Interdisziplinarität als kritisches „Bildungsprinzip“ der Forschung: methodologische Konsequenzen

Schwerpunktthema - Method(olog)ische Fragen der Inter- und Transdisziplinarität – Wege zu einer praxisstützenden Interdisziplinaritätsforschung

Interdisziplinarität als kritisches „Bildungsprinzip“ der Forschung: methodologische Konsequenzen

von Peter Euler, TU Darmstadt

Interdisziplinarität wird zunächst sowohl als Ausdruck der Krise der Wissenschaft sowie als Ansatzpunkt zu ihrer Neubestimmung i. S. ihrer Re-Vision begriffen. Dadurch rückt die weithin verstellte Bildungsdimension wissenschaftlicher Forschung und Lehre ins Zentrum der Aufmerksamkeit und mit ihr die Kritik an einer instrumentalistischen Auffassung von Methodologie. Ein historisch-systematischer Rekurs bringt dann die architektonisch-begründenden und die explorativ-generierenden Funktionen von Methodologie in Erinnerung und erkennt in der bewussten Wechselwirkung der Momente von Methodologie ein entscheidendes Merkmal von Interdisziplinarität.

1     Zur Bildungsdimension von Wissenschaft und Interdisziplinarität

Wenn man die Literatur sichtet, stellt man fest, dass explizit bildungstheoretische Abhandlungen im Kontext von Interdisziplinarität eher selten sind. Umgekehrt dazu verhalten sich im Interdisziplinaritätsdiskurs aber seit Thompson-Klein, Jantsch und v. Hentig u. a. die Bildungserwartungen, die seit dem Beginn des Diskurses mit Interdisziplinarität verbunden werden. Auch die Widersacher in Sachen Interdisziplinarität machen ihre Kritik am Bildungsanspruch von Interdisziplinarität fest, den sie allerdings für illusionär oder für unwissenschaftlich halten, und damit das ganze Unterfangen.

Meine Untersuchungen über die Bildungsdimension von Interdisziplinarität stehen in der Tradition kritischer Bildungstheorie (vgl. hierzu Heydorn 1995; Koneffke 2004), die sich dadurch auszeichnet, dass sie Bildung weder verherrlicht noch für überholt hält, sondern Bildung als eine „kritische“ Kategorie moderner, also bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft begreift (Euler 2003). D. h. sie ist für unsere Gesellschaft einerseits ökonomisch notwendig und kulturell unverzichtbar, sie ist aber auch im Gegensatz zu verkürzten, eben eindimensionalen Funktionszuschreibungen Resultat und Motor der gesellschaftlichen Widersprüche gerade dort, wo die Gesellschaft humane Ansprüche eröffnet und zugleich unterbietet.

Dieser Bildungswiderspruch gilt in besonderer Weise für das Aufklärungsprojekt „neuzeitliche Wissenschaft“. Dieses war ein wesentliches movens im Bruch mit dem mittelalterlichen ordo und war die Bedingung für die „Leitvorstellung eines regnum hominis (Bacon)“ (Koneffke 2004). Der Zweck der Wissenschaft, die humane Gestaltung der Welt, sollte mit den Mitteln einer methodologisch kontrollierten rationalen Erkenntnis der Welt möglich und gesichert werden. Von Beginn an war die Wissenschaft eingebunden in das Konzept einer: „Allgemeinen Beratung zur Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten" (Comenius). Interdisziplinäre Ansprüche innerhalb der Wissenschaft seit der Mitte des 20. Jahrhunderts mahnen zunächst nur diese grundsätzliche Bildungsdimension der Wissenschaft wieder an, dies allerdings unter Einbeziehung der erheblich veränderten Verhältnisse, weshalb es sich bei der „Interdisziplinarität“ um eine substantielle Neubestimmung von Wissenschaft handelt bzw. handeln muss, soll diese nicht selbst wieder nur unkritisch vereinnahmt werden.

2     Interdisziplinarität: Ausdruck der Krise der Wissenschaft und Ansatzpunkt ihrer Re-Vision

Interdisziplinarität ist eine Reaktion auf das Problematische des Wissenschaftssystems innerhalb desselben. Problematisch heißt hier zweierlei:

Zum einen intern die Einkapselung der Disziplinen, die nicht nur die Verbindung zu anderen Disziplinen aufgab, sondern damit auch und vor allem das reflektierte Selbstverständnis nicht mehr als genuine Aufgabe von Wissenschaft begriff.

Zum anderen extern die fachliche Abkapselung von den gesellschaftlichen Folgen des wissenschaftlichen Tuns, die aber spätestens seit den 50er Jahren, mit dem „Atom-Diskurs“, die politische Unschuldsannahme von Wissenschaft und Technik nicht nur unhaltbar, sondern unverantwortlich werden ließ.

Die wissenschaftspolitische Forderung nach „Interdisziplinarität“ reagiert auf die sich verselbständigende Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems, mit der Folge der Preisgabe der Prinzipien der Einheit von Forschung und Lehre und der Idee der Einheit der Wissenschaften. Beide universitären Prinzipien sind beileibe keine idealistischen Schimären, sondern institutionelle Regulative der Wissenschaftspraxis, die diese zur reflexiven Kommunikation innerhalb der Wissenschaften, sowohl gegenüber der nachwachsenden Generation der Studierenden als auch zwischen den Disziplinen, anhalten soll. Dadurch soll die für die Forschung notwendige Freiheit mit ihrem einzig sie legitimierenden Zweck, dem der humanen Menschheitsentwicklung, in Übereinstimung gebracht werden (vgl. Humboldt 1964).

Interdisziplinarität nimmt insofern die Bildungsdimension der Wissenschaft wieder auf und ist daher als Neubestimmung i. S. einer Re-Vision der Wissenschaft unter den Bedingungen ihrer unreflektierten Ausdifferenzierung und gesellschaftlichen Funktionalisierung zu begreifen. Bezüglich ihrer methodologischen Dimension ist sie eine Antwort auf den Umstand, den Nietzsche wie folgt formulierte: Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser … Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft“ (Wille zur Macht. Aph. Nr. 466).

Interdisziplinarität markiert daher innerhalb des Wissenschaftssystems zweierlei, einerseits dessen Schwachstelle, seine Blindheit für Irrationalität im Ganzen und andererseits aber auch den Ansatzpunkt für seine rationale Neubestimmung i. S. einer Re-Vision von Wissenschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen.

3     Die subjektive und objektive Seite „interdisziplinärer“ Bildung

Interdisziplinarität in Forschung und Lehre verlangt die Realisierung ihrer expliziten Bildungsfunktionen, die da sind:

Die objektive und die subjektive Seite interdisziplinärer Bildung dient der Re-Vision disziplinärer Wissenschaft, in der fachliche Mittel- und Zweckkompetenz, methodisch reflektiert, in ein neues Verhältnis zu bringen sind. Sie dient damit im Unterschied zur gegenwärtig quasi selbstverständlich erfolgenden Ökonomisierung der Wissenschaft dem Zweck einer bewussten und reflektierten Re-Sozialisierung der Wissenschaft.

4     Interdisziplinarität: Explizite Wechselwirkung von Wissenschaft und Gesellschaft

Die Theorie und Praxis der Interdisziplinarität resultiert also aus einem zweifachen Ursachenkomplex:

Zum einen resultiert sie - wissenschaftsimmanent betrachtet - aus der Zerrissenheit der universitären, wissenschaftlichen Bildung, die C. P. Snow in der Rede von den „two cultures“ (vgl. Kreuzer 1987, S. 19-58) markant auf den Begriff gebracht hat. Sie hat ihre Geschichte in der methodologischen Auslegung zweier Typen von Wissenschaften, die u. a. in den Gegensätzen „Erklären“ vs. „Verstehen“ bzw. von nomothetisch und ideographisch verfahrenden Disziplinen begriffen wurden.

Zum anderen entsteht sie - gesellschaftlich, wissenschaftspolitisch gesehen - als Kritik an den negativen Folgen wissenschaftlich-technologischer Zivilisation. Somit ist sie im weitesten Sinn ein Kind der „reflexiven Modernisierung“, also des Reflexivwerdens der Wissenschaft. D. h. Wissenschaft soll und muss sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wissenschaftliche gesellschaftliche Probleme sind und eben gesellschaftliche auch wissenschaftliche. Verantwortung komplettiert die traditionellen Wissenschaftsprinzipien von Wahrheit und Nützlichkeit (Mittelstraß). Beide kulminieren in der Einsicht, dass „die Forschungssache mehr und auch anderes als das disziplinäre Wissenschaftsfach ist!“

Interdisziplinarität ist daher eine, und zwar explizite, Wechselwirkung von Wissenschaft und Gesellschaft. Das ist zu vergegenwärtigen, weil eine zu stark formal wissenschaftstheoretisch gedachte Interdisziplinarität in ihr lediglich eine Wechselwirkung von wissenschaftlichen Disziplinen sieht.

Dieser besondere Wechselwirkungscharakter von Interdisziplinarität zeigt sich drastisch in der Frage nach der Methodologie. In der Interdisziplinarität überlagern sich methodisch deskriptive und normative Arbeitsvorgänge und bezogen auf die Praxisbereiche wissenschaftsinterne und gesellschaftspolitische Problemstränge. Gibbons hat daher zwei Dimensionen unterschieden: die innerwissenschaftliche (Mode-I-Interdisziplinarität) und die zwischen Wissenschaft und Gesellschaft (Mode-II-Interdisziplinarität) (Gibbons et al. 1994). Methodologisch gilt es daher, in der Interdisziplinarität deskriptive und normative Dimensionen gemeinsam zu organisieren, in methodologischen Konstellationen zu denken.

5     Die Frage nach der „interdisziplinären Methodologie“ ist eine nach dem „Bildungsprinzip“ der Forschung

Die Frage nach der interdisziplinären Methodologie ist notwendig und problematisch zugleich. Notwendig, weil die methodische Engführung wissenschaftlicher Disziplinarität in immer weiteren Teilen überwunden werden muss. Problematisch, weil die Überwindung disziplinärer Methodologie nicht ins wissenschaftlich Beliebige und Uferlose führen darf. Interdisziplinarität erzwingt daher den Übergang von einer „instrumentell aufgefassten“ zu einer „konzeptionell betriebenen“ Methodologie.

Um sinnvoll über die methodologische Dimension von Interdisziplinarität nachdenken zu können, ist ein historisch-systematischer Exkurs zum Begriff Methodologie empfehlenswert, um die historisch wechselnden Verständnisse für unsere gegenwärtige Begriffsbestimmung nutzbar machen zu können (vgl. Geldsetzer 1980). Der Begriff Methodologie stammt wortgeschichtlich aus der protestantischen Schulphilosophie und diente der Schlichtung bzw. der Fixierung des Methodenstreits, der u. a. mit Descartes „Discours de la méthode“ ausgebrochen war. Er berührte entscheidend das Verhältnis, in dem die wissenschaftliche Vorgehensweise zur Logik steht. Dabei ist hervorzuheben, dass im „Mittelpunkt“ der Auseinandersetzung um Bedeutung und Funktion von Methodologie „immer die Interpretation und Aktualisierung der ‚Analytica posteriora' des Aristoteles“ stand (a. a. O., S. 1379). Im Grunde ging es darum, ob die dort in der „Lehre des Beweises“ verhandelten Methoden zur Auffindung der Wahrheit zur Logik gehören oder etwas anderes, eigenes sind.

In dieser Auseinandersetzung schien es zunächst anfangs so, dass die Methodologie nichts sein könne, das die Einsichten des „Organon“, vor allem der „Lehre des Beweises“ überstiege. Auch das in der Aufklärung wachsende Bemühen um „methodische Anleitungen“ lenkte die Aufmerksamkeit eher auf „'praktische' Disziplinen als auf eine neu zu entwickelnde theoretische Metadisziplin der Methodenreflexion“. Die im Kontext dieser Bemühungen von J.A Alsted in seinen enzyklopädischen Versuchen im frühen 17. Jahrhundert kreierte „Didaktik als regelanweisende Disziplin des Studiums (und der Lehre)“ (a. a. O., S. 1380/81) wies bei aller Bindung an die Logik den Weg zu einem neuen, nämlich didaktischen Methodologieverständnis. Methodologie wird „die Lehre von der Unterweisung“, also „wie man andern seine erkannten Wahrheiten mitteilen soll, genennet“ - so das Walchsche Philosophische Lexikon von 1726, dem ersten, das dieses Stichwort aufführt. Diese Aufgabe würde in neueren Logiken in diesen abgehandelt. Doch in „einem weiteren Sinne … könnte man darunter überhaupt die Lehre von der Methode verstehen“. Die Sache bleibt zunächst in der Logik, aber das Wort Methodologie „wandert vielmehr gänzlich in die Didaktik bzw. die allgemeinen Teile der wissenschaftlichen Lehrbücher“. (a. a. O., S. 1381) Als Ergebnis der „massiven Didaktisierung“ in der Aufklärung wird „im Bewusstsein der gebildeten Öffentlichkeit der Wissenschaftsbegriff selber mehr und mehr als ‚Lehre' definiert.“ Deutlichen Beleg liefert Kant: „Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Principien geordnetes Ganze der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft“ (a. a. O., S. 1382). Das griechische “Logie“ wird damit im Deutschen zu Lehre, sodass für Kant Methodologie zur Methodenlehre wird. Seine transzendentale Methodenlehre will also das leisten, was bislang „unter dem Namen einer praktischen Logik … gesucht, aber schlecht geleistet“ wurde (a. a. O., S. 1382).

Die „Anweisung zur Auffindung der möglichst besten Methode in irgend einer Wissenschaft oder Kunst“ ist also in der Methodologie - spätestens - seit der Aufklärung aufs Engste mit der „Didaktik“ verbunden. Anfang des 19. Jahrhunderts heißt es daher in Krugs „Handbuch der Philosophie“ denn auch: „Die philosophische Methodenlehre ist also theils didaktisch, theils architektonisch“.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verliert das didaktische Moment an Bedeutung, und das Forschungsmoment tritt deutlicher auf den Plan. J. St. Mills „System of Logic“ entwirft für die Naturwissenschaften wie auch für die Geisteswissenschaften (moral sciences) eine wissenschaftstheoretische Begründung (a. a. O., S. 1383). Methodologie und Methodenlehre erhalten somit die Bedeutung von „Wissenschaftslehre“ und „Wissenschaftstheorie“. In neurer Zeit nun scheint eher eine „Sprachverwilderung“ eingesetzt zu haben, da unterschiedliche Begriffsgebräuche, relativ ungenau bestimmt, nebeneinander vorliegen.

Ich werde an dieser Stelle aber nicht den Versuch machen, eine bestimmte Deutung als die wahre einführen zu wollen, sondern ich möchte das Augenmerk auf den Zusammenhang der zu Tage getretenen Momente des Methodologiebegriffs richten: das didaktische, das architektonisch-systemhafte und das forschende. Sie entspringen der Genesis neuzeitlicher Wissenschaft: dem antiken Ursprung, der Loslösung von Kosmos und Ordo in der aufklärerischen Selbständigkeit und der Etablierung zu einem eigenen gesellschaftlichen System der Forschungspraxis, in dem gesteigerte wissenschaftliche Potenz und gesellschaftliche Vereinnahmung/Verwertung zugleich erfolgt.

Mir scheint im Methodologiebegriff, so meine gegenwärtige Spekulation, eine architektonisch-darlegende (begründende) Funktion für die Wissenschaftsresultate und ihrer Geltungsausweisung und eine explorativ-spekulative (generierende) Funktion im Prozess der Wissenserzeugung enthalten zu sein, die erst zusammen - gewissermaßen in bewussten Konstellationen - den Begriff einer unverkürzten wissenschaftlichen Forschung ausmachen. In einem solchermaßen revidierten Bewusstsein von Methodologie kommt dann auch das unseren gegenwärtigen zivilisatorischen Verhältnissen angemessene Bildungsprinzip der Forschung (vgl. Euler 2005) explizit zur Geltung.

Aus bildungstheoretischer Perspektive im weiteren Sinne ergeben sich aus der Reflexion auf die Methodologie allgemein und die Gründe für Interdisziplinarität im Besonderen methodologische Konsequenzen in prinzipieller und pragmatischer Hinsicht:

  1. Zunächst einmal stellt sich die Frage nach der klassischen und neu zu fassenden Bedeutung der Methode für die Forschung auf eine prinzipielle Weise. D. h. die Frage nach der Methodologie der Interdisziplinarität ist zunächst hinter die nach der Bedeutung von Methodologie für die Wissenschaft überhaupt zu stellen, wodurch über die interdisziplinäre Beunruhigung in Sachen Methodologie allererst eine methodologische Transparenz der Wissenschaften einsetzen kann. Mittelstraß (1998) sieht die Gefahr der „Erkenntnisgrenzen“ durch die disziplinäre Verfassung, und Bulthaup (1996) bezeichnete diese immer bedrückendere Tendenz als den Umschlag von „Wissenschaft in Technologie“. Hieraus folgt meiner Einschätzung nach die Notwendigkeit eines kritisch-reflexiven Methodenbewusstseins, um den Wissenschaftscharakter von Wissenschaft in ihr selbst stärker oder wieder zur Geltung zu bringen.
  2. In pragmatischer Perspektive scheint es mir notwendig, das immanente Verhältnis von deskriptiven, präskriptiven und normativen Dimensionen von wissenschaftlicher Forschung ins Zentrum der Genesis wissenschaftlicher Themen und Projekte zu rücken. Zum interdisziplinären Vorgehen gehört die Erstellung eines jeweils gegenstands- bzw. projektspezifischen Implikationsrasters, in dem die fachinternen, fachübergreifenden und soziowissenschaftlichen Dimensionen erfasst werden, um sie dem wissenschaftlichen Prozess transparent und bewusst bearbeitbar zu machen.

Im engeren bildungstheoretischen Sinne ergibt sich für die Interdisziplinarität die Anforderung eines fachübergreifend und gesellschaftlich sensibilisierten und reflektierten wissenschaftlichen Methodenbewusstseins auf den Ebenen von Forschung, Lehre und Wissenschaftskommunikation.

Daraus folgt:

  1. Forschung hat sich unter den veränderten Bedingungen verschärfter disziplinärer Verselbständigung, technologischer Ausrichtung und ökonomischer Vereinnahmung auf seine genuine Bestimmung zu konzentrieren, und d. h. die Wissenschaftsentwicklung als Bildungsprozess der Wissenschaft zu verstehen. Entsprechend ist das weithin noch in Geltung befindliche Wissenschaftsscheidewasser, dem gemäß deskriptive und normative Urteile säuberlich geschieden sind, Wissenschaft von Nichtwissenschaft sicher zu unterscheiden sei, zu ersetzen durch eine den veränderten Problemlagen gerecht werdende theoretische Sensibilität für die methodologische Struktur der Forschung
  2. Wissenschaftliche Lehre hat der Reproduktion „gedankenlosen Denkens“ und d. h. der Degeneration des Studiums zur Lernsklaverei entschieden zu widerstehen. Deshalb haben zumindest exemplarisch die Genesis der inner- und außerwissenschaftlichen Kontexte als konstitutiv für das Fach und seine Systematik sowie die Folgen und Perspektiven der Wissenschaften Gegenstand der Lehre zu sein. 
  3. Die Wissenschaftskommunikation/Öffentlichkeitsdimension und damit die objektive Politizität (vor allem in der Wechselwirkung von Wissenschaft und Nichtwissenschaft) hat als dritte Säule die interdisziplinäre Forschung und Lehre zu komplettieren.

Interdisziplinarität verbindet methodisch Zweck- und Mittelfragestellungen, d. h. sie visiert die verloren gegangene Verbindung von wissenschaftlichem Forschungsfortschritt und gesellschaftlicher Wissenschaftsvermittlung an. Sie verlangt daher von der Forschung nicht nur methodologische Kompetenz, sondern eine reflexiv-rationale Methodologiearbeit. Wissenschaftliche Interdisziplinarität ist auf ihrer Forschungsseite deshalb entscheidend die Arbeit an der reflexiven Generierung von Methodenkonstellationen zur Erfassung und Bearbeitung problemorientierter Fragestellungen. Die Betonung der Generierung schließt sowohl das Arrangement bestehender Methoden als auch die Hervorbringung neuer Methoden ein. Interdisziplinarität ist damit nicht nur ein neuer wesentlicher Teil der Forschung, sie rückt auch das Wesentliche wieder in das Zentrum von Forschung überhaupt, nämlich die Erforschung der Zugänge und Wege zur Lösung relevanter gesellschaftlicher Probleme.

Literatur

Bulthaup, P., 1996:
Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Dietrich zu Klampen Verlag

Euler, P., 1999:
Technologie und Urteilskraft. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs. Weinheim: Deutscher Studien Verlag

Euler, P., 2003:
Bildung als „kritische“ Kategorie. In: Zeitschrift für Pädagogik 48, S. 413-421

Euler, P., 2005:
Interdisziplinarität: „Kritisches“ Bildungsprinzip in Forschung und Lehre. In: Rossmann, T.; Tropea, C. (Hrsg.): Bionik. Aktuelle Forschungsergebnisse aus Natur-, Ingenieur- und Geisteswissenschaften. Berlin: Springer, S. 291-312

Geldsetzer, L., 1980:
Stichwort: Methodologie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5. Basel: Schwabe, S. 1379-1386

Gibbons, M. et al., 1994:
The new Production of Knowledge. London: Sage Publications

Heydorn, H.-J., 1970/1995:
Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Werke Bd. 3. Vaduz: Topos

Hentig, H. v., 1972:
Magier oder Magister? Über die Einheit der Wissenschaft im Verständigungsprozess. Stuttgart: Klett

Humboldt, W. v., 1964:
Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. In: Schriften IV. Darmstadt: Buchgesellschaft, S. 255-266

Kant, I., 1974:
Kritik der reinen Vernunft. Werkausgabe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Komensky, J.A. (lat. COMENIUS), 1970:
Allgemeine Beratung über die Verbesserung der menschlichen Dinge. Ausgewählt, eingeleitet und übersetzt von Franz Hofmann. Berlin: Volkseigener Verlag

Koneffke, G., 2004:
Globalisierung und Pädagogik - Bemerkungen zu einer alten, vertrackten Beziehung. In: Jahrbuch für Pädagogik 2004: Globalisierung und Bildung. Frankfurt a. M.: Lang

Kreuzer, H. (Hrsg.), 1987:
Die zwei Kulturen - Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P.Snows Thesen in der Diskussion. München, Stuttgart: dtv

Mittelstraß, J., 1998:
Die Häuser des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Thompson Klein, J., 1990:
Interdisciplinarity. History, Theory and Practice. Detroit: Wayne State University Press

Wagemann, C.-H., 1991:
Briefe über Hochschulunterricht. Weinheim: Deutscher Studien Verlag

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Prof. Dr. Peter Euler
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