"Foreward Thinking" - Internationale Konferenz zu Foresight (Tagungsbericht)

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"Forward Thinking" - Internationale Konferenz zu Foresight

Hamburg, 14. - 15. Juni 1999

Konferenzbericht von Michael Rader, ITAS

Zum Jahrtausendwechsel gibt es eine regelrechte weltweite "Foresight-Welle", die nicht nur durch die magische Kraft des Zeitenwechsels zu erklären ist, sondern in erster Linie mit dem Ziel zu tun hat, die zunehmend knapp werdenden öffentlichen Mittel für Forschung und Entwicklung möglichst "gewinnbringend" einzusetzen. Die Hamburger Konferenz bot unter anderem die Gelegenheit, eine Bilanz bisheriger Foresight-Aktivitäten zu ziehen und im internationalen Rahmen Erfahrungen und Vorstellungen zur Weiterentwicklung von Ansätzen und zur Verwertung der Ergebnisse auszutauschen.

Darüber hinaus gab es zwei aktuelle Anlässe für die Veranstaltung: Das nahende Ende der deutschen Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union sowie der Startschuß für das neue BMBF-Projekt "Futur", dessen Home Page am ersten Tag der Konferenz im World Wide Web zugänglich gemacht wurde. Ziel von "Futur" ist es, einen Dialog zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik, aber auch der allgemeinen Öffentlichkeit, über den Themenkomplex Wirtschaft-Wissenschaft-Bildung-Politik zu führen, um die Aktivitäten, die mit den ersten zwei deutschen Delphi-Studien (1993, 1998) begonnen wurden, auf breiter Basis fortzuführen.

Der Einladung zur Teilnahme folgten etwa 200 Personen, von denen viele zu den Adressaten von Foresight-Aktivitäten gehören. Die Vorträge berichteten nicht nur über ForesightStudien, sondern auch von wissenschaftlichen Planungsprozessen und politischen Umsetzungsproblemen. Nach den Grußadressen der Stadt Hamburg (Erster Bürgermeister Runde), des Bildungs- und Forschungsministeriums (Parlamentarischer Staatssekretär Catenhusen in Vertretung der ursprünglich vorgesehenen Ministerin Bulmahn), und der Europäischen Kommission (die scheidende Kommissarin Cresson), folgte ein Beitrag eines polnischen Forschungs- und Entwicklungsplaners, der von den besonderen Umstellungsschwierigkeiten berichtete, mit denen sich die Wissenschaftssysteme der östlichen Beitrittskandidaten zur EU konfrontiert sehen, insbesondere der bisherigen Organisationsform, den Themenbereichen und der Finanzierung.

Ein Vertreter des Daimler-Chrysler Konzerns zeigte die weitere Entwicklungsstrategie des Unternehmens auf, wobei er wiederholt betonte, daß es sich nunmehr um ein globales Unternehmen handele, kein deutsches oder deutsch-amerikanisches. Ziel des Unternehmens sei es, in allen Bereichen so gut oder besser zu sein als der beste Wettbewerber. Dies bedeute eine Konzentration auf solche Tätigkeitsfelder, in denen das Unternehmen eine Chance habe, Weltspitze zu sein. Neben Personen- und Lastkraftwagen gälte dies auch für den Flugzeugbau. In wie weit Europa oder einzelne Länder von dieser Strategie profitieren können, ließ er dabei offen.

Eine Art Ehrengast der Konferenz war der Foresight- und Systemanalyse-Veteran Harold Linstone, der am zweiten Tag der Konferenz seinen 75. Geburtstag feiern konnte und sich bei diesem Anlaß als gebürtiger Hamburger "Jung" zu erkennen gab. In seinem wissenschaftlichen Beitrag warf Linstone einen Blick auf die Geschichte von Foresight. Die Wurzeln solcher Aktivitäten sieht er in der Systemanalyse, die Ende der vierziger Jahre mit dem Aufkommen komplexer technischer Systeme beim MIT, dem California Institute of Technology, IBM und der Randkorporation entstand. Bei letzterer wurde bekanntlich die Delphi-Methode entwickelt und erstmals eingesetzt. Linstone wies darauf hin, daß die Systemanalyse eine ingenieurwissenschaftliche Sichtweise pflege und organisatorische und soziale Gesichtspunkte ausblende. Als problematisch bezeichnete er es ferner, daß die Annahmen, die Prognosen zugrundeliegen, konstant gehalten und nicht hinterfragt werden. Als bemerkenswert bezeichnete er in diesem Zusammenhang die retrospektive Evaluierung eines Fünfjahresplans durch die Southern Californian Edison Company.

Technische Innovationen treten nach Linstone gehäuft am Ende von Depressionen auf. Dabei verläuft die Entwicklung, die sich sonst durch s-förmige Kurven abbilden läßt, recht chaotisch. In dieser Situation ist es nicht leicht, richtige Vorhersagen zu treffen. So habe es nach der Erfindung der Schreibmaschine eine Vielfalt unterschiedlicher Konstruktionen gegeben, so daß die Remington-Maschine, die sich letzten Endes durchsetzte, kaum als Favorit für den Sieg zu erkennen gewesen wäre. Aufgrund solcher Unsicherheiten müsse man immer Vorkehrungen für "crisis management" treffen.

Den letzten einleitenden Vortrag hielt Professor Ben Martin, der heutige Direktor des Science Policy Research Unit der University of Sussex (SPRU). Zusammen mit John Irvine hatte Martin 1983 eine Bestandsaufnahme damals durchgeführter und laufender Foresightaktivitäten vorgenommen. Dies sei etwa zehn Jahre zu früh gewesen, um empfehlen zu können, aus den Japanischen Erfahrungen zu lernen, die keineswegs nur aus den bekannten Delphi-Studien bestanden. Wichtig sei die Einbettung dieser Studien in ein System mit mehreren Ebenen.

Foresight ist denn auch nach dem Verständnis von Martin nicht identisch mit Vorhersage, auch sei es ein Prozeß und keine Technik. Ziel von Foresightaktiviäten sei es, die Zukunft zu gestalten bzw. zu konstruieren. Nach seiner Einschätzung würden die vorgelagerten (pre-foresight) und nachgelagerten Aktivitäten bei diesem Prozeß häufig vernachlässigt.

Die Labour-Regierung in Großbritannien hat die Foresight-Aktivitäten ihrer Vorgängerin fortgesetzt. Dabei hat es bislang keine neue Delphi-Studie gegeben. Im Mittelpunkt stehe nun der Aufbau eines digitalen Wissensbestandes und das Vernetzen der "Spieler" im nationalen Innovationssystem. In dieser Hinsicht sei Foresight ein Werkzeug zum "Verdrahten" nationaler Innovationssysteme.

Die zweite Sitzung der Konferenz verteilte weitere Vorträge auf vier thematische "Arbeitsgruppen", wobei in aller Regel auf die Beiträge der meist sehr hochrangigen Sprecher eine kurze Fragen- und Diskussionsrunde folgte. Für die Teilnehmer der jeweils anderen Gruppen faßten Rapporteure die Vorträge und Diskussionsbeiträge für eine von Hariolf Grupp (Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung, dem Verantwortlichen der deutschen Delphi-Studien) geleitete Plenumssitzung am zweiten Konferenztag zusammen.

Für diejenigen Teilnehmer, die die Foresight-Diskussion auf nationaler oder europäischer Ebene verfolgen, gab es dabei ein überraschendes Maß an Übereinstimmung: 

Neben Vorträgen zu Foresight-Aktivitäten im engeren Sinn gab es auch Beiträge, sie sich mit dem Umfeld von Forschung und Wissenschaft befaßten, so auch zur Planung von Forschung und Entwicklung (z.B. vom Vorsitzenden der Helmholtz-Gemeinschaft, Professor Ganten), zur Evaluierung von Forschungsaktivitäten und -einrichtungen (z.B. durch den Wissenschaftsrat) oder zur Bildungspolitik, insbesondere für Erwachsenenbildung. Abgerundet wurden die Vorträge durch einen Beitrag des Science-Fiction Autors Steven Baxter, der einen nicht immer ernst gemeinten Rückblick auf die letzten hundert Jahre aus der Perspektive des Jahres 2099 wagte.

Den gegenwärtigen Stellenwert für die meisten nationalen Regierungen und die Europäische Kommission dokumentierte die Teilnahme einer Vielzahl oft hochrangiger Experten, sowohl als Redner als auch als Zuhörer. Beispielsweise war der für Forschung zuständige Generaldirektor der Europäischen Kommission, Professor Routti, während der gesamten Konferenz anwesend und schaltete sich sowohl mit einem Vortrag als auch mit Diskussionsbeiträgen aktiv ein.

Entsprechend dieser Teilnehmerschaft diente die Konferenz mehr als Schaufenster der internationalen Foresight community denn als Plattform für den methodischen Austausch. So betonten mehrere Sprecher die Notwendigkeit der Einbeziehung der Bürger in die Foresight-Diskussion, ohne daß jedoch ein anderes Konzept zur Erreichung dieses Ziel angedeutet wurde als das Einrichten von WWW-Seiten.

Zum Abschluß der Konferenz bekundeten der für Europa zuständige Abteilungsleiter des Forschungsministeriums, Herr Brenner, und der stellvertretende Generaldirektor des finnischen Ministeriums für Wissenschaftspolitik, Herr Kuparinen, die Absicht, die Foresight-Diskussion unter der finnischen Ratspräsidentschaft fortzuführen. In Deutschland bietet seit der Konferenz das "Futur"-Projekt dazu die Gelegenheit.

Die TA-Datenbank-Nachrichten werden weiterhin über einzelne Foresight-Aktivitäten berichten. Bereits dieses Heft enthält Beiträge zu Projekten in Großbritannien und Österreich.

Kontakt

Home Page des "Futur"- Projekts: http://www.futur.de

Dr. Michael Rader
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Postfach 3640, 76021 Karlsruhe