Rezensionen
J.-F. Schrape: Open-Source-Projekte als Utopie, Methode und Innovationsstrategie. Historische Entwicklung – sozioökonomische Kontexte – Typologie
Wie offen ist die Open Source Software?
J.-F. Schrape: Open-Source-Projekte als Utopie, Methode und Innovationsstrategie. Historische Entwicklung – sozioökonomische Kontexte – Typologie. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch 2016, 112 S., ISBN 978-3-86488-089-6, Euro 17,90
Rezension von Christoph Schneider, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruhe
Kaum ein Begriff hat die Erwartungen und Hoffnungen auf soziale Veränderung durch das Internet in den letzten Jahren stärker geprägt als „Offenheit“, wie er in Anlehnung an die „Open Source Software“ verwendet wird. In mannigfachen Zusammenhängen wird dieser Begriff mit unterschiedlichen Betonungen und Konnotationen von Kollaboration, Partizipation, Transparenz oder gar Demokratie aufgerufen, um neuartige Organisationsformen oder bestimmte digitalisierte Projekte zu bezeichnen. Neben dem „open access“ oder der „open science“ gibt es heutzutage Labels und zugehörige Praktiken wie „open data“, „open government“, „openTA“ und gar die „Open Knowledge Foundation“.
Der an der Universität Stuttgart arbeitende Technik-, Medien- und Innovationssoziologie Jan-Felix Schrape nimmt sich in seinem angenehm kurzen und gut strukturierten Büchlein dem wahrscheinlich einflussreichsten Ursprungsort der heutigen digitalen „Offenheit“ an: Der Open-Source-Software-Entwicklung. Sein Ziel besteht darin, durch historische und auf Fallstudien basierte Analysen mit dem Fokus auf einzelne Projekte zu zeigen, dass Open-Source-Software mittlerweile eine hochgradig diverse Angelegenheit ist.
Allerdings, hierauf legt Schrape besonderen Wert, ist in dieser Diversität nur marginal Platz für Projekte, die dem utopisch-konnotierten Idealtyp der „commons-based peer-production“ (Benkler 2006) entsprechen, in dem sich Freiwillige unbezahlt, egalitär und selbstorganisiert zusammen schließen, um Software als Gemeingut zu entwickeln – Schrape nennt dies „Open-Source-Projekte als Utopie“. Das idealtypische Konzept und verwandte Ideen entstanden anhand von Beobachtungen und Analysen von „Hacker Gemeinschaften“ in den 1980er und 1990er Jahren; eine Zeit, in der dem „Cyberspace“ und seinen Akteuren noch deutlicher als heute eine oft utopische Andersartigkeit im Vergleich zur analogen Welt zugeschrieben wurde. Allerdings konstatiert Schrape, dass die Zuschreibung „Open Source“ in der Öffentlichkeit und in den Sozialwissenschaften immer noch stark assoziiert wird mit vermeintlichen Alternativen zur durch kapitalistische Märkte und Organisationen geprägten Digitalisierung. Über knapp 70 Seiten hinweg macht sich Schrapes Untersuchung daran, diese Zuschreibung als Legende zu entlarven: Heute sei „die Open-Source-Entwicklung [...] zu einem integralen Bestandteil der Softwareindustrie geworden“ (S. 73).
Als Bestandteil der Softwareindustrie prägten heute nicht nur enorm viele Open-Source–Software-Systeme unsere digitalen Infrastrukturen, sondern sie seien oftmals auch eng verflochten mit großen IT-Konzernen, welche auf vielerlei Weisen involviert seien und die solche Open-Source-Projekte als „Innovationsstrategie“ verständen. Dabei ginge es den Unternehmen gar nicht vornehmlich darum, sich symbolisch aufzuwerten, sondern vielmehr darum, „Open-Source-Projekte als Methode“ für bestimmte Formen der Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen zu nutzen.
Um zu dieser Diagnose zu gelangen arbeitet sich Schrape mit viel Liebe zum Detail durch die historischen Entstehungskontexte von Open Source und durch die diverse heutige Landschaft der Projekte. Quantitative und qualitative Analysen sind geschickt kombiniert und eine breite Literaturkenntnis verweisen auf einen Autor, der sich im Feld bestens auskennt. Leser erfahren hierdurch Interessantes und Wichtiges nicht nur zu kulturellen, organisatorischen und teilweise sogar technischen Grundlagen der Open-Source-Software-Entwicklung, sondern auch zur Geschichte, insbesondere der US-amerikanischen IT-Industrie.
Darüber hinaus legt Schrape einen Vorschlag zur Typologisierung der Open-Source-Software-Projekte vor. Die vier Typen unterscheidet Schrape anhand empirischer Fälle folgendermaßen: In „korporativ geführten Kollaborationsprojekten“ nutzten einzelne Firmen Open-Source-Ansätze, um ihr Produkt als anpassungsfähige Schnittstelle zu platzieren. Googles Android-Betriebssystem für Smartphones ist hier ein bekanntes Beispiel. In „heterarchisch angelegten Infrastrukturvorhaben“ werde grundlegende Software entwickelt, etwa für Serverarchitekturen. Eine der behandelten Beispiele ist die viel eingesetzte Apache-Server-Software. Diese seien meistens nicht durch einzelne Firmen dominiert, allerdings durch viele Firmen und ihre Mitarbeiter wesentlich ermöglicht. „Elitezentrierte Projektgemeinschaften“ hätten sehr klare Hierarchien entwickelt, auch wenn sie nicht durch einzelne Firmen kontrolliert seien, spielten in ihnen Firmenmitarbeiter eine große Rolle. Prominentes Beispiel hierfür ist Linux und seine Derivate. Nur wenige Beispiele findet Schrape für den vierten Typ, die „Peer-Production-Communitys“. In diesen herrsche eine größtenteils marktunabhängige und selbstverwaltete Entwicklung von Software vor und ein stark ethisches Verständnis, das an die „Free Software Foundation“ – „Software has to be free“ – angelehnt sei. Eines der bekannten Beispiele für diesen Typus ist die Bürosoftware LibreOffice. Diese Typologie erscheint durchaus fruchtbar als Heuristik und Startpunkt, um andere Felder der „offenen“ Onlinekollaboration zu untersuchen – eine Aufgabe, die für viele Bereiche noch aussteht.
Die Stärke des Buches, seine detailreiche Analyse von Open-Source-Software-Projekten, kann ihm gleichzeitig auch als Schwäche ausgelegt werden. Schon seit den späten 1990ern diffundieren Ideen und Praktiken der Open-Source-Software-Entwicklung in andere Bereiche der Produktion immaterieller Güter und veränderten sich dadurch – prominent etwa Wikipedia. Bei Schrape finden sich kaum Hinweise und Gedanken dazu, wie Open Source und „Offenheit“ mittlerweile hochgradig plural praktiziert und in Anschlag gebracht werden und was seine Analyse zu einem besseren Verständnis dieser anderen Felder beitragen könnte.
Vielmehr hat man teilweise den Eindruck, Schrape ist sehr skeptisch gegenüber Emanzipationshoffnungen und -experimenten, die auf unterschiedliche Weise mit „Offenheit“ umschrieben sein könnten. Vielmehr konstatiert er einen „allgemeinen Strom der übersteigerten Entdifferenzierungserwartungen der digitalen Moderne“ (S. 76). Freilich, ob Open-Source-Software die digitale Welt „demokratischer“ oder „gemeinnütziger“ gemacht hat, lässt sich mangels Vergleichsobjekt nicht sagen; das Internet, wie wir es kennen, wurde auch durch die Bestrebungen und Produkte der Freien- und Open-Source-Software hervorgebracht. Dass Open-Source-Software aber sowohl die IT-Industrie als auch Kulturen und politische Bestrebungen im digitalen Bereich enorm beeinflusst hat, steht fest. Für andere Felder der „Offenheit“, ihre Projekte und teilweise neueren Experimente, lässt sich allerdings vermuten, dass ihre weitere Geschichte nicht analog zur Geschichte der Software verlaufen muss. Um diese zu verstehen und vielleicht sogar mitschreiben zu können, brauchen wir aber auch in anderen Feldern ähnlich gute und genaue Untersuchungen wie die von Jan-Felix Schrape. Wie ein Beleg dafür, dass ihn Ideen der „Open Source“ nicht gänzlich unbeeinflusst ließen, findet sich eine digitale Version des Buches als kostenloser Download auf Schrapes persönlichem Blog: https://gedankenstrich.org/soziologische-texte/. Sowohl ein Blick ins Buch als auch die genaue Lektüre lohnen sich für alle, die sich mit Open Source in der Softwareentwicklung oder darüber hinaus auseinander setzen wollen.
Literatur
Benkler, Y., 2006: The Wealth of Networks: How Social Production Transforms Markets and Freedom. New Haven