Technikfolgenabschätzung im Bereich Landwirtschaft und Ernährung

Ergebnisse von TA-Projekten – Neue TA-Projekte

Technikfolgenabschätzung im Bereich Landwirtschaft und Ernährung

Vorstellung der Habilitationsschrift [1]

Von Rolf Meyer, ITAS

Sowohl eine Bestandsaufnahme sowie eine Klassifizierung von TA-Projekten im Bereich Landwirtschaft und Ernährung als auch eine Bestandsaufnahme der Diskussion zur nachhaltigen Entwicklung auf diesem Gebiet nimmt der Autor in seiner Habilitationsschrift vor. Aufbauend auf diesen Ergebnissen werden die Möglichkeiten des gegenseitigen Inputs beider Bereiche auf der konzeptionellen Ebene erörtert und Ausblicke für eine Weiterentwicklung gegeben. Außerdem werden Untersuchungsschwerpunkte abgeleitet, die für zukünftige Untersuchungsaktivitäten von besonderem Interesse erscheinen. In einem gesonderten Kapitel werden schließlich methodische Perspektiven möglicher zukünftiger Studien kritisch beleuchtet.

1     Einführung in den Untersuchungsgegenstand

Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Darstellung eines Teils der Untersuchungen, die im Rahmen der Habilitationsschrift zum Thema „Technikfolgenabschätzung im Bereich Landwirtschaft und Ernährung“ vorgenommen wurden.

Die Hauptzielsetzung der Arbeit war, den Stand der Forschung zur Technikfolgenabschätzung im Bereich Landwirtschaft und Ernährung aufzuarbeiten und mit der Diskussion um eine nachhaltige Entwicklung zu verknüpfen. Folgende Teilziele wurden dafür untersucht:

In diesem Beitrag wird nun ein Ausschnitt der Ergebnisse dieser Arbeit vorgestellt: Eingegangen wird auf die vergleichende Analyse der TA- und Nachhaltigkeitsprojekte zu Landwirtschaft und Ernährung (insbesondere im Hinblick auf die behandelten Themenfelder und Schwerpunkte), die auf den systematischen Bestandsaufnahmen aufbaut, sowie auf übergreifende methodische Perspektiven, die für zukünftige Projekte von Bedeutung sind.

2     TA- und Nachhaltigkeitsprojekte im Bereich Landwirtschaft und Ernährung

2.1     Überblick

Im ersten Schritt der Bestandsaufnahme und Analyse der im deutschsprachigen Raum durchgeführten Projekte zum Bereich Landwirtschaft und Ernährung wurde nach Projekten zu Einzeltechnologien, Entwicklungslinien und Entwicklungsalternativen, d. h. nach verschiedenen Systemebenen, strukturiert. Damit verbunden ist eine unterschiedliche Komplexität des Untersuchungsgegenstandes, da eine höhere Systemebene eine größere Zahl von Subsystemen bedeutet.

Insgesamt 66 Projekte wurden identifiziert und analysiert. Einbezogen wurden nicht nur Projekte, die sich selbst als TA bezeichnen, sondern auch solche, die entsprechende Ansätze erkennen lassen. Bis zum Sommer 2002 zugängliche Projekte wurden erfasst. Bei der Auswahl der analysierten Projekte ist eine gewisse persönliche Gewichtung – ein subjektiver Anteil – unvermeidbar. Dies entspricht dem Verständnis von TA als einem offenen Rahmenkonzept. Zu den ausgewählten TA- und Nachhaltigkeitsprojekten wurde jeweils eine Kurzcharakterisierung der bearbeiteten Inhalte und der gewählten Vorgehensweise gegeben.

Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich eine Verstetigung der TA-Aktivitäten zu Landwirtschaft und Ernährung eingestellt. Auf der Basis der einbezogenen TA-Projekte wurden seit Mitte der 1990er Jahre rund fünf Abschlussberichte pro Jahr vorgelegt. Die TA-Aktivitäten konzentrierten sich auf die deutsche (bzw. europäische) Landwirtschaft, d. h. auf die Landbewirtschaftung in industrialisierten Ländern, und das deutsche (bzw. europäische) Ernährungssystem.

Bei der auf die Bestandsaufnahme aufbauenden vergleichenden Analyse der TA-Projekte wurden in einem Untersuchungsschwerpunkt Themenfelder und Schwerpunkte betrachtet [2] : Es wurde nach der Relevanz der durchgeführten TA-Projekte, nach der Abdeckung der jeweiligen Themenfelder und nach wichtigen Lücken gefragt. Die Vergleichsbasis bildete eine systematische Analyse des Themenfeldes Landwirtschaft und Ernährung. Daraus wurden jeweils Untersuchungsschwerpunkte [3] abgeleitet, die für zukünftige Aktivitäten von besonderem Interesse erscheinen. In den folgenden Kapiteln 2.2 bis 2.4 werden Kernaussagen zu den Themenfeldern vorgestellt.

2.2     TA-Projekte zu Einzeltechnologien

TA-Untersuchungen zu Einzeltechnologien müssen zwangsläufig Einzelthemen darstellen; von ihnen kann keine systematische Einordnung in einen größeren Gesamtzusammenhang erwartet werden. Wie die Untersuchung gezeigt hat, sind hier einige relevante Einzelthemen behandelt worden. Allerdings hat das Themenfeld Bio- und Gentechnik ein gewisses Übergewicht. Fast völlig fehlen Untersuchungen zur Anwendung von Kommunikations- und Informationstechnologien sowie zur Automatisierung und Rationalisierung in der Landwirtschaft. Einzeltechnologien aus dem Bereich der Nahrungsmittelverarbeitung sind bisher noch gar nicht untersucht worden. Um diese Defizite aufzuarbeiten, werden beispielhaft folgende Untersuchungsschwerpunkte für zukünftige TA-Projekte vorgeschlagen:

2.3     TA-Projekte zu Entwicklungslinien

Viele Untersuchungen widmen sich Entwicklungslinien. Dabei stehen die Technikfelder nachwachsende Rohstoffe, Bio- und Gentechnologie sowie das Problemfeld Umweltwirkungen der Landbewirtschaftung im Vordergrund. Viele Projekte beziehen sich dabei auf Technikentwicklungen in der Pflanzenproduktion. TA-Projekte zur Tierproduktion sind dagegen weniger häufig vertreten. Fragestellungen aus dem Themenfeld Nahrungsmittelverarbeitung und -handel sowie Ernährung gewinnen erst allmählich an Bedeutung.

2.3.1     Nachwachsende Rohstoffe

Bei den TA-Studien zu nachwachsenden Rohstoffen hat es bisher eine eindeutige Konzentration auf die energetische Nutzung gegeben. Ein Defizit an TA-Untersuchungen besteht dagegen bei der chemisch-technischen Nutzung. Eine umfassende und in Tiefe gehende Gesamtbetrachtung dieses Nutzungsbereiches steht noch aus und vertiefte Untersuchungen von einzelnen Nutzungslinien sind erst in wenigen Ausnahmefällen erfolgt.

2.3.2     Bio- und Gentechnik

Zum Themenfeld Bio- und Gentechnik wurden die meisten TA-Projekte gefunden. In der Regel wird sich auf einen Expertendiskurs – zwischen der Wissenschaft und organisierten Interessengruppen (stakeholdern) – beschränkt. Die Projekte folgen in der Regel einem technikzentrierten Ansatz, was immer wieder kritisiert wurde, da nur im Vergleich mit alternativen Entwicklungslinien Risiken und Nutzen angemessen abgewogen werden könnten. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum ist, dass bei den Potenzialabschätzungen, d. h. den möglichen Chancen der Bio- und Gentechnik, längerfristige Betrachtungen vorherrschen. Hier ist mehrmals das Instrument der Delphi-Befragung eingesetzt worden. Dagegen stehen bei der Risikodiskussion und der Analyse möglicher Auswirkungen direkt vor der Anwendungsreife und Praxiseinführung stehende gentechnisch veränderte Pflanzen im Mittelpunkt, so dass hier vom Ausgangspunkt gesehen eher eine kurzfristige Betrachtung vorherrscht. Als mögliche wichtige Untersuchungsschwerpunkte werden identifiziert: „Gen-Pharming“ [4] und transgene Pflanzen der 2. und 3. Generation [5] , wobei die letztere Themenstellung mittlerweile in einem TAB-Projekt untersucht wurde [6] .

2.3.3     Landwirtschaftliche Produktionssysteme

Landwirtschaftliche Produktionssysteme sind ein neues Untersuchungsfeld, zumindest für Projekte mit einem der TA verwandten Untersuchungskonzept. Alle behandelten Projekte waren zum Untersuchungszeitpunkt noch nicht abgeschlossen. Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie sehr stark auf Technikgestaltung bzw. Lösungsansätze für konkrete Problemkonstellationen zielen. Allerdings wird nicht explizit Bezug genommen auf die entsprechenden TA-Konzepte der Technikgestaltung. Die Projekte zeichnen sich außerdem durch eine intensive Anwendung partizipativer Ansätze aus, insbesondere was die Einbeziehung von Betroffenen und möglichen Nutzern betrifft. Als denkbare zukünftige Untersuchungsschwerpunkte werden diskutiert:

Das Thema Precision Agriculture ist derzeit Gegenstand eines TAB-Projektes. [8]

2.3.4     Nahrungsmittelverarbeitung und Ernährung

Das Themenfeld Nahrungsmittelverarbeitung und Ernährung ist erst seit kurzem durch TA-Untersuchungen erschlossen worden. Dabei ist bei den ersten Untersuchungen eine Konzentration auf bestimmte Entwicklungslinien neuer Nahrungsmittelgruppen (Functional Food, neuartige Lebensmittel) festzustellen. In dem Projekt des TAB zu „Entwicklungstendenzen von Nahrungsmittelangebot und -nachfrage und ihre Folgen“ wurde erstmals ein Gesamtüberblick zu diesem Themenfeld erstellt (Meyer 2004a, b; Meyer, Sauter 2004; Sauter, Meyer 2004). Auf der Basis dieser umfassenden TA bieten sich nun einzelne, Nahrungsmittelgruppen übergreifende Technik- oder Problemfelder (z. B. Konservierungstechnologien) als Untersuchungsschwerpunkt für zukünftige TA-Projekte an.

2.3.5     Umweltprobleme der Landwirtschaft

Umweltprobleme der Landwirtschaft haben seit den 1980er Jahren eine große öffentliche Aufmerksamkeit und wurden seitdem in einer Reihe von Projekten – neben vielen anderen wissenschaftlichen Aktivitäten – bearbeitet. Eine Besonderheit ist dabei, dass die Mehrzahl dieser Projekte sich selbst nicht als TA bezeichnet oder versteht. In der Regel wurde nur eine umfangreiche Literaturauswertung vorgenommen. Aus der Problembeschreibung wurden dann Handlungsmöglichkeiten abgeleitet. Nur in einem Projekt wurden mittels Szenarien alternative Handlungsstrategien untersucht. Bei den ökologischen Problembereichen der Landwirtschaft ist vor allem der Wasserbereich umfangreich untersucht worden. Alleine zum Bereich Wasser wurden sieben Projekte gefunden. Zu den Problembereichen Klima, Biodiversität und Boden konnten dagegen nur wenige Untersuchungen identifiziert werden, die einem TA-Anspruch genügen; besonders ausgeprägt zeigt sich dies beim Bereich Boden.

2.4     TA-Projekte zu Entwicklungsalternativen und Nachhaltigkeitsuntersuchungen

Die Diskussion landwirtschaftlicher Entwicklungsalternativen ist in Deutschland durch die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begonnen worden. Neben deren systemaren Alternativen sind vor allem die Entwicklungsmöglichkeit einer umweltverträglichen bzw. ökologischen Landbewirtschaftung bearbeitet worden.

Seit Mitte der 1990er Jahre hat eine Ablösung durch Untersuchungen zur nachhaltigen Landbewirtschaftung und zur Nachhaltigkeit im Bereich Ernährung statt gefunden. Insgesamt wurden zehn Studien zur Nachhaltigkeit im Bereich Landwirtschaft und/oder Ernährung einer vertieften Analyse unterzogen. Vier Studien beschäftigen sich mit nachhaltiger Landwirtschaft (EK Erdatmosphäre 1994; Ganzert 1994; SRU 1996; Linckh et al. 1996, 1997). Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen und die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg behandeln dabei zusätzlich auch den Bereich Forstwirtschaft, worauf in der Arbeit nicht eingegangen wurde. Drei Studien, die des Wuppertal-Instituts (BUND, Misereor 1996), des Umweltbundesamtes (UBA 1997, 2002) und das HFG-Verbundprojekt (Kopfmüller et al. 2001; Grunwald et al. 2001, 2002; Coenen, Grunwald 2003) untersuchen eine nachhaltige Entwicklung für Deutschland, wobei der Themenbereich Ernährung eines der Untersuchungsfelder darstellt. Schließlich werden noch drei weitere Studien analysiert, die explizit den Bereich Ernährung behandeln (Zöller, Stroth 1999; Hofer 1999; Tappeser et al. 1999a, b).

Während sich einige Untersuchungen auf die ökologische Dimension konzentrieren, andere ökonomische Fragestellungen in den Vordergrund stellen, erfolgt eine gleichgewichtige Analyse der ökonomischen, sozialen und ökologischen Dimensionen nur in wenigen Studien. Die Untersuchungen mit dem Fokus Nachhaltigkeit bedeuteten einen Wandel in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist mit der Diskussion um eine nachhaltige Entwicklung die Betrachtung des gesamten Lebenszyklus von der Agrarproduktion bis zum Nahrungsmittelverbrauch ins Blickfeld gerückt. Entsprechende Untersuchungen der Zusammenhänge und Wechselwirkungen stehen aber noch am Anfang. Zum anderen war damit ein Wechsel von einem analytischen hin zu einem normativen Blickwinkel verbunden. Das Leitbild Nachhaltigkeit und seine Konkretisierung für Landwirtschaft und Ernährung ist nur normativ zu bestimmen. Die meisten Nachhaltigkeitsuntersuchungen versuchen insbesondere, mögliche Wege hin zur Erreichung dieses Leitbildes zu entwickeln. Im HFG-Verbundprojekt wurde dagegen erstmals auch untersucht, wie Nachhaltigkeitsziele unter verschiedenen (wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen) Rahmenbedingungen realisiert werden können.

Die schwerpunktmäßig thematische Betrachtung wird im nächsten Kapitel verlassen, um methodische Perspektiven vorzustellen, die Themenfelder übergreifend und als allgemeine Schlussfolgerungen herausgearbeitet wurden.

3     Methodische Perspektiven: Empfehlungen für zukünftige Studien

Als übergreifende Perspektiven für Nachhaltigkeitsuntersuchungen und für TA-Projekte werden in der Habilitationsschrift vier Aspekte diskutiert, die zukünftig stärker berücksichtigt werden sollten und hier wiedergegeben werden.

3.1     Pfadabhängigkeit

Eine Unterschätzung der Pfadabhängigkeit kann bei Untersuchungen zur Nachhaltigkeit bzw. TA einen „Fehler 1. Ordnung“ bedeuten, in dem Sinne, dass die Veränderungs- und Gestaltungsfähigkeit zu hoch eingeschätzt wird. Normative Ansätze können zu einer solchen Überschätzung verleiten, aber auch die Bestimmung ökonomisch optimaler Lösungen durch komparativ-statische Modellanalysen. Allgemeine Charakteristika für Pfadabhängigkeit sind Prozessabhängigkeit (d. h. Entwicklungen haben eine Geschichte), multiple Gleichgewichte (d. h. mehrere Ergebnisse sind möglich) und positive Rückkopplungen (d. h. Prozesse verstärken sich selbst). Vor allem im Kontext von Technologieentwicklungen, Institutionen und Agrarstrukturentwicklung wurde bisher Pfadabhängigkeit diskutiert. Eine Beachtung von Pfadabhängigkeiten ist bei Projekten zur Nachhaltigkeit und TA kaum ohne interdisziplinäre Vorgehensweise denkbar. Im Mittelpunkt sollte dabei das Erkennen von langfristigen Festlegungen (wie durch versunkene Kosten, getätigte Forschungsinvestitionen, strategische Ausrichtungen) und positiven Rückkopplungen (wie durch Skaleneffekte, Netzwerkexternalität, Komplementaritäten, Lerneffekte) stehen. Die Beachtung von Pfadabhängigkeiten bedeutet allerdings nicht nur Einschränkung von Gestaltungsmöglichkeiten, sondern eröffnet ebenso die Möglichkeit, relevante Ansatzpunkte für Veränderungen zu erkennen.

3.2     Schnittstellen

Aus einer Unterschätzung von Neuerungen und Veränderungen kann sich ein „Fehler 2. Ordnung“ ergeben, indem zu sehr in Trendfortschreibungen gedacht wird. Allgemein werden unter Schnittstellen hier Punkte verstanden, die sich aus einem neuen oder veränderten Zusammenwirken von verschiedenen Entwicklungslinien ergeben können. Die zugrunde liegende These ist, dass Innovationen nicht allein durch Fortschritte entstehen, die innerhalb von einzelnen Entwicklungsfeldern – wie Forschungsfeldern, Techniklinien, Betriebsformen, Institutionen usw. – erreicht werden. Besonders relevante und interessante neue Entwicklungen basieren oftmals aus dem Zusammenwirken von (z. T. auch nur kleineren) Veränderungen in verschiedenen Technikbereichen bzw. aus dem Zusammenwirken solcher (kombinierter) Veränderungen mit Neuerungen im sozioökonomischen Umfeld. Diese neuen Schnittstellen ermöglichen Kombinationseffekte, die sowohl im Hinblick auf neue Chancen als auch auf neue Risiken relevant sein können. Als mögliche Ansatzpunkte zur Erfassung und Untersuchung von Schnittstellen – unter besonderer Berücksichtigung des interdisziplinären Charakters der Aufgabe – werden die Auswertung vorhandener Studien, Experteninterviews, „Dissens-Konferenz“ und Szenarienbildung diskutiert.

3.3     Szenarien

Szenarien sind in Nachhaltigkeits- und TA-Untersuchungen ein wesentliches Mittel, um Unsicherheiten durch eine offene Zukunft zu berücksichtigen. Es gibt keinen idealen oder besten Weg der Szenarienkonstruktion. In Abhängigkeit von der Aufgabenstellung und den Untersuchungszielen sind Typ, Anlage und Entwicklung des Szenarios, der Betrachtungszeitraum sowie Gestaltungsgrößen und Rahmenbedingungen zu wählen. Dabei können in jeweils spezifischer Weise Pfadabhängigkeiten oder Innovationen und Veränderungen betont werden. Einseitigkeiten in beide Richtungen sollten vermieden werden. Während mit normativen Szenarien sich gut Verzweigungen und Pfadabhängigkeiten gesellschaftlicher Werte und Zielvorstellungen abbilden lassen, werden mit diesem Szenarientyp jedoch potenziell Pfadabhängigkeiten durch technologische, ökonomische und institutionelle Rahmenbedingungen (d. h. den wünschenswerten Zukünften entgegenstehenden Restriktionen) unterschätzt. Für deskriptive Szenarien gilt genau das Gegenteil. Szenarienbildung ist letztlich eine „Kunst“, bei der aber auf eine genau Beachtung der diskutierten methodischen Fragen und eine Offenlegung der Vorgehensweise zu achten ist.

3.4     Fehlerfreundlichkeit

Schließlich wird vorgeschlagen, den Begriff der Fehlerfreundlichkeit als zentrales Kriterium für TA- und Nachhaltigkeitsuntersuchungen einzuführen. „Fehlerfreundlichkeit“ als Kriterium für technische bzw. biologische Systeme sollte auf TA- und Nachhaltigkeitsuntersuchungen selbst übertragen werden. Fehlerfreundlichkeit ist insbesondere bei den erarbeiteten Handlungsmöglichkeiten (Optionen) erforderlich, die eine möglichst hohe Robustheit einerseits und Anpassungsfähigkeit andererseits gegenüber zukünftigen Entwicklungen, neuen Erkenntnissen und veränderten Bewertungen haben sollten. Im Bewusstsein der Fehleranfälligkeit dieser Untersuchungen sollte angestrebt werden, ihre Fehlertoleranz möglichst zu erhöhen. Wichtige Aspekte, um die Fehlerfreundlichkeit zu erhöhen, sind die Diskussion und Offenlegung von Systemdefinition, Systemgrenzen, Annahmen, Szenarienkonstruktion und „Blinden Flecken“. Fehlerfreundlichkeit bei Nachhaltigkeits- und TA-Untersuchungen sollte in zwei Richtungen verstanden werden: als Beachtung von „Fehlern 1. Ordnung“ (Sind bestehende Pfadabhängigkeiten ausreichend berücksichtigt worden?) und Beachtung von „Fehlern 2. Ordnung“ (Sind Innovationen und neue Schnittstellen ausreichend erfasst worden?). Letztlich geht es immer wieder um die Suche nach einer Balance zwischen Bekanntem, Einordnung, Beschränkung und Anerkennung auf der einen Seite und Neugierde, unkonventionellem Denken, Verunsicherung und Kontroverse auf der anderen Seite.

4     Resümee

In den letzten 20 Jahren hat sich in Deutschland ein breites Spektrum an TA-Aktivitäten zum Bereich Landwirtschaft und Ernährung entwickelt. Bisher fehlte aber sowohl ein systematischer Überblick über die durchgeführten TA-Projekte als auch eine reflexive Betrachtung, d. h. eine Rückkopplung der Erfahrungen aus dieser TA-Praxis mit den konzeptionellen Überlegungen zur TA. Mit der Habilitationsschrift sollte diese Lücke nun geschlossen sein.

Anmerkungen

[1] Das Habilitationsverfahren von Dr. Rolf Meyer für das Fachgebiet „Agrar- und Ressourcenökonomie“ am Fachbereich 09 – Agrarwissenschaften, Ökotrophologie und Umweltmanagement der Justus-Liebig-Universität Gießen wurde am 19. November 2004 mit einer Antrittsvorlesung erfolgreich abgeschlossen. Die Veröffentlichung der Habilitationsschrift befindet sich in der Vorbereitung (Meyer im Erscheinen).

[2] In einem zweiten Untersuchungsschwerpunkt wurde eine vergleichende Analyse zu „Methodik und Vorgehensweise“ durchgeführt, worauf in diesem Beitrag nicht eingegangen wird.

[3] Die identifizierten, relevanten Untersuchungsschwerpunkte werden hier nur aufgeführt, ohne die in der Untersuchung erarbeiteten Begründungen wiedergeben zu können.

[4] „Gen-Pharming“ meint die Produktion von Pharmazeutika in transgenen landwirtschaftlichen Nutztieren.

[5] Mit „tansgenen Planzen der 2. Generation“ werden diejenigen gentechnisch veränderten Pflanzen bezeichnet, die sich in der „Pipeline“, also in der industriellen Entwicklung bis kurz vor der Zulassung befinden, und mit „3. Generation“ diejenigen im Forschungs- bzw. ganz frühen Entwicklungsstadium.

[6] Arnold Sauter: Grüne Gentechnik – Transgene Pflanzen der 2. und 3. Generation, TAB-Arbeitsbericht Nr. 104 (im Erscheinen)

[7] „Precision Agriculture“ meint Managementsysteme zur Produktion von pflanzlichen Erzeugnissen unter Berücksichtigung kleinräumig vorhandener Boden- und Pflanzenparameter, unter Anwendung moderner Informations- und Steuerungstechniken.

[8] Der Untersuchungsbereich „Precision Agriculture“ ist Teil des TAB-Projektes „Moderne Agrartechniken und Produktionsmethoden – ökonomische und ökologische Potenziale“, das Ende 2005 abgeschlossen wird.

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Kontakt

Dr. habil. Rolf Meyer
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Karlstr. 11, 76133 Karlsruhe
Tel.: +49 721 608-248 68
E-Mail: rolf meyer∂kit edu