VERA: Urbane Zeiten und Räume analysieren und gestalten

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VERA: Urbane Zeiten und Räume analysieren und gestalten

von Siegfried Timpf, Universität Hamburg

Lebensweltliche Zeitrhythmen und Zeitbedürfnisse von Individuen, Familien und Gruppen geraten unter den Druck von Zeitstrukturen, die durch Erwerbsarbeit, Transportmittel, Dienstleistungen und Versorgungseinrichtungen vorgegeben werden. Über einen Vergleich früherer und heutiger Zeit- und Raumstrukturen werden in dem Projekt VERA sowohl Ausdifferenzierungsprozesse als auch Konfliktmuster entlang der Verknüpfungen von Zeit und Raum über „Realexperimente“ untersucht.

Im Verbundprojekt VERA werden zwei Ziele verfolgt. Zum einen soll die Zeit- und Raumanalytik von Stadtregionen weiterentwickelt werden. Urbane Zeiten bedürfen in einer Phase der Auflösung standardisierter Arbeits-, Öffnungs- und Nutzungszeiten einer politischen Gestaltung. Urbane Raumnutzungen sind ebenfalls in Bewegung geraten - insbesondere durch eine Nutzungsmischung in Quartieren, in denen sich bevorzugt die Unternehmen rund um das Internet, die Werbung und Dienstleistungen aller Art angesiedelt haben. Diese Prozesse werden analysiert unter der Voraussetzung, dass sowohl die erwähnten Zeiten als auch die Räume gesellschaftlich konstruiert und für Gestaltungsprozesse ökonomischer, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit interessant sind. Zum anderen werden in VERA Realexperimente unter Beteiligung städtischer Entscheider und zivilgesellschaftlicher Akteure durchgeführt, die im urbanen Alltag eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität bewirken sollen.

Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und ist innerhalb des Programms „Sozialökologische Forschung“ dem Schwerpunkt „Stadt- und Regionalentwicklung“ zugeordnet. Es ist interdisziplinär strukturiert und wird unter Beteiligung von Wissenschaftern der lokalen Zeit- und Politikforschung, der Stadtökonomie, der Stadtsoziologie und der Wirtschaftsgeographie durchgeführt.

Der Projekttitel „Verzeitlichung des Raumes“ (Akronym VERA) ist erklärungsbedürftig. Er ist abgeleitet aus zeit- und raumpolitischen Diskursen. Lebensweltliche Zeitrhythmen und -bedürfnisse von Individuen, Familien und Gruppen geraten unter den Druck von Zeitstrukturen, die durch Erwerbsarbeit, Transportmittel, Dienstleistungen und Versorgungseinrichtungen vorgegeben werden. Deren veränderte Raumbeziehung zieht neue und/oder erhöhte „Zeitkosten“ nach sich. Diese Entwicklung zieht sich nicht gleichförmig durch die Stadtregionen, sondern ergreift unterschiedliche Stadtbevölkerungen – insbesondere Männer und Frauen – in unterschiedlicher Weise. Diese neue Pluralität schafft ihrerseits Koordinationskonflikte und -zwänge. Mit steigender Mobilität wird der nicht-regenerative Verbrauch von Natur und ökologischen Ressourcen infolge von Bodenversiegelung erhöht, Schadstoffemission führt zu übermäßiger „Diskontierung“ der Zukunft gegenüber der Gegenwart, bedroht die Nachhaltigkeit und damit zugleich eine gerechte intergenerationale Wohlfahrtsverteilung. Raumnutzung und Zeitverwendung stehen also in engem wechselbezüglichen Zusammenhang. Diese Problemlagen bezeichnen wir als die „Verzeitlichung des Raumes“.

Hilfreich ist es in diesem Zusammenhang, frühere und gegenwärtige Zeit- und Raumstrukturen miteinander zu konfrontieren, um diese Problemlagen anschaulich werden zu lassen. Früher bestand eine funktionale, räumliche und zeitliche Trennung von Arbeitswelt und Lebenswelt, eine zwischen diesen getrennten Sphären vermittelnde Mobilität und eine geschlechtsspezifische Zuordnung von Räumen und Zeiten der Erwerbsarbeit und häuslicher Arbeit. Gegenwärtig verflüssigen sich diese Grenzen zwischen Arbeits- und Lebenswelt. Eine Vielfalt von raumzeitlichen Ausprägungen der Arbeits- und Lebensorganisation ist entstanden mit einer entsprechenden Vielfalt von Beschäftigungsverhältnissen und Lebenslagen. Damit entstehen u. a. auch Chancen für eine andere Gestaltung der Geschlechterverhältnisse.

Das Verhältnis von alltäglicher Lebensführung sowie Raumnutzung und -beziehung soll im Vorhaben strukturierungstheoretisch erschlossen werden. Von besonderem Interesse sind dabei die Bedingungen gesellschaftlichen Handelns („Strukturebene“), die damit zusammenhängenden Handlungsmotive und -ziele von Akteuren („Inhaltsebene“) sowie der politische Rahmen für Lenkung und Konfliktaustragung („Governance-Ebene“). Die Verzeitlichung des Raumes wird unter diesen drei Gesichtspunkten erschlossen. Ausgangspunkt ist die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens, der zufolge gesellschaftliche Prozesse weder einseitig objektiv noch einseitig subjektiv determiniert sind. Durch zwei Konkretisierungen wird die Strukturierungstheorie für die Untersuchung lokaler Raum-Zeit-Verhältnisse anschlussfähig. Giddens grenzt über das Konzept der „Regionalisierung“ die Zonen gesellschaftlicher Strukturierung geographisch ein. Weiter interpretiert er den Prozess der Strukturwerdung als Vorsprung in der Zeit, nimmt also eine Verzeitlichung des Raumes vor. Seinem Regionalisierungskonzept folgen neuere Ansätze der Aktionsraumforschung und der Chrono-Urbanistik. Die Forschungsteams gehen der Strukturebene anhand neuerer geographischer Erkenntnisse nach und möchten hier potenzielle Konflikte zwischen „Eigenzeiten“ innerhalb des Raumes und funktionellen Zeiten von Ökonomie, Ökologie und Politik ermitteln.

Der Zugang zur Verzeitlichung des Raumes bezieht sich in der Analyse der Konflikte um „Zeit im Raum“ auf die von Lockwood eingeführte Dichotomie von System und Lebenswelt. Die im Projekt bearbeiteten „Raum-Zeit-Konflikte“ werden als Symptome des Zusammentreffens von System- und Sozialintegration im gesellschaftlichen Nahraum gedeutet. Diese Symptome zeigen sich in der Zersplitterung und Fremdbestimmung der Raum-Zeitstrukturen des Alltages, in der Unvereinbarkeit von Erwerbsarbeit und familiären Raum-Zeitstrukturen, der „Entgrenzung“ von Arbeit und der Verrückung der Grenzlinien zwischen Arbeits- und sozialen Zeiten.

An dieser Grenzlinie von System- und Sozialintegration versagen die traditionellen Formen der Konfliktregulierung und treten neue zivilgesellschaftliche Akteurskonstellationen auf. Nahräumliche Fragen der Alltagsbewältigung und Fragen der normativen Horizonte, der Perspektiven, der Akteure und Arenen sowie der Rechte und Instrumente zu ihrer Lösung gewinnen für Politiken zunehmende Bedeutung. Dem könnte perspektivisch das neue Konzept eines raum-/zeitbezogenen Stadtbürgerrechts und seiner Repräsentation auch im nahräumlichen Bereich entsprechen - etwa bei der Frage, ob dem Raum inhärente (ökologische, biologische, kulturelle und/oder soziale) Eigenzeiten umstandslos dem funktionellen Zeitregime und damit der der Expansion, Dynamisierung und Beschleunigung des Raumes untergeordnet werden dürfen.

Ein zweiter methodischer Pfad ist entscheidend für die angestrebten realexperimentellen Gestaltungen. Durchgeführt werden Workshops unter Verwendung von Elementen der Choice-Work-Methode von Daniel Yankelovich. Choice-Work ist ein Partizipationsverfahren, bei dem Menschen sich der Mühe unterziehen, eine zu lösende Aufgabe der Gestaltung anzunehmen, dabei vielfältige und kontroverse Gesichtpunkte zur Lösung der Aufgabe argumentativ und emotional zur Geltung kommen lassen und aus der dialogischen Auseinandersetzung untereinander und unter fachkundiger Beratung eine möglichst angemessene Auswahl unter den sich bietenden Lösungsoptionen treffen.

Das Ziel der Forschung ist doppelt definiert: Sie greift praktisch verändernd in gesellschaftliche Prozesse ein und eröffnet zugleich die Möglichkeit, theoretische Grundannahmen zu überprüfen. Die gewonnenen Daten werden als Momente eines prozessualen Ablaufes innerhalb eines raum- und zeitanalytisch eingegrenzten sozialen Feldes gedeutet und auf diese Weise können sie konstitutiv werden für anschließende modifizierte Prozessabläufe, die an möglichst exakt bestimmten Punkten des Untersuchungs- und Gestaltungsfeldes ansetzen. Es existiert ein sukzessives Verhältnis von Phasen der Einflussnahme, der aktivierenden Interaktion und der Reflexion. Dabei wird die traditionelle Distanz zum Forschungsgegenstand aufgegeben, weil die Forschenden selbst zu diesem gehören.

Drei normative Bezugspunkte werden in „Realexperimenten“ konkretisiert und modifiziert:

Bezogen auf die Realexperimente in urbanen Quartieren werden auf dieser Grundlage vier Ziele verfolgt: (1) Gestaltung eines Community-Knowledge-Centers (innovativer und integrativer Raum-Zeit-Knoten), (2) Einstieg in eine neue Stufe des Audits „Beruf und Familie“ (Territoriales Netzwerk), (3) Balancierung von Bedarfen gegenwärtiger und künftiger Nutzungspopulationen, (4) Stabilisierung kreativer Milieukomponenten in konfrontativen Raum-Zeit-Regimes.

Die Raum- und Zeitanalytik zielt darauf ab, neue Erkenntnisse zur Schnittstelle Arbeits- und Lebenswelt in dynamischen Quartieren metropolitaner Regionen, zu Gestaltungsoptionen von Wohnen, Arbeiten und Mobilität mit alltagspraktischem Fokus, zur Weiterentwicklung von Methoden und Instrumenten der Partizipation in raumzeitlichen Planungs- und Entscheidungsprozessen sowie zum Zusammenhang von stadtstrukturellen Entwicklungen und aktionsräumlichen Nutzungen zu gewinnen.

Innerhalb des Projektverbundes besteht entsprechend der doppelten Zielsetzung von Raum-Zeit-Analytik und realexperimenteller Gestaltung eine doppelte Arbeitsteilung (siehe dazu Tab. 1). Die Teams sind jeweils für inhaltliche Schwerpunkte (Verfahren, Inhalte, Strukturen) verantwortlich und für die Koordinierung jeweils eines Realexperimentes.

Tab.1: Schematische Darstellung der Arbeitsteilung zwischen den drei VERA-Teams

Arbeitsteilung Team Zeitpolitik Team Stadtökonomie Team Geographie
Thematisch Alltagszeiten, normative Konzepte und Beteiligung (Verfahren) Zeithandeln an der Schnittstelle von System und Lebenswelt (Inhalte) Innerurbane Dynamik und raumzeitliche Strukturen (Strukturen)
Realexperimentel Ausbalancierung verschiedener Zeitregimes im Stephaniquartier in Bremen Gestaltung eines Community-Knowledge-Centers und Audits "Beruf und Familie" in der Hafencity Hamburg Möglichkeiten der Stabili-sierung kreativer Milieu-komponenten im Schanzen-quartier Hamburg

Quelle: Eigene Darstellung

Das Team „Zeitpolitik/lokale Governance“ hat eine Zeitanalytik entwickelt, in der die zentrale Hypothese ist, dass Zeit in der gesellschaftlichen Entwicklung einem Vorgang des Abstraktwerdens unterliegt, indem Zeitverfügung und die Zwecke der Zeitverwendung voneinander unabhängig werden. Die Verfahrensseite der Realexperimente wird durch die Annahme geleitet, dass eine neue Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und der administrativen Macht von entscheidender Bedeutung ist, und über die Ausbildung von Sensoren (Choice-Work) die unterschiedlichen Logiken der System- und Sozialintegration in ein produktives Verhältnis treten können. Das Team „Stadtökonomie/-soziologie“ konzentriert sich auf die Entgrenzungserscheinungen fordistischer und postfordistischer Arbeitsregulation. Postfordistische Arbeitsregulation wird als neuartige und konflikthafte Verschränkung von Systemlogiken und lebensweltlichen Logiken gedeutet. Auf der einen Seite ist es die wachsende Wissensökonomie, die durch ihre Arbeitsformen und insbesondere ihre differenten Arbeitszeitmuster Druck auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausübt. Auf der anderen Seite kann dieser Druck nicht mehr durch eine entsprechende komplementäre Lebensform ausgeglichen werden, da durch die Zunahme von Frauenerwerbstätigkeit die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die dazugehörige Lebensform der Ein-Ernährer-Ehe nicht mehr funktioniert. Das Team „Geographie“ geht von einer Fragmentierung aus, was bereits auf die Materialität der heutigen Stadt verweist, in der die fordistische Funktionstrennung nur teilweise aufgehoben wird, gleichzeitig aber neue Formen der Entmischung und Funktionsspezialisierung auftreten. Entgrenzung wird an veränderten Aktionsräumen analysiert, die u. a. von einer spezifischen Kompetenz innerhalb beschleunigter Verhältnisse abhängen. Es ist die Kompetenz, verschiedene Funktionen zu überlagern und im schnellen Wechsel ausüben zu können.

Kontakt

Dr. Siegfried Timpf
Universität Hamburg
Forschungsstelle Zeitpolitik
Rentzelstraße 7, 20146 Hamburg
Tel.: +49 40 248386477
E-Mail: siegfried.timpf∂wiso.uni-hamburg.de