TA-relevante Bücher
Normative Technikbewertung. Wertprobleme der Technik und die Erfahrungen mit der VDI-Richtlinie 3780 (Rezension)
FRIEDRICH RAPP (Hrsg.): Normative Technikbewertung. Wertprobleme der Technik und die Erfahrungen mit der VDI-Richtlinie 3780. Berlin: Edition Sigma, 1999. 256 S. DM 34,80. ISBN 3-89404-469-1
Rezension von Armin Grunwald, ITAS
1 Einführung
Die Diskussion um Technikbewertung im VDI hat eine lange Tradition. Ist nun die VDI-Richtlinie 3780 bereits fast 10 Jahre alt, so reicht ihr Entstehungsprozess bis in die siebziger Jahre zurück. Unbestreitbar ist, dass der VDI sich große Verdienste erworben hat dadurch, dass er sich der kontroversen Diskussion zum Verhältnis von Technik und Gesellschaft gestellt hat, dass er diese Diskussion in seinen eigenen Reihen und Arbeitsgruppen geführt und dass er sie dadurch auch maßgeblich mitgestaltet hat. Für einen Verein, der sich als Standesvertretung der Ingenieure versteht, erscheint dies nicht selbstverständlich, zumal Technik insgesamt und Ingenieure in dieser Diskussion auch in die Kritik geraten sind. In der Weise, wie diese Diskussion im VDI stattgefunden hat und stattfindet, zeigt sich m.E. in geglückter Weise, dass die partikulären Aufgaben einer Standesvertretung und ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung nicht kurzsichtig gegeneinander ausgespielt werden müssen, sondern dass sie sich gegenseitig gewinnbringend ergänzen können.
Einen wesentlichen und folgenreichen Teilaspekt der Befassung des VDI mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Technik stellt die VDI-Richtlinie zur Technikbewertung dar, die 1991 publiziert wurde (VDI 1991). Nun liegt mit dem im folgenden besprochenen, von Friedrich Rapp herausgegebenen Buch ein Werk vor, das beansprucht, ein "kompetentes Resümee des gegenwärtigen Diskussionsstandes über Probleme und Perspektiven einer normativen Technikbewertung" (Umschlagrückseite) darzustellen.
2 Inhalt
Das Buch ist in zwei Teile untergliedert, einen theoretisch-reflexiven und einen praktischen. Im ersten Teil werden wesentliche Aspekte und Stichworte der VDI-Richtlinie zur Technikbewertung vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen analysiert. Im zweiten Teil - der weitgehend auf die Tagung "Wertprobleme der Technikbewertung" des VDI vom 22./ 23.1.1999 zurückgeht - geht es um praktische Erfahrungen mit der Umsetzung der VDI-Richtlinie, allgemeiner auch um Aspekte von Bewertungen in der Ingenieurspraxis. Im folgenden seien die Themen der Beiträge kurz dargestellt:
Die Analysen zur gegenwärtigen Diskussionslage beziehen sich auf die hauptsächlichen Stichworte der VDI-Richtlinie. Sie umfassen
- eine Untersuchung zu Aufnahme und Wirkung der Richtlinie (G. Ropohl), die im Tenor zu einem positiven Resultat führt;
- einen Beitrag zum Thema Werte und Wertkonflikte (C. Hubig), der die in der VDI-Richtlinie angesprochenen Wertprobleme im Hinblick auf eine "provisorische Moral" weiterentwickelt;
- eine Darstellung der Methoden der Technikbewertung in der Praxis (G. Ropohl), die sich auf das in der VDI-Richtlinie erwähnte Methodenrepertoire bezieht;
- umfangreiche Überlegungen zur Entwicklung geeigneter Institutionen (V. Brennecke), die sich vor allem auf die Möglichkeiten der Partizipation und der "Netzwerkgesellschaft" erstrecken und
- eine Reflexion zu Möglichkeiten des Missbrauchs der VDI-Richtlinie (F. Rapp), insbesondere zu Missbrauchsmöglichkeiten in der Beschreibung des Sachverhaltes und seiner Bewertung, sowie zu Möglichkeiten der Abhilfe.
Die Fallbeispiele beziehen sich auf
- das Projekt "Technikfolgen Chlorchemie", in dem in einem frühen Stadium alternative Optionen entworfen und bewertet wurden (H. Wolff),
- die Beurteilung von Telearbeit und Telekooperation, für die ein Modell vorgestellt wird, das neben ökonomischen Faktoren auch nichtmonetäre Größen wie Mitarbeiterzufriedenheit und gesellschaftliche Akzeptanz berücksichtigt (R. Reichwald und K.-P. Wagner),
- Erfahrungen mit der Zusammenarbeit von Öko-Institut und Hoechst AG, die anhand eines gemeinsamen Projektes zum Thema Nachhaltigkeit dargestellt werden (C. Henschel und C. Hochfeld),
- den Umgang mit gesellschaftlichen Wertkonflikten und die Rolle von Diskursen in Experten- und Bürgergruppen zur Erreichung erster konsensualer Schritte (W. Weimer-Jehle),
- einen Vergleich der bisher disparat diskutierten Indikatorensysteme zur Bewertung nachhaltiger Entwicklung mit den Bewertungskriterien der VDI- Richtlinie zur Technikbewertung (H. Diefenbacher),
- verschiedene Prospektionsmethoden und Unterschiede in Bezug auf Technikbewertung in verschiedenen Kulturen (H. Grupp),
- die Möglichkeiten computergestützter mathematischer Verfahren bei der Planung neuer Verkehrsstraßen und damit zusammenhängende Bewertungsfragen (G. Deweß),
- die Möglichkeiten einer ganzheitlichen Bewertung im Brückenbau unter Einschluss ästhetischer und zwischenmenschlicher Aspekte (J. Schlaich und A. Bögle) und
- die Abkehr von top-down-orientierten Verfahren der Technikbewertung hin zu stärker iterativ angelegten (C. Hubig), wodurch an die theoretische Diskussion im ersten Teil angeknüpft wird.
Dem Buch sind Auszüge aus der VDI-Richtlinie 3780 als Anhang beigefügt.
3 Normative Buchbewertung
Die Rezension eines Sammelbandes hat mit dem Dilemma zu tun, dass sie sich einerseits auf das ganze Buch beziehen soll, das aber andererseits aus lauter Einzelbeiträgen von einzeln verantwortlichen Autoren besteht. An dieser Stelle sei auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Einzelbeiträgen verzichtet und eine Beurteilung des Ganzen versucht.
3.1 Bezug auf die VDI-Richtlinie
Leicht irritierend fällt der Vergleich der Zielvorgabe des Buches, konkrete Erfahrungen mit der VDI-Richtlinie 3780 zu präsentieren (Umschlagrückseite), mit den tatsächlich enthaltenen Fallbeispielen aus. Von den sieben Fallbeispielen sind ganze zwei (!) auf die VDI-Richtlinie bezogen, davon präsentiert eines keine Erfahrungen, sondern besteht aus einem eher theoretischen Vergleich von VDI-Richtlinie und Nachhaltigkeitsdiskussion. Der Untertitel des Buches "Erfahrungen mit der VDI-Richtlinie 3780" erweist sich auf diese Weise als Etikettenschwindel, jedenfalls wenn man konkrete Erfahrungen aus der Ingenieurpraxis erwartet. Dies ist keine Kritik an den Fallbeispielen - einige sind für sich sehr lesenswert -, sondern eine Kritik an der Nichteinlösung von erzeugten Erwartungshaltungen. Nun kann man sich nach den Gründen für diese Auswahl fragen. Gab es etwa keine weiteren Erfahrungen mit der VDI-Richtlinie, die präsentabel gewesen wären? Dem Herausgeber ist vorzuhalten, dass der Leser sich diese Frage stellen wird.
3.2 Vermisstes
Was der Rezensent in einem Buch vermisst, das sich selbst als "kompetentes Resümee des gegenwärtigen Diskussionsstandes über Probleme und Perspektiven einer normativen Technikbewertung" (Umschlagrückseite; auf S. 7 liest sich die selbstgesetzte Zielvorgabe etwas bescheidener) versteht, sind (1) die Berücksichtigung von Außenperspektiven, (2) Überlegungen zur Rolle des Ingenieurs als dem hauptsächlichen Adressaten der VDI-Richtlinie in der Technikgestaltung und (3) Reflexionen auf das "Normative" der normativen Technikbewertung.
(1) Das Buch ist entworfen ganz in der Binnenperspektive des VDI bzw. der mit dem Entstehungsprozess der VDI-Richtlinie befassten Gruppe. Eine Berücksichtigung von Außenperspektiven findet sich nur andeutungsweise im Beitrag von Günter Ropohl. Die umfangreichen Diskussionen außerhalb dieser Community über Normativität, TA, Partizipation, gesellschaftliche Technikgestaltung kommen nicht vor. Damit setzt das Buch das "Inseldasein" der Technikbewertung in der wissenschaftlichen Diskussion fort, das sie seit längerer Zeit innehat. Selbstverständlich ist es legitim, sich in einem Buch auf eine solche Innenperspektive zu beschränken; wenn jedoch beansprucht wird, ein kompetentes Resümee des Diskussionsstandes zu geben, ist dies einseitig. Damit bleibt es zukünftigen Aktivitäten überlassen, einige externe Autoren mit der Zielrichtung hinzuzuziehen, die Wirkung der VDI-Richtlinie aus Außenperspektiven zu analysieren, um Innen- und Außenperspektiven gegeneinander halten zu können.
(2) Zwar ist "die Bedeutung der Ingenieure für das Zustandekommen der Technik unbestritten" (S. 7). Überlegungen zur Rolle des Ingenieurs als dem hauptsächlichen Adressaten der VDI-Richtlinie in der Technikgestaltung und sein Verhältnis zum "Gemeinwohl" - das durch die Technikbewertung realisiert werden soll - fehlen jedoch. Die weitgehend unhinterfragte Prämisse scheint zu sein, dass erstens Ingenieure die wesentlichen Technikgestalter seien, und dass sie zweitens als "Walter des Gemeinwohls" dafür sorgen sollen, dass Technik entsprechend den gesellschaftlichen Bedürfnissen und Wünschen gestaltet wird. Beide Prämissen sind jedoch nicht zwingend. Man kann auch zu dem Schluss kommen, dass Ingenieure nur begrenzten Einfluss auf die technische Entwicklung haben, und dass sie nicht für das Gemeinwohl, sondern für ihre Firma arbeiten. Angenommen wird in der VDI-Richtlinie und im besprochenen Buch, dass die Technikbewertung sich auf die technischen Produkte beziehen solle, dass also die relevante Frage sei, wie die gesellschaftlichen Werte des VDI-Oktogons in den technischen Produkten realisiert werden könnten. Es könnte aber auch so sein - und dafür sprechen ernstzunehmende Argumente -, dass die gesellschaftlichen Werte sich eher in den Rahmenbedingungen für die Entwicklung technischer Produkte wiederfinden, für die die Ingenieure gerade nicht zuständig sind, sondern über die im politischen Raum befunden wird. Zu einer umfassenden Darstellung des Diskussionsstandes hätte auch die Befassung mit dieser Frage gehört.
(3) Der Buchtitel legt die Frage nahe, ob es denn neben der "normativen" Technikbewertung auch eine "deskriptive" gebe. Der sich aufdrängende Vorwurf, im Buchtitel sei wieder der "weiße Schimmel" zu Ehren gekommen, weil Bewertung immer auch normativ sei, sei hier aber nicht erhoben. Stattdessen sei die Frage aufgeworfen, ob die Technikbewertung im Sinne der VDI-Richtlinie denn auch wirklich "normativ" ist. Dies scheint überraschenderweise gar nicht der Fall zu sein. So schreibt Günter Ropohl in seinem Beitrag, dass "sich die Richtlinie in diesem Punkt auf die wissenschaftliche Beschreibung [beschränkt], indem sie lediglich festhält, welche Werte in der Gesellschaft anerkannt werden" (S. 19). Es wird also aus einer Beschreibung die Basis für (dem Anspruch nach normative) Bewertungen bezogen. Dies ist aber nur unter bestimmten Bedingungen zulässig, soll ein naturalistischer Fehlschluss vermieden werden; unter diesen Bedingungen kann man von einer "quasi-deskriptiven" Bewertung sprechen (Grunwald 2000). Anderenfalls muss explizite normative Reflexion erfolgen, bei der man nicht einfach von einer Beschreibung des faktisch akzeptierten Wertekanons ausgehen darf. Die Kriterien für eine Unterscheidung beider Typen von Bewertungsproblemen werden aber leider nirgends einer Reflexion unterzogen; stattdessen entsteht der Eindruck, dass das Werte-Oktogon der Richtlinie auf alle Probleme gleichermaßen anwendbar sei.
4 Zusammenfassung
Das Buch "Normative Technikbewertung" fügt sich nahtlos in eine ganze Reihe von Publikationen des VDI oder in seinem Umfeld zum Thema Technikbewertung ein. So nahtlos, dass der Neuigkeitswert einiger Beiträge, vor allem im ersten Teil, zu wünschen übrig lässt. Was das Buch dennoch lesenwert macht, sind hauptsächlich einige der Fallbeispiele aus dem zweiten Teil. Insbesondere die Beiträge zum Brückenbau und zur Telekooperation machen die vielfältigen normativen Implikationen von Technik deutlich. In diesem Sinne kann das Buch bedingt empfohlen werden, zumal es gut aufgemacht und recht preiswert ist.
Literatur
Grunwald, A., 2000: Against Over-Estimating the Role of Ethics in Technology. Ethical Theory and Moral Practice 6 (2000), S. 181-196VDI, Verein Deutscher Ingenieure, 1991: Technikbewertung - Begriffe und Grundlagen (Richtlinie 3780). Düsseldorf
Kontakt
Prof. Dr. Armin Grunwald
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Karlstr. 11, 76133 Karlsruhe
Tel.: +49 721 608-22500
E-Mail: armin.grunwald∂kit.edu