe ich die Methoden der Allgemeinen Systemtheorie vorgeschlagen.

Die Qualitätskriterien zur Beurteilung von Forschungsergebnissen sind in den einzelnen Disziplinen höchst verschieden, da sie sich auf die jeweilige Definition der Probleme beziehen: Allgemein wird ein Forschungsergebnis positiv bewertet, wenn es einen neuen Lösungsbeitrag zu jenen Problemen leistet und sich fachintern bewährt. Unabhängig von allen disziplinären Varianten steht mithin die Originalität und interne Bewährung des erzeugten Wissens im Vordergrund. Transdisziplinäre Wissenssynthesen hingegen greifen bekannte und bewährte Wissenselemente aus den Disziplinen auf und lassen darum aus disziplinärer Sicht die Originalität im Detail vermissen; wahrscheinlich rührt daher auch das verbreitete Vorurteil, Transdisziplinwissenschaftler seien Leute, die es in den jeweiligen Fachdisziplinen zu Nichts gebracht hätten. Beherzigt man das „Holistische Gesetz“ der Systemtheorie - das Ganze ist mehr als die Menge seiner Teile -, besitzen gegenüber einer Menge von Wissenselementen selbstverständlich die integralen Wissenssynthesen eine neuartige Systemqualität, aber die erschließt sich kaum dem atomistischen Spezialisten, sondern nur dem holistischen Generalisten, der die Vorzüge der neuen Wissenssysteme in praktikablen Anwendungen und plausiblen Deutungen zu würdigen weiß. Im Wissenschaftsprogramm der Transdisziplinwissenschaften gilt mithin ein Qualitätskriterium, das nicht weltfernes Sonderwissen präferiert, sondern die Tauglichkeit für Praxis und Weltbildorientierung.

So kann ich die typischen Aufgaben von Transdisziplinen folgendermaßen zusammenfassen:

Angesichts dieser Zusammenfassung liegt nun offen zu Tage, dass das transdisziplinäre Wissenschaftsprogramm längst einen Namen besitzt: den Namen der Philosophie! Freilich kann das natürlich nicht jede Art von Philosophie sein. Seit sich die Einzelwissenschaften aus dem vormals umfassenden Wissensgebäude der Philosophie herausgelöst haben, ist diese weithin ebenfalls zu einer spezialisierten Forschungsdisziplin geworden - abgegrenzt und esoterisch wie andere Forschungsdisziplinen auch. Wer diese Schulphilosophie vor Augen hat, vermag ihr natürlich kein besonderes Erkenntnisprivileg gegenüber den anderen Disziplinen einzuräumen (Weingart 1997, bes. S. 591), zumal die Mehrzahl dieser Philosophen selbst in Fragen, die es nahe legen würden, kaum auf Resultate anderer Disziplinen Bezug nehmen.

Aber nach wie vor gibt es Philosophen, die nicht ihr Fach, sondern ein umfassendes Wissen „nach dem Weltbegriff“ kultivieren (Kant 1974, S. 701; vgl. Böhme 1997, S. 14) und dabei die Quintessenzen der Disziplinen zu einem zeitgemässen Weltverständnis verknüpfen. Diese exoterische Tradition der Philosophie ist aufzunehmen, weiterzuentwickeln und auszuweiten. So möchte ich den theoretischen Ort transdisziplinärer Wissensintegration als Synthetische Philosophie apostrophieren (vgl. Kanitscheider 1985/1986). Die Spezialdisziplinen sind nicht in der Lage, die großen Fragen der Weltdeutung und Weltgestaltung angemessen anzugehen. Bloße Alltagsmeinungen und Faustformeln dagegen werden natürlich in keiner Weise dem Rationalitätsanspruch der Moderne gerecht. Darum brauchen wir eine theoretische Instanz, die uns zu tragfähigen Wissenssynthesen verhilft. Es ist hohe Zeit für die Renaissance der synthetischen Philosophie.

Literatur

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Brugger, W. (Hrsg.), 1953:
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Forrester. J.W., 1971:
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Kanitscheider, B., 1985/1986:
Zum Verhältnis von analytischer und synthetischer Philosophie, Perspektiven der Philosophie : neues Jahrbuch. Amsterdam. Erster Teil in XI, S. 91-111, zweiter Teil in XII, S. 153-173

Kant, I., 1974:
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Kuhn, Th.S., 1976:
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Systemtheorie als Wissenschaftsprogramm. Königstein: Athenäum

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Luhmann, N., 1986:
Ökologische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag

Meadows, D. et al., 1972:
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Mittelstraß, J., 1998:
Interdisziplinarität oder Transdisziplinarität? In: Mittelstraß, J.: Die Häuser des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 29-48

Ropohl, G., 1996:
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Ropohl, G., 1999:
Allgemeine Technologie. München, Wien: Hanser

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VDI - Verein Deutscher Ingenieure (Hrsg.), 1991:
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Weingart, P., 1997:
Interdisziplinarität - der paradoxe Diskurs. In: Ethik und Sozialwissenschaften 8, Nr. 4, S. 521-529; S. 589-597

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