Die „Genschere“ in der interdisziplinären Diskussion

Tagungsberichte

Die „Genschere“ in der interdisziplinären Diskussion

Bericht zur Jahrestagung des Deutschen Ethikrats „Zugriff auf das menschliche Erbgut. Neue Möglichkeiten und ihre ethische Beurteilung“

Berlin, 22. Juni 2016

von Phillip H. Roth, Institut für Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen

Mit der Entwicklung der CRISPR/Cas9-Technologie (CRISPR steht für Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats) rückt erstmals die Möglichkeit in greifbare Nähe, genetische Veränderungen in Tieren und Pflanzen sowie im Menschen mit vorher nicht dagewesener Präzision durchzuführen. Zwar gibt es spätestens seit Beginn der 1990er Jahre in der Biomedizin Eingriffe in das menschliche Erbgut von Körperzellen für den Zweck der (somatischen) Gentherapie, jedoch handelt es sich dabei bisher immer um Verfahren, mit denen lediglich eine „gesunde“ Kopie eines bei Erbkrankheiten defekten Gens zusätzlich, und nur „irgendwo“ (d. h. an einer zufälligen Stelle) im Genom einer Körperzelle eingebracht werden kann. Verfahren mit denen es möglich war, gezielt Genabschnitte einzelner Gene zu ersetzten (d. h. „zu reparieren“) oder zu deaktivieren (durch sog. homologe Rekombination) waren bisher extrem aufwendig und funktionieren i. d. R. nur in embryonalen Stammzellen effizient genug. CRISPR ist dagegen ein relativ einfaches, schnelles, präzises und kostengünstiges Verfahren der genetischen Veränderung, mit dem Eingriffe bis hin zu einzelnen Genen möglich sind und in Form einer Art chirurgischen Eingriffs auf molekularer Ebene vollzogen werden. CRISPR wird gerne durch eine „Genschere“ verdeutlicht, die einzelne Gene bzw. Abschnitte herausschneiden oder austauschen kann. Es ist zu erwarten, dass sich das Genomchirurgie-Verfahren – oder besser: Genomeditierungs-Verfahren (Genome Editing) – auch über die gängigen Forschungsinstitutionen hinaus in Industrie und Landwirtschaft etablieren und dass es zudem ein hohes Potenzial für somatische Gentherapien und Keimbahngentherapien beim Menschen bieten wird. So, wie sich die Entwicklung derzeit abzeichnet, verbinden sich gerade im humanmedizinischen Bereich mit CRISPR ähnliche Hoffnungen, wie sie anfangs auch mit den sog. „Alleskönnern“, den pluripotenten Stammzellen verbunden waren (und zuweilen immer noch verbunden sind). Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, prophezeite sogar in seiner Begrüßungsrede zur Jahrestagung, dass die zukünftige Welt „eine CRISPR-geprägte Welt sein wird“. Aber trotz seiner hohen Effizienz und Präzision ist auch das CRISPR-Verfahren mit erheblichen Bedenken verbunden.

Die diesjährige Jahrestagung des Deutschen Ethikrates in Berlin gliederte sich in zwei Sektionen, wovon die erste den naturwissenschaftlichen Sachstand, die medizinischen Handlungsoptionen, die geltende Rechtslage sowie ethische Fragen zum Genome Editing behandelte. In der zweiten Sektion wurde in Streitgesprächen über Verbote und Gebote des Geneditierens beim menschlichen Embryo, die Verantwortung für zukünftige Generationen, die Frage, ob „Natürlichkeit“ dem Verfahren Grenzen setze oder ob die „Niedrigschwelligkeit“ der neuen Methode grundlegende moralische Standards untergrabe, debattiert.

1     Derzeit moralisch nicht zu rechtfertigen

Es sei zunächst festgehalten, dass die „neuen Möglichkeiten“, insbesondere Eingriffe in die menschliche Keimbahn, um die sich die Tagung drehte, aus naturwissenschaftlicher Sicht noch nicht real sind, d. h. dass sich die Veranstaltung mit potenziellen Anwendungsgebieten befasste, die noch eingehender Erforschung bedürfen. Daher bestand auch unter den Referenten und Diskutanten der Veranstaltung ein breiter Konsens hinsichtlich der Anwendung der Methode beim Menschen: Editierung des menschlichen Genoms in der Keimbahn durch CRISPR (d. h. genetische Veränderungen, die an Nachkommen vererbt würden) seien auf dem jetzigen Stand der Wissenschaft nicht zu rechtfertigen. Denn unter einhundert Eingriffen mittels CRISPR wird nur bei einigen wenigen das gewünschte Resultat erzielt, wie Jörg Vogel, Direktor des Instituts für Molekulare Infektionsbiologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, in seinem Vortrag zum naturwissenschaftlichen Sachstand deutlich machte. Rätsel, die den Wissenschaftlern dabei noch aufgegeben sind, liegen v. a. in sog. off- und on-target-effects, also jenen unvorhergesehenen Genveränderungen, die durch die Methode mit ausgelöst werden, betonte neben Vogel auch Karl Welte, Direktor der Abteilung für Molekulare Hämatopoese an der Medizinischen Hochschule Hannover, in seinem Beitrag über die therapeutischen Handlungsoptionen. Dass solche Effekte ein weitreichendes Risiko darstellen, forderte keine weiteren Erklärungen und wurde durch die Erläuterungen in der Präsentation zum naturwissenschaftlichen Stand, dass es sich beim Geneditierungs-Verfahren streng genommen nicht um eine Form der Genmanipulation im eigentlichen Sinne handle, unterstrichen. Denn bei einer Anwendung von CRISPR können bereits nach kürzester Zeit keine Spuren von Fremd-DNA mehr nachgewiesen werden, wodurch auch die Gefahr besteht, dass editierte Genome unerkannt über Nachkommen in das Humangenom übertragen werden könnten. Aus einer ethischen Perspektive bekräftigte Wolfgang Huber, evangelischer Theologe und ehemaliger Bischof von Berlin, die Auffassung, dass es zum jetzigen Zeitpunkt unverantwortlich sei, CRISPR auf den Menschen anzuwenden, da sich mit der Technologie noch langfristige Auswirkungen unbekannter Dimension verbänden und sich somit die Chancen nicht gegen die Risiken aufwögen ließen.

2     CRISPR als Alternative zur PID?

Wie bereits in der Stammzelldebatte verhindert der junge Stand der Grundlagenforschung jedoch nicht, dass sich schon heute mit CRISPR weitreichende Hoffnungen verbinden, besonders im Bereich der Gentherapie. Dabei war unter den Referenten jedoch strittig, ob und inwiefern CRISPR etwa tatsächlich eine Alternative zu bestehenden Methoden der Vermeidung von Erbkrankheiten darstellen wird. Aus dieser Frage entwickelte sich eine zentrale Kontroverse über die Notwendigkeit einer Zulassung bzw. der Beibehaltung des Verbots der Genomeditierung in der Keimbahn, die nicht allein im dazugehörigen Streitgespräch ausgetragen wurde. Auch wenn es in der Rechtslage noch erhebliche Lücken gibt, wie Jochen Taupitz, Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim, darlegte, und es somit bereits heute technische Möglichkeiten der Keimbahnveränderung gibt, die rechtlich nicht erfasst sind, so steht die künstliche Änderung des menschlichen Genoms in der Keimbahn durch das Embryonenschutzgesetz doch grundsätzlich unter Strafe. Reinhard Merkel, Rechtsphilosoph an der Universität Hamburg, sah es jedoch als einziger für moralisch geboten und erlaubt an, die Grundlagenforschung des Geneditierens nicht nur bei Pflanzen und Tieren, sondern auch mit Blick auf einen zukünftigen Einsatz in der Reproduktionsmedizin des Menschen voranzutreiben. CRISPR könne demnach auf lange Sicht den Einsatz der Präimplantationsdiagnostik (PID), bei der Embryonen „verworfen“ werden, ablösen. Eine Position die durch Taupitz’ Überlegungen, ob das Verbot der Keimbahntherapie bei Embryonen angesichts von CRISPR nicht aufgehoben werden sollte, unterstützt werden kann. Zweifel daran hegte jedoch Sigrid Graumann, Professorin für Ethik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, die im Streitgespräch mit Merkel der Meinung war, dass für die Verhinderung einer Weitergabe von Genkrankheiten die bestehenden Methoden ausreichen würden. Auch nach Einschätzung von Welte hätten die PID und auch die Stammzelltransplantation bis heute gute Erfolge bei der Behandlung monogenetischer Krankheiten erzielt. CRISPR eigne sich demnach nur zum Einbringen neuer genetischer Eigenschaften in den Menschen, was jedoch ein moralisch nicht zu rechtfertigendes enhancement darstellen würde.

3     Methoden des ethischen Diskurses

So wie in der bioethischen Debatte überhaupt weitestgehend Einigkeit darüber herrscht, dass ein enhancement moralisch nicht zu begründen sei, so teilten auch alle Referenten der Jahrestagung die Ansicht, dass die Frage nach der Differenzierung eines solchen Handelns von der eigentlichen Heilung (genetischer) Krankheiten eine zentrale Rolle einnimmt. Angesichts der sich immer wieder neu auftuenden Möglichkeiten, die durch den biotechnologischen Fortschritt entstehen, müsse jedoch immer wieder aufs Neue diese Grenze geprüft und verhandelt werden, so etwa Carl Friedrich Gethmann, Professor für Philosophie am Forschungskolleg „Zukunft menschlich Gestalten“ der Universität Siegen, in seinem Panel zur Erosion moralischer Standards durch CRISPR. Denn sogar im Sinne des christlichen Schöpfergedankens, wie ihn Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheorie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, im Streit über die Grenzen der „Natürlichkeit“ vortrug, ist das Schöpfungshandeln Gottes evolutorisch und unabgeschlossen zu verstehen und die Selbstgestaltung des Menschen, die auch Technologien wie CRISPR einschließt, ausdrücklich erlaubt. Ethische Prämissen, die die Selbstgestaltung beurteilen können, müssten sich dabei, so Martin Hein, evangelischer Bischof von Kurhessen-Waldeck und Honorarprofessor an der Universität Kassel, angesichts der Frage nach der Verantwortung für zukünftige Generationen, durch eine „Menschenbildung“ im klassischen Sinne formieren, wodurch allen Mitgliedern einer Gesellschaft die Fähigkeit gegeben würde, über solche Entwicklungen sachkundige Urteile fällen zu können. Der Vorschlag von Andrea Marlen Esser, Professorin für Praktische Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, dazu lautete, Ethik als einen Prozess zu verstehen, der methodisch geleitet, kritisch und demokratisch ist, und in dem zukünftige Generationen die Rolle eines Korrektivs für gegenwärtige Werte und Kultur annehmen.

Dass ein breiter gesellschaftlicher Diskurs zum Genome Editing notwendig ist, stand demnach außer Frage. Allerdings gingen die Meinungen darüber, wie dieser Diskurs auszusehen habe, weit auseinander. An vielen Stellen der Veranstaltung kamen daher neben genuin ethischen Fragen auch solche auf, die sich um den sozialen Umgang mit dem Thema CRISPR drehten, was zeitweilig sogar die Daseinsberechtigung des Ethikrats selbst in Frage zu stellen schien. So plädierte Ingrid Schneider, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg, im Gespräch über die Erosion moralischer Standards dafür, den Diskurs nicht im bekannten Format zu führen. Was schon die Diskussion um die PID und um die Stammzellforschung Anfang bzw. Mitte der 2000er auszeichnete, waren nicht nur kontroverse Positionen mit überraschenden Allianzen, sondern auch die damit verbundenen Visionen. Diese reichten im Fall der PID von schlimmen Befürchtungen genetischer Diskriminierung und „normalisierender“ Kontrolle bis, wie bei den Stammzellen, hin zu utopischen Hoffnungen, in denen ganze Organe als Ersatzteile nachgezüchtet werden können. Laut Schneider sei eine weniger deterministische Sichtweise geboten, in der man nicht Gefahr laufe, sich von den utopischen Hoffnungen oder den dystopischen Ängsten bzw. ihren „Heils- und Unheilspropheten“ (Huber) blenden zu lassen. Da die Machbarkeit von zum Beispiel „Designer Babies“ ohnehin unhaltbare und obsolete Vorstellungen genetischer Determination voraussetze, seien solche Vorstellungen auch äußerst kritisch zu betrachten. Noch stärker in diese Richtung argumentierte Esser: Neben der Forderung nach einer strikten Trennung zwischen Grundlagenforschung und Anwendung innerhalb des Diskurses, kritisierte sie vor allem, dass es bereits heute die Diskussionen um die Anwendung der CRISPR-Technologie gebe, obwohl in der Forschung noch Erhebliches zu leisten sei, ehe man zu konkreten Fragen übergehen könne. Auch Graumann hatte zuvor die Humangenetik als kein sinnvolles Anwendungsfeld für CRISPR dargestellt und verlangt, dass sich die Diskussion auf Anwendungen bei Tieren und Pflanzen konzentrieren solle.

4     Visionen und gesellschaftliche Regulation

Es ist sehr zu begrüßen, dass in Gremien wie dem Ethikrat neben moralischen Inhalten auch eher „Verfahrensfragen“ zum sozialen Umgang mit kontroversen Technologien debattiert werden. Denn es scheint heute angesichts pluralistischer Werte und Wertevorstellungen bei der professionellen Beurteilung solcher Technologien immer weniger darum gehen zu können, ihre Anwendung anhand konkreter ethischer Positionen auszuloten, als vielmehr darum, sie mittels demokratischer Partizipation gesellschaftlich anschlussfähig zu machen. Das passiert, so hofft man allgemein, wenn die Entscheidung über Zulassung oder Verbot von Anwendungen und über die Ziele der Entwicklung nicht allein zur Verantwortung von Experten gemacht wird, sondern durch – in welcher Form auch immer – allgemeine gesellschaftliche Legitimität abgesichert werden kann. Es sollte doch jedoch nicht unterschätzt werden, dass es sich gerade beim öffentlichen Diskurs zur Biotechnologie um einen hochkomplexen und spezialisierten Gegenstand handelt und dass einfache Beteiligungsmechanismen für Entscheidungen hier nur schlecht greifen. Auch Heins Forderung nach einer „Menschenbildung“, so nobel sie auch ist, scheint nicht realistisch, weshalb auch nicht darauf zu hoffen ist, dass wir bald durch sachkundige Urteile gemeinsam über das Schicksal von CRISPR und andere Technologien entscheiden werden. Zwar kann unter solchen methodischen Gesichtspunkten die Notwendigkeit einer Debatte um die Anwendung von CRISPR auf das menschliche Genom beim jetzigen Stand der naturwissenschaftlichen Forschung durchaus in Frage gestellt werden. Man sollte jedoch nicht unterschlagen, dass Diskurse über die Biotechnologie mit all ihren Facetten – und besonders mit ihren Fiktionen und Visionen – eine gesellschaftlich nicht zu unterschätzende regulierende Wirkung haben. Dabei geht es zwar nicht darum, das Eintreten der erhofften oder befürchteten Ereignisse in der Zukunft zu prognostizieren, sondern darum, dass mittels dieser Visionen die Gesellschaft sich selbst auf die unvorhersehbaren Entwicklungen, die diese Technologien liefern, einstellen kann. Vielleicht sind Dabrocks einleitende Worte daher nicht allein prophetisch, sondern bereiten auch darauf vor, dass wir uns bald in einer Welt wiederfinden könnten, in der unser gesamter Alltag durch das Wunder oder den Schrecken von CRISPR bestimmt ist.

Das Programm der Tagung mit Video- und Audiomitschnitten der Vorträge und Diskussionen sowie weiteren Materialien finden sich auf der Website des Deutschen Ethikrates: http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/jahrestagungen/zugriff-auf-das-menschliche-erbgut.