Science Roadmapping für Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung und präventive Rüstungskontrolle

TA-Konzepte und TA-Methoden

Science Roadmapping für Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung und präventive Rüstungskontrolle

von Tom Bielefeld und Christian Eurich, Bremer Institut für Technologie und Gesellschaft e.V.

Die präventive Rüstungskontrolle befasst sich mit neuen Technologien, die sich noch im Stadium von Forschung und Entwicklung befinden, deren rüstungstechnologisches Potenzial aber bereits erkennbar ist. Derartige Technologien bedürfen aus friedens- und sicherheitspolitischer Sicht einer frühzeitigen Beobachtung – u. a. mittels einer Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung (RTFA). Letztere wiederum benötigt ein geeignetes Prognoseinstrumentarium für zukünftige Technologieentwicklungen. In einer Studie über militärisch relevante Forschung in den Neurowissenschaften wird das Science-Roadmapping-Verfahren erstmals im Rahmen einer RTFA angewandt. Im Vergleich zu bisherigen Ansätzen werden so umfassendere Analysen ermöglicht, in denen zudem Aspekte der Umsetzung von Rüstungskontrollmaßnahmen explizit dargestellt werden können.

1     Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung und präventive Rüstungskontrolle

Neue Technologien, die sich noch im Stadium von Forschung und Entwicklung befinden, denen jedoch eine Relevanz im Hinblick auf mögliche rüstungstechnologische Innovationen zugeschrieben werden kann, bedürfen sowohl aus friedens- als auch aus sicherheitspolitischer Sicht einer frühzeitigen Beobachtung und Bewertung. Dies gilt insbesondere dann, wenn ihr militärisches Potenzial bereits erkannt wurde und entsprechende Forschungs- und Entwicklungsarbeiten schon angelaufen sind. Beispiele für solche Technologien sind vielfältig und schließen die Mikrosystemtechnik, die Nano- und die Biotechnologie (vgl. z. B. Altmann 2001, 2004) ein.

Als Rahmenkonzept für eine Beobachtung und Bewertung derartiger Technologien im Hinblick auf ihre militärischen Anwendungen hat sich in den vergangenen Jahren die so genannte Präventive Rüstungskontrolle (PRK) entwickelt (Petermann et al. 1997). Dieses Konzept umfasst Instrumente und Verfahren, mit deren Hilfe kritische technologische Entwicklungspfade identifiziert und politisch begleitet bzw. gestaltet werden können mit dem Ziel, bestimmte militärtechnische Innovationen zu verhindern oder einzudämmen. Der Ansatz dieses Konzeptes unterscheidet sich grundsätzlich von jenem der traditionellen quantitativen Rüstungskontrolle, bei dem es um die kooperative Steuerung von militärischer Rüstung bzw. die Reduzierung von Waffensystemen und Streitkräften geht.

Wesentlicher Bestandteil der PRK ist die so genannte Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung (RTFA). Die RTFA umfasst ein Monitoring von militärisch relevanter Forschung und Entwicklung sowie eine Bewertung ihrer Folgen im Hinblick auf sicherheits- oder friedenspolitische Kriterien. Ihr Ergebnis ist eine Identifikation von gemäß den angelegten Kriterien problematischen Entwicklungspfaden sowie eine Beschreibung der zu erwartenden negativen Auswirkungen.

Das zweite Element der PRK besteht in der Ausarbeitung von realistischen, umsetzbaren Vorschlägen für Maßnahmen, mit denen die erkannten problematischen technologischen Entwicklungen gesteuert oder gegebenenfalls blockiert werden können. Es geht also um politische Maßnahmen für eine Gestaltung der Rahmenbedingungen des betroffenen Forschungs- und Entwicklungszweigs auf nationaler und internationaler Ebene (vgl. Petermann et al. 1997).

2     Neurowissenschaften als Beispiel

Im Rahmen eines Forschungsvorhabens [1] am kürzlich gegründeten Bremer Institut für Technologie und Gesellschaft e. V. (BITG) untersuchen die Autoren dieses Beitrags den Bereich der Neurowissenschaften im Hinblick auf militärisch relevante Forschung und Entwicklung. Die Neurowissenschaften haben sich in den letzten Jahren aufgrund neuer experimenteller Techniken und theoretischer Fortschritte stark entwickelt (vgl. z. B. Monyer et al. 2004). Das Spektrum der wissenschaftlichen Themen ist breit und reicht von der Erforschung der Eigenschaften von Ionenkanälen in der Zellmembran über die Erprobung von Neuroprothesen, die elektrische Signale in das Hirngewebe einspeisen, um blinden Patienten eine visuelle Wahrnehmung zu ermöglichen, bis hin zu Fragen des freien Willens und strafrechtlicher Konsequenzen entsprechender neurowissenschaftlicher Erkenntnisse (z. B. Roth 2001; Geyer 2004).

Die erzielten Erfolge in den Neurowissenschaften und die günstigen Prognosen über zukünftige technologische Entwicklungen haben frühzeitig das Interesse von Entscheidungsträgern aus dem Bereich der militärischen Forschung und Entwicklung geweckt. Seit Beginn der 1990er Jahre fördert bereits die US Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) neurowissenschaftliche Forschungsprojekte. [2]

Beispiele für neurowissenschaftliche Forschungsbereiche, die militärische Anwendungen zeitigen können, sind u. a.:

Neben der angestrebten Rüstungstechnologie-Folgenabschätzung für diese Bereiche sowie der Ausarbeitung von Vorschlägen für Steuerungs- und Begrenzungsmöglichkeiten dort, wo Entwicklungen im Sinne eines friedens- und sicherheitspolitischen Leitbilds als negativ bewertet werden, möchten die Autoren auch einen Beitrag zur Fortentwicklung des Analyseinstrumentariums der präventiven Rüstungskontrolle leisten.

3     Historische Entwicklung des PRK-Konzepts

Die Konzepte, die eine Erweiterung des Rüstungskontrollgedankens um den Anwendungsbereich der qualitativen Begrenzung von Forschung und Entwicklung bei neuen Technologien darstellen, insbesondere auch das Konzept der RTFA, sind international noch nicht fest etabliert. Außerhalb Deutschlands gibt es nur wenige Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet; lediglich die Bereiche Informationstechnologie/Information Warfare (Stocker, Schöpf 1999) und Genforschung/Biologische Kampfstoffe (Fraser, Dando 2001; Nixdorff et al. 2004) werden in Zusammenhang mit Rüstungskontrolle auch international in nennenswerter Weise untersucht.

Hingegen hat es in Deutschland in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten bedeutende Beiträge zur präventiven Rüstungskontrolle gegeben. Schon der Begriff der vorbeugenden bzw. präventiven Rüstungskontrolle im oben erklärten Sinne hatte sich hier etwa Mitte der 1990er Jahre herauskristallisiert.

Vorarbeiten zur PRK kamen anfangs häufig von Naturwissenschaftlern, die die Auswirkungen von Rüstungstechnologieentwicklungen praxisnah und anhand konkreter Beispiele analysierten (z. B. Müller, Neuneck 1992). Seit 1993 wurden dann in einem sehr breit angelegten Forschungsvorhaben auch methodische Fragen und solche, die die politische Umsetzung betreffen, ausführlicher untersucht (Petermann et al. 1997). Bei diesem Vorhaben, das vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) koordiniert wurde und das zur Etablierung und Vertiefung des PRK-Konzepts führte, lieferten die deutschen Friedensforschungsinstitute und das Fraunhofer Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen wesentliche Beiträge. Das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg veröffentlichte im Jahre 2000 eine weitere umfassende Studie (Neuneck, Mutz 2000). Den vorläufigen konzeptionellen Schlusspunkt bilden die Ergebnisse des von 2000 bis 2001 arbeitenden natur- und sozialwissenschaftlichen „Projektverbunds Präventive Rüstungskontrolle“, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.

4     PRK-Kriterien und RTFA-Methodik

Im „Projektverbund Präventive Rüstungskontrolle“ wurden eine Reihe von Einzeltechnologien untersucht: die Biotechnologie im Zusammenhang mit der B-Waffen-Konvention (Nixdorff et al. 2001), die Mikrosystemtechnik (Altmann 2001), Raketenabwehrtechnologien in Zusammenhang mit dem ABM-Vertrag (Bielefeld, Neuneck 2001) sowie technische Optionen zur Beseitigung von zivilen Plutoniumbeständen zur Minimierung des Proliferationsrisikos (Liebert, Pistner 2001).

Diese naturwissenschaftlichen Untersuchungen wurden von einem sozialwissenschaftlichen Projekt begleitet, in welchem u. a. die methodischen Grundlagen der PRK näher beleuchtet wurden (Neuneck, Mölling 2001). Insbesondere wurden dabei die Kriterien weiterentwickelt, nach denen eine Technologie als nachteilig für internationale Sicherheit, Frieden und nachhaltige Entwicklung bewertet wird. Diese Kriterien wurden als Zielkriterien definiert, d. h. eine zu erwartende rüstungstechnologische Innovation, deren Zustandekommen diesen Zielkriterien zuwiderläuft, bedarf der rüstungskontrollpolitischen Steuerung bzw. Blockierung. Die vorgeschlagenen Kriterien sind in drei Gruppen gegliedert [3] und lauten:

Kriterien wie diese bilden die Voraussetzung für eine von einem friedens- und sicherheitspolitischen Leitbild geprägte RTFA. Mit ihrer Hilfe lassen sich einerseits diejenigen Technologien identifizieren, deren Weiterentwicklung einer Steuerung bzw. einer Begrenzung bedarf. Andererseits dienen sie der Klassifikation der möglichen Auswirkungen, wenn eine Technologie in eine militärische Anwendung einfließt bzw. eine solche erst ermöglicht.

Im „Projektverbund Präventive Rüstungskontrolle“ wurde des Weiteren eine RTFA-Methodik vorgeschlagen. Diese stellt zunächst die im Sinne der Kriterien nachteiligen Auswirkungen einer möglichen rüstungstechnischen Innovation fest, um anschließend eine Analyse ihres gegenwärtigen Entwicklungsstandes sowie ihrer Realisierungswahrscheinlichkeit vorzunehmen. (Neuneck, Mölling 2001). Auf diesen Analysen wiederum basieren die auszuarbeitenden konkreten Maßnahmen, mit deren Hilfe die betrachtete Innovation verhindert oder deren Auswirkungen begrenzt werden können.

Gerade beim letzten Punkt der eigentlichen RTFA, nämlich der Prognose, ob und wann eine Technologie wirklich realisiert wird, offenbart sich aber eine Hauptschwierigkeit dieses Ansatzes. Ein Analysemodell, mit dessen Hilfe einerseits die Rüstungsdynamik einer speziellen Technologie bewertet werden kann und das gleichzeitig auf eine große Zahl von Einzeltechnologien anwendbar ist, existiert nach Neuneck und Mölling bislang nicht. Allgemeine Theorien über Rüstungsdynamik und technologische Innovationen sind in das PRK-Konzept noch nicht eingebunden. [4] Gleichwohl müssen solche Theorien natürlich berücksichtigt werden, ebenso wie die Entwicklungs-Charakteristika der untersuchten Einzeltechnologien. Aufgrund dieses konzeptionellen Mangels mussten sich die bisherigen Arbeiten auf dem Gebiet der RTFA zu einem großen Teil mit Katalogen von Leitfragen behelfen, welche die wesentlichen Einflussfaktoren einer Einzeltechnologieentwicklung zu berücksichtigen versuchten. In ihrer gegenwärtig durchgeführten RTFA für den Bereich der Neurowissenschaften schlagen die Autoren nun eine Fortentwicklung des Prognoseinstrumentariums vor, die zwar unterhalb eines universellen Modells verbleibt, jedoch eine systematischere und umfassendere Analyse als bisherige Ansätze erlaubt.

5     Möglichkeiten der Weiterentwicklung des RTFA-Prognoseinstrumentariums

Die größte Herausforderung für die RTFA besteht, wie oben diskutiert, in der Erstellung von Prognosen über Realisierungswahrscheinlichkeiten von militärisch relevanten Einzeltechnologien. Diese erfordert eine gründliche Kenntnis der wissenschaftlich-technischen Grundlagen sowie der Interessen der gegenwärtig oder zukünftig an dem Entwicklungsprozess Beteiligten. Es müssen sowohl zivile als auch militärische Entwicklungspfade betrachtet werden. Des Weiteren sind Technologieentwicklungen in benachbarten Disziplinen abzuschätzen, welche die Entwicklung der untersuchten Technologie fördern könnten. Nicht zuletzt ist es notwendig, und dies gilt gerade bei neuen Hochtechnologien, realistische Entwicklungsmöglichkeiten von Science Fiction zu unterscheiden.

Es existieren in dem Bereich der Technikfolgenabschätzung Prognoseinstrumente (Bröchler et al. 1999), die auch in der RTFA Verwendung finden könnten. Ein solches Instrument ist das so genannte Science Roadmapping (Galvin 1998; Da Costa et al. 2003). Science Roadmapping stellt eine spezielle Anwendung des allgemeinen Roadmapping-Konzepts dar, das gemäß Fiedeler et al. (2004) verstanden werden kann als „Oberbegriff für eine Gruppe von Verfahren, die als Strukturierungs- und Entscheidungshilfen für Strategieentwurf und -planung in Organisationen, die an der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie teilnehmen oder von ihr abhängen, dienen sollen“ [5] . Diese Verfahren umfassen lang etablierte Methoden der Technikfolgenabschätzung wie Szenariotechnik, Experteninterviews und -workshops. In Industrieunternehmen kann sich dies als strategische Technologieplanung manifestieren, also beispielsweise in der Untersuchung der Bedingungen und Voraussetzungen, die nötig sind, um ein Produkt bis zur Marktreife zu entwickeln. Im politischen Bereich wiederum werden Roadmaps eingesetzt, um Schritte und Voraussetzungen zu analysieren oder zu definieren, die für das Erreichen eines bestimmten politischen Ziels erforderlich sind. [6] Science Roadmapping überträgt dieses Prinzip nun auf die Ebene der wissenschaftlichen Forschung: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein und welche Forschungsfragen müssen beantwortet werden, um ein bestimmtes wissenschaftliches Ziel zu erreichen? Das Ergebnis eines solchen Science-Roadmappings ist gleichsam die Kartierung eines Forschungsraums, mit anderen Worten: ein wissenschaftliches Forschungsprogramm.

Das Roadmapping-Konzept lässt sich unter bestimmten Bedingungen auch auf eine Rüstungstechnik-Folgenabschätzung übertragen; dies soll in dem von den Autoren initiierten Forschungsprojekt über „Militärisch relevante Forschung in den Neurowissenschaften“ nun zum ersten Mal geschehen. Auch im Falle einer RTFA beginnt die Untersuchung mit der Ausarbeitung eines Zielszenarios, das in diesem Fall aus einer potenziellen rüstungstechnologischen Anwendung besteht. Ausgehend von einer Betrachtung des gegenwärtigen Entwicklungsstands werden dann die möglichen Umsetzungspfade für das Erreichen des Zielszenarios identifiziert und analysiert. Berücksichtigt werden dabei der noch bestehenden Forschungsbedarf, absehbare Hindernisse, der zeitliche und materielle Aufwand sowie alternative Realisierungspfade. Dies geschieht unter Beteiligung möglichst vieler Akteure und Institutionen, die an dem untersuchten Entwicklungsprozess teilnehmen bzw. teilnehmen könnten sowie Wissenschaftlern anderer relevanter Disziplinen. Die Beteiligung externer Akteure kann dabei mit Hilfe von Expertenbefragungen und Expertenworkshops geschehen, entweder informell oder im Rahmen einer strukturierten Gruppenbefragung [7] .

Als methodischer Rahmen beseitigt das Roadmapping zwar noch nicht das konzeptionelle Defizit des fehlenden systematischen, übertragbaren Analysemodells. Als Alternative zum bisherigen weit verbreiteten Zugang zur RTFA über Leitfragenkataloge ermöglicht es jedoch tiefergehende Untersuchungen, in denen auch die Wechselwirkungen zwischen dem untersuchten Technologiebereich und benachbarten Disziplinen sehr gut dargestellt werden können. Damit kann es das Prognoseverfahren in der RTFA auf eine wesentlich solidere Basis stellen.

Für den im PRK-Konzept nachfolgenden Schritt, der Konzeption von Steuerungs- und Begrenzungsmaßnahmen für kritische Entwicklungspfade, ist das Verfahren des Science Roadmapping wiederum dienlich. Es können nämlich einerseits ausgearbeitete Maßnahmen an ihren möglichen Plätzen auf der Roadmap lokalisiert und ihre Wirkung dabei gewissermaßen simuliert werden. Andererseits kann die detaillierte Darstellung von Entwicklungspfaden neue Potenziale für Gestaltungsmaßnahmen überhaupt erst erkennbar werden lassen. Die Möglichkeit, Aspekte der Umsetzung von Rüstungskontrollmaßnahmen im gleichen Rahmen mitbehandeln zu können, stellt für PRK-Studien eine weitere attraktive Eigenschaft dieser Methodik dar.

6     Mögliche problematische Aspekte der Roadmapping-Methode

Deutlicher noch als bei Technikfolgenabschätzungen im zivilen Bereich oder dem Roadmapping zur Analyse von Marktchancen einzelner Industrieprodukte existiert bei Untersuchungen von Militärtechnologien das grundsätzliche Problem, dass ein Teil der Akteure, die bei Expertenbefragungen einbezogen werden sollten, einer Geheimhaltungspflicht unterliegen und daher für entsprechende Diskussionen nicht zur Verfügung stehen. Dies betrifft umso mehr Wissenschafts- und Technologiebereiche, bei denen sich die militärische Anwendung bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befindet.

Grundsätzlich können RTFA-Analysen mit der Roadmapping-Methode aber auch dann noch zu aussagekräftigen Ergebnissen führen, wenn bei Befragungen ganz oder ausschließlich solche Experten zu Wort kommen, die nicht in militärischen Projekten arbeiten bzw. gearbeitet haben. An dieser Stelle ist der dual-use-Charakter der militärisch relevanten Forschung hilfreich, welche ja – wie im Falle der Neurowissenschaften – häufig aus der zivilen Forschung hervorgeht. Nahezu alle kritischen Bereiche – die Neuroprothetik, die Neuropharmakologie und bildgebende Verfahren – haben auch oder vor allem medizinische Anwendungen. Dies bedeutet, dass das für eine Beurteilung über die weitere Entwicklung notwendige fachliche Wissen im zivilen Sektor weitgehend vorhanden ist.

Weniger problematisch ist das Geheimhaltungsproblem auch immer dann, wenn eine Technologie untersucht werden soll, deren militärische Anwendungen sich noch in einer frühen Entwicklungsphase befinden. Viele Vertragsnehmer von neurowissenschaftlichen DARPA-Projekten beispielsweise veröffentlichen ihre Forschungsergebnisse gegenwärtig noch (z. B. Wessberg et al. 2000; Nicolelis 2001) und halten öffentliche Vorträge darüber.

Ein weiterer, diskussionswürdiger Aspekt der vorgestellten Methodik ergibt sich aus der geschilderten Notwendigkeit, die Entwicklungspfade hin zu rüstungstechnologischen Innovationen so detailliert wie möglich vorzeichnen zu müssen. Eine RTFA darf eben keine einfache, kommentierte Zusammenstellung des Corpus des gegenwärtigen Forschungsstands darstellen, sondern muss, darüber hinausgehend, fundierte Vorhersagen über zukünftige Technologieentwicklungen treffen, über wissenschaftliche Herausforderungen, die zu bewältigen sein werden, über deren mögliche Lösungen sowie über Chancen und Grenzen politischer Steuerungsmaßnahmen. Daher stellt sich in der Tat die Frage, ob eine Studie in präventiver Rüstungskontrolle, die sich der Roadmapping-Methode bedient, nicht vielleicht Entwicklungen beschleunigt oder gar erst aufzeigt, die sie gerade zu verhindern sucht.

Für den Bereich der Neurowissenschaften ist dieses Risiko als gering einzuschätzen. Die Entwicklung bei den Anwendungen der neurowissenschaftlichen Forschung schreitet gegenwärtig in schnellem Tempo voran. Weltweit arbeiten zahlreiche Forschungsgruppen an Fragen, die zukünftig eine militärische Relevanz haben werden, einige von ihnen bereits mit finanzieller Unterstützung durch Rüstungsbehörden. Die Vorstellung, eine Studie über Rüstungskontrolle könnte Unternehmen oder Verteidigungsministerien auf Ideen bringen, auf die sie selbst nicht auch kommen würden, ist unrealistisch.

Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Wenn bisher neue Technologien Gegenstand von Rüstungskontrollstudien geworden sind, konnten begrenzende Maßnahmen erst zu einem Zeitpunkt vorgeschlagen werden, da die technologischen Entwicklungen hin zu militärischen Anwendungen schon weit vorangeschritten waren. Die Chancen für wirkungsvolle Interventionen gegen als unerwünscht oder unethisch betrachtete Entwicklungspfade können hingegen erheblich erhöht werden durch ein frühzeitiges und fundiertes Mitdenken von politischen Steuerungs- und Begrenzungsmöglichkeiten, verbunden mit einer Frühwarnung gegenüber der Öffentlichkeit und mit der rechtzeitigen Information politischer Entscheidungsträger. Letzteres steht natürlich unter dem Fragezeichen, ob Gestaltungsmaßnahmen für dual-use-Entwicklungen, die zu früh vorgeschlagen werden, gesellschaftlich auch durchzusetzen sind. Letztlich kann dabei nicht das Ziel sein, Grundlagenforschung zu beschneiden, sondern vielmehr die Durchführung einzelner Projekte zu verhindern, die zu konkreten militärischen Anwendungen führen.

Anmerkungen

[1] „Militärisch relevante Forschung in den Neurowissenschaften“, Forschungsprojekt des BITG, nähere Informationen unter http://www.bitg.de.

[2] Die DARPA ist die zentrale Behörde für Forschung und Entwicklung innerhalb des US-Verteidigungsministeriums. Zitiert nach H. Hoag, 2003; für eine entsprechende Veröffentlichung siehe zum Beispiel Carmena et al. 2003.

[3] Diese Kriterienliste beruht auf der Arbeit von Neuneck und Mölling 2001, die detaillierte Auflistung der Unterkriterien findet sich auf der Internet-Seite http://www.armscontrol.de/themen/praeventive.htm, welche jene Autoren ebenfalls verfasst haben.

[4] Vgl. zu diesem Thema insbesondere Gießmann et al. 2000 sowie die Aufsätze von Müller 1992 und Liebert und Neuneck 1992. Ausführliche Darstellungen über rüstungstechnologische Innovationen und deren Bedeutung finden sich z. B. in O'Hanlon 2000. Für eine aktuellere Darstellung aus deutscher Perspektive vgl. Wiemken 2004.

[5] Auf dem Gebiet der Technikfolgenabschätzung wird das Science Roadmapping seit einiger Zeit verwendet, so z. B. im Rahmen eines Nanotechnologie-Projekts des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) (Fiedeler et al. 2004).

[6] Prominentes Beispiel für eine politische Roadmap ist der Friedensplan für den Nahen Osten aus dem Jahre 2003, „A Performance-Based Roadmap to a Permanent Two-State Solution to the Israeli-Palestinian Conflict“, einsehbar auf den Internet-Seiten des US-Außenministeriums ( http://www.state.gov/r/pa/prs/2003/20062.htm).

[7] Z. B. eines Experten-Delphis; vgl. Cuhls, Blind 1999

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