Disziplinarität und Inter-Disziplinarität in methodologischer Sicht

Schwerpunktthema - Method(olog)ische Fragen der Inter- und Transdisziplinarität – Wege zu einer praxisstützenden Interdisziplinaritätsforschung

Disziplinarität und Inter-Diziplinarität in methodologischer Sicht

von Mathias Gutmann, Universität Marburg

Wenn von Interdisziplinarität die Rede ist, stehen Probleme ganz besonderer Form zur Lösung an. Probleme jedenfalls, für die (in durchaus pejorativer Abgrenzung) „nur“ disziplinäre Ansätze nicht hinzureichen scheinen. Die weiteren Überlegungen verstehen sich vor allem als sichtendes Fragen, das auf die Struktur der mit Interdisziplinarität in Abgrenzung von Disziplinarität verbundenen Rede zielt. Dabei geht es weniger um terminologische oder begriffliche Bestimmungen; Aufgabe ist es eher zu fragen, ob und wenn ja, welche Kriterien ausgezeichnet werden können, um interdisziplinäre Probleme der Form nach von anderen Problemtypen abzugrenzen. Unsere gesamten folgenden Überlegungen gehen dabei gleichsam natürlicherweise von wissenschaftlichem Wissen aus, einem Wissenstypus also, der geltungsmäßig sehr gut charakterisierbar ist. Die These ist, dass die Disziplinen keine einfach gegebenen Einheiten sind, sondern dass diese in sich selbst Formen der Interdisziplinarität aufweisen.

1     Die Redeform über Interdiszplinarität

Einen Einstieg in die Definition der Wissensform „Interdisziplinarität“ erhalten wir, wenn wir über die Redeformen nachdenken, die ihr zugrunde liegen. Gehen wir von üblichen, d. h. (scheinbar) disziplinären Redebeispielen aus, dann könnten die folgenden Aussagen Kandidaten für die Repräsentation disziplinären Wissens sein: 

  1. In der Fallröhre ist die Fallgeschwindigkeit zweier Körper unter Standardbedingungen unabhängig von der Masse.
  2. Die Keto- und die Aldehydform stehen in einem Lösungsgleichgewicht.
  3. Nach dem Pauliprinzip haben niemals zwei Elektronen eines Atoms identische Quantenzahlen.
  4. Tintenschnecken verfügen über Niederdruckkreislaufsysteme.
  5. Unter Augustus brach die italische Kleinbauernwirtschaft zusammen.
  6. Die Kondratieff-Zyklen umfassen ca. 50 Jahre.

An diesen Sätzen ist zweierlei bemerkenswert: (1) Sie erscheinen auf den ersten Blick als disziplinäre, also (möglicherweise) wahre physikalische, chemische, historische oder ökonomische Aussagen. Fragt man hingegen (2) nach Beispielen interdisziplinärer Sätze, so scheint sich (ebenfalls auf den ersten Blick) kaum ein Kandidat dafür angeben zu lassen. Allerdings lehrt ein genaueres Hinsehen, dass wir mit beiden Feststellungen ein wenig zu voreilig waren. Denn möglicherweise sind ja (zumindest einige) der als disziplinär ausgezeichneten Sätze dies wirklich nur auf den ersten Blick. Nehmen wir als Beispiel Satz 5, dann zeigt sich sehr schnell, dass wir es hier weder nur mit einem reinen Datierungsproblem zu tun haben, noch lediglich mit den üblichen Schwierigkeiten sauberer Quellenarbeit. Hinzu kommt jedenfalls noch ökonomisches Wissen, das es uns überhaupt erst gestattet, einen Begriff der antiken Wirtschaft zu bilden. Hinzukommen mögen soziographische oder klimatologische Wissensbestände, die die angegebene These plausibel machen. Auch für den Satz 4 gilt Analoges. Zunächst könnten wir die Frage nach der Kreislaufsystemcharakteristik von Sepien als rein biologisches Problem definieren. Danach ergäbe sich der Niederdruck einfach durch Zugehörigkeit zur „natürlichen Art“ Sepia officinalis. Doch auch hier wird zumindest „physiologisches“ Wissen investiert, das seinerseits konstitutiv an physikalisches und chemisches Wissen gebunden ist. Hinzu könnte selbst bei diesem unscheinbaren Beispiel einiges an ökologischem Wissen kommen. Und sogar das chemische Beispiel lässt die Vermutung zu, wir müssten einiges an Physik und jedenfalls (dies gilt auch für das physikalische Beispiel selber) an Messtechnik und evtl. an Messtheorie investieren - und für alle gemeinsam (inklusive der modernen Sozial- und Kulturwissenschaften) ist der Bezug auf Mathematik als konstitutiv.

Wenn wir also nach den Geltungskriterien interdisziplinärer Aussagen fragen, könnten wir regelmäßig mit einem Problem konfrontiert sein, das sich überhaupt nur in historischer Perspektive angehen lässt: mit der schlichten Tatsache nämlich, dass möglicherweise jedes wissenschaftliche Wissen seiner Form nach interdisziplinär ist. Daher müssen wir nun den Begriff der Disziplin näher betrachten.

2     Was ist eine Disziplin?

Hier lassen sich mehrere gleichermaßen zutreffende Antworten geben, denen gemeinsam - bei allen Unterschieden - geltungstheoretisch ist, dass der Ausdruck „Disziplin“ einen Einheitsgesichtspunkt angibt, unter dem bestimmtes Wissen der Form nach von anderem abgetrennt werden kann. Dies beachtend kommen wir zu mindestens zwei methodologisch entgegengesetzten Definitionen:

  1. Eine Disziplin bezeichnet eine historisch gewachsene Zusammenfassung von Wissensformen; die Entwicklung derselben ist als Ergebnis einer historischrekonstruktiven Darstellung im Wesentlichen frei von (starken) normativen Implikationen; dies entspricht einer Alltagsintuition zumindest in dem Sinne, dass wir aus dem so-und-so-geworden-Sein von etwas in der Tat kaum schließen wollen, es müsse auch so sein. Immerhin impliziert eine solche Definition noch nicht, dass es nur eine Geschichte einer Wissensform geben könnte. Es wird vielmehr auf den Gesichtpunkt ankommen, unter dem die jeweilige Geschichte geschrieben wird. So könnte etwa die Betrachtung der Institutionen durchaus andere - z. B. physik- oder biologiegeschichtliche - Resultate zeitigen als die Darstellung der Geschichte bestimmter Praxen, Theoriezusammenhänge, Schulzusammenhänge etc. 
  2. Eine Disziplin könnte auch eine systematisch-rekonstruktive Zusammenstellung von Wissen und Wissensformen sein. In diesem Falle ist der Ausdruck „rekonstruktiv“ stärker, denn es muss nun nicht nur eine normative Anfangsbestimmung für die historische Beschreibung vorgenommen werden, sondern auch für die Geltungskriterien, die einen bestimmten Wissenstypus konstituieren sollen.

In beiden Fällen müssten Kriterien angegeben werden, die je nach Gesichtspunkt der Betrachtung der Wissensform variieren, und wodurch sich die jeweilige „Einheit“ der betreffenden Disziplin erweisen ließe. Als solche Kriterien kommen in Frage: 

3     Kriteriologie des Interdisziplinären

Befassen wir uns der Reihe nach mit diesen Kriterien, dann können wir uns dem Problem der Interdisziplinarität methodologisch nähern und versuchen, Antworten auf die Bedeutung des Präfix „Inter“ zu geben.

3.1     Gegenstände und Themen

Die Schwierigkeiten einer gegenstandsorientierten Einführung von Interdisziplinarität lassen sich exemplarisch aufzeigen, wenn man bedenkt, dass ein und dasselbe Ding Gegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Beschreibungen sein kann. So lässt sich an einem Fisch ein Fallexperiment ebenso vollziehen wie an einem Stein (allerdings nicht besonders gut, wegen der irregulären Schwerpunktverteilung). Dieser Fisch kann aber auch zum biologischen Gegenstand werden, wenn nach der Anordnung seiner Muskeln und ihrem Verhältnis zur Geschwindigkeit des (lebenden) Tieres gefragt wird. Schließlich lässt sich technisch nach den Einflüssen der Schuppenstrukturen auf Strömungseigenschaften fragen oder chemisch nach der Art der Produktion der Muskelproteine. Selbst innerhalb der Biologie (sollte es sich denn dabei um eine Disziplin handeln) kann mit der Frage nach der Evolution, der Ökologie und der Biochemie dieses Tieres ein je unterschiedener Gegenstand resultieren. Die Gleichheit des Gegenstandes kann also nicht definierend für Interdisziplinarität sein.

3.2     Methoden

Die Einheit der Methoden dürfte als Kriterium der Bestimmung von Disziplin und Interdisziplin wohl ebenfalls scheitern. Denn hier liegt nämlich wieder ein notwendiger Bezug auf die Disziplin zugrunde. Man könnte wohl einen bestimmten Satz von Methoden oder Verfahrensweisen zur Einführung eines Abstraktbegriffs „Biologie“ nutzen. Wofür stünde dann aber der generische Singular „die“ Biologie? Denn zugestanden werden muss wohl, dass die Biologie oder die Physik genauso wenig als einheitliche Wissenschaft aufgefasst werden können wie „die Chemie“ oder „die Historik“. Selbst wenn man „biologische“, „physikalische“ oder „chemische“ Verfahren betrachten wollte, bliebe das Problem, welche Kriterien denn über die Zugehörigkeit von Verfahren zu jenen Wissenschaften entscheiden sollen. Besonders deutlich wird dies in der Biologie, die auf den ersten Blick über gar keine eigenen Methoden zu verfügen scheint (mit der Ausnahme von Züchtungs- und Kultivierungspraxen, die allerdings ihre Herkunft aus lebensweltlichen Praxen kaum verbergen können). Physiologische oder molekularbiologische Beschreibungen von Lebewesen und ihren Leistungen nutzen explizit chemische Methoden der Stoffanalyse sowie physikalische Methoden zur Messung von Strömen, Strömungen oder Potentialen. Im Bereich der Ökologie werden zudem technische Produktionsbeschreibungen für sink-source-Verhältnisse, kybernetische Beschreibungen und schließlich ökonomische Bilanzierungen verwendet. Für die Chemie scheint zumindest der Umgang mit Stoffen und Stoffumsetzung einen eigenen Praxisbereich zu definieren, wobei auch hier technische und physikalische Verfahrensweisen ins Spiel kommen. Nimmt man an, dass Biologie und Chemie letztlich auf Physik aufbauen, dann bleibt die Frage, ob jede Messung notwendig schon ein physikalisches Verfahren ist (dazu Janich 1979). Für alle Naturwissenschaften gilt darüber hinaus der notwendige Bezug auf Mathematik (hierzu Lorenzen 1987).

Diese Zusammenhänge führen darauf zurück, dass letztlich wieder eine nicht reflektierte Antizipation der historischen oder institutionellen Einheiten „Disziplinen“ uns erlauben würde, in einem ersten Schritt Verfahren mit den auf sie zu gründenden Wissenschaften zu identifizieren. Dies erscheint aber unter dem von uns gewählten geltungstheoretischen Gesichtspunkt jedenfalls unzureichend.

3.3     Mittel

Betrachten wir die Mittel, mit denen gehandelt wird, dann eröffnet sich die Perspektive eines instrumentellen Verständnisses von Wissenschaften. Die Aufgabe wissenschaftlicher Arbeit wäre danach nicht zunächst in der Abbildung der Wirklichkeit zu sehen, sondern in der Entfaltung von Handlungsmöglichkeiten; etwas prosaischer also in der Vergrößerung unseres Manipulationswissens. Das „Know-that“ beinhaltet gerade jene technische Komponente, die für instrumentalistische Wissenschaftstheorien immer der Ausgangspunkt der Betrachtung war (s. Dewey 1925; Fleck 1935; Janich 1997). Dabei ist aber nicht entscheidend, dass Mittel gebaut oder entwickelt werden. Auch Messgeräte sind ja Mittel, mit denen Zwecke erreicht werden. Viel entscheidender ist, dass die Konfigurationen selber, die Arrangements und Settings, die den Gebrauch von Messgeräten ermöglichen, ihrerseits entwickelt und verändert werden. Das, was als „Experiment“ die Grundlage moderner Naturwissenschaften angibt, lässt sich als ein solches Setting beschreiben. Und für eben diese Mittelform gilt, was für alle anderen Mittel auch gilt: sie sind wohl zweckorientiert, aber nicht zweckdeterminiert (dazu Gutmann 1995). An den Mitteln, die einmal zu Zwecken entwickelt wurden, lassen sich immer auch andere Zwecke erfinden: Wir können hier von einem wirklichen „Entdecken“ von Zwecken an Mitteln sprechen. Damit lassen sich (mindestens) zwei Formen des Wissenschaftstreibens unterscheiden, die beide ihr gutes Recht behaupten:

  1. Die Anwendung von Mitteln zur Lösung von Problemen. Diese entspricht im Wesentlichen dem Konzept der normalen Wissenschaft Kuhns, wobei entscheidend ist, dass die Problembeschreibungen selber nicht zum Gegenstand der Reflexion werden (dazu unten mehr). 
  2. Als zweite Form wird hier nicht - wie vielleicht erwartet - die Grundlagenforschung genannt; es geht vielmehr, dem instrumentalistischen Ansatz gemäß, um solche Formen wissenschaftlichen Handelns, bei dem die Veränderung und Entwicklung der Arbeitsmittel selber der Zweck ist.

Die zweite Form wissenschaftlichen Handelns ist unstrittig die für den Instrumentalismus relevantere, realisiert sie doch den Zwecküberschuss der Mittel produktiv und zugleich reproduktiv. Ein sehr schönes Beispiel geben uns die Mendelschen Versuche zur Vererbungslehre. War die ursprüngliche Fragestellung nämlich weniger die nach den Gesetzen der Vererbung als vielmehr die Bestimmbarkeit der Artkonstanz und der - im Vergleich dazu - Konstanz der Bastarden, so entwickelte Mendel (gleichsam nebenbei) als Mittel eine Grundform züchterischen Handelns so weit, dass sie bis heute als Paradigma experimentellen Handelns in der Genetik gelten kann. Aber: Es war keinesfalls das Ziel Mendels, diese Mittel bereitzustellen. Sie waren eben bezüglich seiner Fragestellung „bloße“ Mittel; die Fragestellung gab die Zwecke an. Zwecke übrigens, die für die moderne Biologie schon lange als Fragegegenstand keine Rolle mehr spielen - ganz im Gegensatz zu den Mitteln. Die Mittel geben uns zumindest in einer bestimmten Beschreibung eine Möglichkeit an die Hand, wissenschaftliche Praxis so auf lebensweltliche Praxis zurück zu beziehen, dass bezüglich der dabei auftretenden Probleme „Disziplinen“ bestimmt werden können. Aber auch hier gilt, dass mit Blick auf die Mittel alleine keine Abgrenzung der Disziplinen so gelingt, dass damit unsere Intuitionen eingeholt werden, die wir an solchen Beispielen wie „Biologie“ oder „Soziologie“ explizieren.

3.4     Probleme

Grundsätzlich lassen sich zwei Umgangsformen mit Problemen angeben, (1) eine, nach der Probleme „existieren“ und (2) eine, nach der Probleme durch Beschreibungen erst konstituiert werden:

  1. Danach gibt es bestimmte Probleme, für deren Lösung sich Mittel unterschiedlicher Form anbieten. Es steht dahin, woher diese Probleme eigentlich stammen. Selbst im konstruktivistischen Zugriff scheint die Herkunft der Probleme durch den Rückbezug von Wissenschaften auf ihren Sitz in der Lebenswelt nicht frei von solchen Existenzvermutungen zu sein (dazu Schwemmer 1987; Janich, Hartmann 1998). 
  2. Alternativ ließe sich vermuten, dass Probleme nicht nur beschrieben werden müssen, sondern überhaupt erst in und durch Beschreiben erzeugt werden. In einem starken Sinne wären danach Probleme nicht beschreibungsinvariant, was sogleich die Frage nach den Beschreibungszwecken aufwirft, die als Gelingenskriterien der Beschreibung dienen, sowie den Mitteln, mit deren Hilfe die Beschreibungen angefertigt werden.

Je nach Annahme würden in einem Fall Probleme „gefunden“, während sie im anderen erzeugt würden. In beiden Fällen aber werden Wissenschaftssprachen eine besondere Rolle spielen. Wären nämlich Wissenschaften in einem verteidigbaren Sinne Abbildungen der Welt, dann liegt es nahe, Probleme, die sich mit dem Umgang mit Aspekten dieser Welt ergeben, gerade diesen wissenschaftlichen Beschreibungen der Weltzustände zu entnehmen; auch die Lösung der Probleme kann aus wissenschaftlichem Wissen vermutet werden. Sehr viel indirekter ist der Zusammenhang hingegen zwischen der Problemerzeugung und Wissenschaftssprachen, wenn Wissenschaften als besondere Mittel oder Formen des Weltverhaltens aufgefasst werden. Bleibt man bei der pragmatischen These, dass Wissenschaften Mittel der Weltbeherrschung sind (s. etwa Dewey 1925), verbirgt sich hinter einer Problembeschreibung immer zugleich auch ein konstitutiver Bezug auf menschliches Handeln an und in der Welt (hierzu Gutmann, Weingarten 2004; Gutmann 2004). Mehr noch: Die Erzeugung von Problemen zielt notwendig auf die Veränderung gerade jenes Weltverhaltens hin, das für die Etablierung der Wissenschaften und ihrer Sprachen relevant ist.

4     Konstruktive Alternative

Die Schwierigkeiten, die wir mit allen Formen der Disziplinen-Definition hatten, lassen sich möglicherweise beheben, wenn wir noch einmal an den Anfang unserer Fragestellung zurückkehren. Hier führte die Frage nach interdisziplinärem Wissen auf Abgrenzungskriterien für Disziplinen. Dabei blieb aber die nahe liegende Frage ausgeblendet, wozu, d. h. zu welchen Zwecken wir eigentlich überhaupt Disziplinen abgrenzen sollen. Lassen wir wiederum die nahe liegenden Aspekte der Universitätsverwaltung, und in gewissem Sinne auch der Forschungsverwaltung wie -förderung, selber außer Acht und fragen nach kognitiven Zwecken, die der Disziplinenbildung unterlegt werden können. Gehen wir hierzu wieder von der schon angeführten Wortbedeutung aus, dann hat die Rede von Disziplin sehr viel mit Schule, Schulenbildung und Verfahrensformen zu tun. Wollen wir Wissenschaften nicht auf das Tun Einzelner reduzieren, was unserer Charakterisierung als „gemeinsame Praxis“ diametral entgegengesetzt wäre, dann verwiese die Rede von Disziplin auf ein nicht-arbiträres Moment zumindest hinsichtlich des gemeinsamen Tuns als eines geformten Tuns. Halten wir ferner daran fest, dass Disziplinen zumindest auch Ergebnis eines systematisch-rekonstruktiven Vorganges sind und sich - jedenfalls auch - auf die Entwicklung von Mittelverhältnissen innerhalb der Form wissenschaftlichen Handelns beziehen, so könnte man vermuten, dass Disziplinen selber Mittel eben der Reproduktion jener Bedingungen sind, unter denen wissenschaftliche Praxis stattfindet. Anders formuliert: Disziplinen sind (jedenfalls auch) Medien der Reproduktion gemeinsamer Tätigkeit. Trifft diese Charakterisierung zu, dann ließe sich thetisch zum Problem der Interdisziplinarität folgendes festhalten:

  1. Es „gibt“ keine disziplinären oder „interdisziplinären“ Wissensbestände, die einander sinnvoll gegenübergestellt werden könnten - zumindest nicht insofern sie Wissen sind. 
  2. Interdisziplinarität - verstanden als systematisches Rekonstrukt mit Bezug auf die Entwicklung von Mitteln - bezeichnet die Form wissenschaftlichen Wissens selber. 
  3. Disziplinen sind dann rekonstruktiv-reflexive Ergebnisse der Artikulation wissenschaftlicher Tätigkeit.
  4. Der Begriff „Disziplin“ zielt nicht auf bestehende Gegenstände „in der Welt“, sondern bezeichnet eine bestimmte Form des Sich-Verhaltens zu menschlicher, hier näherhin wissenschaftlicher Tätigkeit. 
  5. Der Ausdruck der „Disziplinen-Bildung“ muss daher mehrdeutig sein. Denn damit ist zum einen ein nicht arbiträrer und nicht-deliberativer Aspekt der Veränderung gemeinsamer Tätigkeit und ihrer Artikulation gemeint. Insofern geht der Sache nach die Disziplin als Form des Tuns dem Tun Einzelner voran: der Einzelne hat „die Disziplin“ zu respektieren. Zugleich aber ist die Disziplin Ergebnis der Reflexion dieser Veränderung als Entwicklung von Mittelverhältnissen - insofern geht das Tun des Einzelnen der Zeit nach der Disziplinbildung voraus.

Literatur

Dewey, J., 1925:
Experience and Nature. New York: Dover Publisher

Fleck, L., 1993:
Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (1. Aufl. 1935)

Gutmann, M., 2004:
Erfahren von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie. Bielefeld: transcript

Gutmann, M., 1995:
Modelle als Mittel wissenschaftlicher Begriffsbildung: Systematische Vorschläge zum Verständnis von Funktion und Struktur. In: Gutmann, W.F.; Weingarten, M. (Hrsg.): Die Konstruktion der Organismen II. Kohärenz, Struktur und Funktion. Aufsätze und Reden der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, 43, Frankfurt, S. 15-38

Gutmann, M.; Weingarten, M., 2004:
Preludes to a Reconstructive „Environmental Science“. Poiesis & Praxis, Vol. 3, Nr. 1-2, S. 37-61

Janich, P., 1979:
Physikalische Begriffsbildung gegen das Prinzip der methodischen Ordnung? In: Balzer, W.; Kamlah, A. (Hrsg.): Aspekte der physikalischen Begriffsbildung. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, S. 81-98

Janich, P., 1997:
Kleine Philosophie der Naturwissenschaften. München: Beck

Janich, P.; Hartmann, D., 1998:
Methodischer Kulturalismus. In: Janich, P.; Hartmann, D. (Hrsg.): Methodischer Kulturalismus. Frankfurt: Suhrkamp, S. 9-69

Lorenzen, P., 1987:
Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie. Mannheim, Wien, Zürich: BI

Schwemmer, O., 1987:
Handlung und Struktur. Frankfurt: Suhrkamp

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