Tagungsberichte und Tagungsankündigungen
Tagung: Pervasive Computing – Totale Vernetzung. Visionen eines neuen Verhältnisses von Technik und Gesellschaft (Dortmund, 22.-23. April 2005)
Pervasive Computing - Totale Vernetzung. Visionen eines neuen Verhältnisses von Technik und Gesellschaft
Dortmund, 22. - 23. April 2005
Tagungsbericht von Stephan Cramer, Universität Dortmund, Fachgebiet Techniksoziologie
Die Vision einer Ausbreitung smarter Dinge, die sich selbst koordiniert vernetzen und alltägliche Prozesse - von der Medikamenteneinnahme bis zur Haustechnik - überwachen und steuern, prägt den Diskurs um die pervasive, alles durchdringende Verbreitung der Computertechnik. „Pervasive Computing - Totale Vernetzung. Visionen eines neuen Verhältnisses von Technik und Gesellschaft“ lautete dementsprechend der Titel einer Tagung, die am 22. und 23. April im Fachgebiet Techniksoziologie der Universität Dortmund stattfand.
1 Pervasive Computing: Technische Potenziale, soziologische Thematisierung
Zur Einführung in die Thematik skizzierte Marc Langheinrich (ETH Zürich) anhand instruktiver Beispiele vom smarten Medizinschrank bis zur „Raserkontrolle“ durch den „intelligenten“ Tacho die technischen Potenziale des PvC. Allerdings handele es sich größtenteils um erste Entwürfe unter Laborbedingungen. Zahlreiche technische Probleme, wie z. B. die Reichweite von RFID-Transpondern (berührungslos ablesbaren Chips mit Datenspeichermöglichkeiten, z. B. als Ersatz für barcodes) seien noch nicht gelöst. Dieser Befund kennzeichnet die Notwendigkeit, Diskurse um zukünftige technische Entwicklungen auf ihren Gehalt an science fiction zu hinterfragen. Das Streben danach, neue Marktpotenziale zu erschließen, ist offenbar damit verknüpft, zunächst universelle Anwendungsmöglichkeiten des PvC zu propagieren.
Im zweiten Tagungsbeitrag reflektierte Johannes Weyer (Universität Dortmund) PvC als techniksoziologisches Thema und unterstrich die Notwendigkeit, innovative techniksoziologische Konzepte und Theorien zu entwickeln, um die zwischen Mensch und Technik verteilten Handlungs- und Entscheidungsprozesse auch begrifflich angemessen zu berücksichtigen. Dabei stelle sich vor allem die Frage nach einem innovativen Kontrollmodus für verteilte Systeme als dritten Weg zwischen zentralisierter Kontrolle und dezentraler Selbstorganisation. Komplexitätszunahmen seien zentralistisch nicht mehr bewältigbar, während eigendynamische Prozesse im Hinblick auf nichtintendierte Folgen für die Systemumwelt bewertet werden müssten: Verteilte Systeme bedürften innovativer Governance-Modi, innerhalb derer die funktionale und sichere Kommunikation zwischen Zentrale und dezentralen Elementen gestaltet werden müsse.
2 Aspekte der Soziologie hybrider Systeme
Werner Rammert von der TU Berlin stellte ein Modell gradualisierter Handlungsträgerschaft vor. Verteiltes Handeln in hybriden Konstellationen erfordere konzeptionelle Überlegungen zur differenzierten und empirisch fundierten Analyse von Hybridität. Rammerts Vorschlag mündete in ein analytisches Raster mit empirischer Relevanz. Der „technographische Vergleich“, der Artefakte in Interaktionen und in verteilten Konstellationen analysiere, könne Technik jenseits determinierter Funktionen berücksichtigen, kooperative soziotechnische Konstellationen offen legen und einen Beitrag dazu leisten, konstellationsanalytisch vorzugehen und soziotechnische Konfigurationen experimentell mit zu gestalten.
Der Technikphilosoph Klaus Wiegerling (Universität Stuttgart) verwies auf die Bedeutung der Kontextrekonstruktion für kontextsensitive Technik. Trotz algorithmisch determinierter Abläufe müsse Technik das Ereignishafte in seiner nicht determinierten Mannigfaltigkeit bewältigen. Zudem sei die geplante Anpassung informatisierter Prozesse an die (individuellen) Nutzer immer mit deren Stereotypisierung verbunden, über deren Zuschnitt zu diskutieren wäre. Des Weiteren führe das Verschwinden sichtbarer Mensch-Maschine-Schnittstellen zu einem Widerständigkeitsverlust der sich in Grenzen anpassenden Dingwelt. Die Möglichkeit, am Objekt zu lernen, werde so minimiert. Daher seien Steuerungs- und Eingriffsmöglichkeiten über geeignete, also erfahrbare Schnittstellen weiterhin erforderlich, um eine sichere Lebensweltverträglichkeit innovativer technischer Möglichkeiten zu gewährleisten.
Wichtige Aspekte der Körpernähe von PC-Anwendungen stellte Sabina Misoch (Universität Potsdam) vor. Am Beispiel erster intrakorporaler Anwendungen kennzeichnete sie Problempotenziale bei der Konstitution eines Körperselbst: Das Körperinnere werde in Zukunft mit technisch generierten, körperfernen Prozessen vernetzt werden. Diskutiert wurden mögliche Unterschiede und Analogien zwischen intrakorporaler Technik und transplantierten Organen. Intrakorporale Technik könne aufgrund ihrer informationellen Vernetzung einen neuartigen, körperbezogenen Kontrollverlust bewirken. Es wurde u.a. die These diskutiert, ob derartige Prozesse zu einer gesteigerten Bedeutung körperbezogener Selbstbestimmung und Selbstgestaltung führen könnten.
Krankheitsbedingt musste der von Professor Christoph Hubig (Universität Stuttgart) angekündigte Beitrag leider ausfallen. Klaus Wiegerling übernahm es dann, Aspekte der Generierung normativer Kriterien für Mensch-Maschine-Interaktionen vorzustellen. Im Zentrum dieser Ausführungen stand die Problematik, wie Interaktion innerhalb soziotechnischer Konfigurationen zu gestalten wären. Es ergäbe sich eine permanente Kommunikationsnotwendigkeit über die Art und Weise, wie in solchen Konstellationen Subjekte zu modellieren seien. Ziel müsse es sein, die normativen Vorgaben solcher Modellierungsprozesse im sozialen Diskurs zu explizieren und dann sozial zu gestalten.
Während der erste Konferenztag ingenieurswissenschaftlichen, soziologischen und philosophischen Perspektiven des Phänomens des PvC gewidmet war, wurden am zweiten Tag erste Ergebnisse von Fallstudien und Untersuchungen zur Technikfolgenabschätzung vorgestellt.
3 Fallstudien: Gestaltungschancen und Riskanz in verteilten Verkehrssystemen sowie
„Wearable Computing“
Stephan Cramer und Tobias Haertel (beide Universität Dortmund) entwickelten am Beispiel der Einführung von Assistenzsystemen in Schifffahrt und Straßengüterverkehr, wie der Einsatz informatisierter Automatiken zur Bewältigung von Sicherheitsproblemen beitragen kann, gleichermaßen aber neue Problematiken entstehen können, die sich als gesteigerte und permanente Riskanz auszuwirken vermögen. Die inkrementelle Innovation vorhandener soziotechnischer Systeme durch die Integration informatisierter Automatiken kann demnach Rekonfigurationen im System nach sich ziehen, die Intentionen, Riskanz zu bewältigen, konterkarieren. Analog zu den theoretischen Befunden von Weyer, Wiegerling und Hubig bedarf es demnach geregelter Kommunikationsprozesse, um solche Potenziale von Eigendynamik abzubilden und in der strategischen Ausrichtung von Systemen angemessen zu berücksichtigen.
Aus einer netzwerkanalytischen Perspektive stellte Carmen Baumeler (Universität Luzern) vor, wie „Wearable Computing“ als Zielperspektive ein sehr heterogen strukturiertes Innovationsnetzwerk gerade deswegen auszurichten vermag, weil es um eine Zukunftsvision gehe, die verschiedene gegenwartsrelevante Anschlussmöglichkeiten eröffne. Entsprechend des latourschen Konzepts der „Translations“ wurde die Bedeutung innovativer Ausgangsideen zugunsten ihrer Orientierungsfunktion für nachgeordnete Vernetzungen relativiert.
4 Wichtige Aspekte einer Technikfolgenabschätzung des PvC
Die Fülle der Verwendungen von RFID-Transpondern und mögliche Folgen fasste Axel Zweck zusammen. Gerade im Bereich der Logistik (Sendungsverfolgung und Kontrolle) ergäben sich dann auch alltagsrelevante Anwendungen (automatisierte Preiserfassung im Supermarkt), die allerdings mit verschiedenen praktischen Problemen behaftet seien. Lösungen zur Datenkontrolle bei gleichzeitiger Sicherung der Privatsphäre (z. B. von Kunden) müssten gefunden werden. Diese Probleme erforderten eine intensive techniksoziologische Begleitforschung und eine öffentliche Diskussion, um Maßnahmen wie gesteigerte Transparenz des RFID-Einsatzes - z. B. durch eine Kennzeichnungspflicht damit versehener Produkte - zu erwägen und frühzeitig genug zu implementieren.
Der Beitrag von Michael Decker (ITAS, Forschungszentrum Karlsruhe) stellte einige Zielperspektiven einer Technikfolgenabschätzung des PvC vor: automatisierte Prozesse erfordern, so Decker, u. U. eine Beweislastumkehr, um den privaten Nutzer vor dem oft nicht zu erbringenden Nachweis zu schützen, entstandene Schäden seien von technischen Automatiken ohne menschliches Zutun verursacht worden. Zudem müsse der Schutz unbeteiligter Dritter gewährleistet sein und die Frage gestellt werden, wie viel uns zwischenmenschlicher Kontakt wert ist, wenn z. B. in der Pflege smarte Roboter eingesetzt werden könnten. Grundsätzlich könne, so Decker, der Einsatz von Expansionsrobotern zur Erweiterung menschlicher Handlungsmöglichkeiten unter gefährlichen Bedingungen empfohlen werden. Um Manipulationsgefahren vorzubeugen, sei es erforderlich, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass auch lernfähige und humanoide Systeme nicht personifiziert werden sollten, um ihren Charakter als technisches System nicht zu verschleiern.
Die (wissenschaftliche) Herkunft der Tagungsteilnehmer und die präsentierten Themenstellungen zwischen techniksoziologischer Theorie, Technikfolgenabschätzung und ethischen Implikationen reflektierten die interfakultative Komplexität des Tagungsthemas. Handlungsbedarf wurde sowohl im Hinblick auf analytische Konzepte als auch deren empirischer Überprüfung festgestellt. Und, darin waren sich alle einig, die Zeit drängt, wenn es darum gehen soll, die informatisierte Durchdringung „der Gesellschaft“ sozial zu gestalten.