Technikfolgenbeurteilung und Wissenschaftsethik in Ländern Ostmitteleuropas (Rezension)

TA-relevante Bücher und Tagungsberichte

Gerhard BANSE (Hrsg.): Technikfolgenbeurteilung und Wissenschaftsethik in Ländern Ostmitteleuropas. Europäische Akademie GmbH, Bad Neuenahr-Ahrweiler. Graue Reihe Heft 10/I und II, 1998, 229 S., ISSN 1435-487X

Rezension von Renate Patz, Fachhochschule Merseburg

Europa wächst zusammen, es bleibt dennoch geteilt und hat 'weiße Flecken'. Als terra incognita umschreibt Gerhard Banse - wenn auch zugespitzt, so doch nicht unberechtigt - die TA-Landschaft in den immerhin ca. 20 Nachfolgestaaten der ehemaligen sozialistischen Länder Ost- und Mitteleuropas aus der Sicht vieler in der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Technikfolgenbeurteilung Tätiger. Diesen weißen Flecken auf der TA-Landkarte Farbe zu geben - um bei diesem Bild zu bleiben - die Topographie zu erkunden, eine erste Bestandsaufnahme der Forschungslage und institutionellen Situation von Technikfolgenbeurteilung und Wissenschaftsethik vorzunehmen, ist ein wesentliches Ziel des Projektes, das Gerhard Banse im Auftrag der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler und mit Unterstützung des BMBF bearbeitet (vgl. P 3242 in der TA-Datenbank). Bezogen auf die drei Länder Polen, Ungarn und Tschechische Republik sind nicht nur TA-relevante Einrichtungen, Akteure und Vorhaben zu ermitteln, zu beschreiben ist auch die jeweilige kulturelle, politische, rechtliche, wirtschaftliche Situation, es sind Verbindungen zum bestehenden (westeuropäischen) TA-Netz anzulegen, über die weitergehende Kooperationen aufgebaut werden können.

Auf dem Workshop Anfang 1998 in Bad-Neuenahr wurden nicht lediglich nur Zwischenergebnisse, speziell die bis zu diesem Zeitpunkt vorliegende Bestandsaufnahme präsentiert. Die Teilnahme deutscher Einrichtungen wie auch der polnischen, tschechischen und ungarischen Partner ermöglichte über eine direkte gegenseitige Information hinaus auch das Knüpfen persönlicher Kontakte bzw. das Vertiefen partiell bereits bestehender Verbindungen.

Die Veröffentlichung von Ergebnissen der Bestandsaufnahme und des Workshops gewährt nunmehr einem breiten Kreis Einblicke in das osteuropäische "Neuland". In Band 10/I sind die überarbeiteten Tagungsbeiträge (L. Tondl, P. Machleidt: Technikfolgenbeurteilung im Herzen Europas - im tschechischen sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellem Milieu; V. Voracek: Technikfolgenbeurteilung, Wissenschaftsethik und Ausbildung "Komplexes Auditing"; T. Balogh: Aktuelle Situation und Aufgaben der Forschungs- und Entwicklungspolitik in Ungarn; I. Hronszky: Technikbeurteilung in Ungarn; A. Kiepas: Problematik der Technik und Technikfolgenabschätzung in Polen; J. Such: Studies in the Field of Philosophy of Technology at the Technical University of Szczecin and Adam Mickiewicz University in Poznan) sowie die Statements (P. Pechan: Prospects of Technology Assessments in the Czech Republic; J. Zahalka: Grundlagen eines Szenarios zur sozial-ökonomischen und ökologischen Entwicklung der Region Nordböhmen; L. Molnar: Über die Lehre und Forschung der Technikethik an der TU Budapest) aufgenommen. Band 10/II enthält die Ergebnisse umfangreicherer Studien zur Situation der Technikfolgenbeurteilung in der Tschechischen Republik (P. Machleidt, S. Provaznik), in Ungarn (I. Hronszky) sowie eine Darstellung erster Ergebnisse des Projektes zur Technikfolgenbeurteilung in Polen, Tschechien und Ungarn (G. Banse).

Über das Projekt und den Workshop hat Gerhard Banse bereits in den TA-Datenbank-Nachrichten berichtet (Banse 1998a und 1998b). Nachvollziehbar werden mit den beiden vorliegenden Bänden die von ihm formulierten Thesen, die Zustandsbeschreibung, die Ausgangs- und Entwicklungspotentiale wie auch Probleme. Dadurch, daß wesentliche Promotoren der Technikfolgenbeurteilung aus diesen drei Ländern selbst zu Wort kommen, erhält die Bestandsaufnahme eine Authenzität, wie sie ansonsten nur durch erheblich längere und intensive Erhebungen vor Ort erreichbar wären.

Werden die Ergebnisse aus der Perspektive eines Entdeckungswilligen gesehen (in der Konsequenz schließt der Begriff terra incognita auch die Neugier auf dieses noch unbekannte Land ein), der seine Meinung zwar gern bestätigt sehen möchte, aber zugleich auch für Anregungen und Ideen, neue Modelle und originelle Aktionen, kluge Vorgehensweisen oder neue Partner (gemäß Rembser 1998) aufgeschlossen ist, so offenbart sich folgendes:

Mit der Fülle an konkreten Hinweisen auf Institutionen und Personen, auf Projekte und Literatur sind beide Bände eine wahre Fundgrube. Dieses Material aufzuarbeiten, auch in der TA-Datenbank zu dokumentieren, wird somit unerläßlich sein.

Daß die Diskussion um die Folgen und Alternativen technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen nicht erst mit dem Ende des Staatssozialismus einsetzte, davon war in Polen, Ungarn und Tschechien mit Gewißheit auszugehen. Auf die Vorgeschichte, auf spezifische traditionelle Wurzeln und auch die häufig widersprüchlichen Erfahrungen gehen mehrere Beiträge ein. Sie werden damit zum Schlüssel für das Verstehen der gegenwärtigen Situation wie auch für Lösungsansätze für die weiteren und zukünftige Entwicklungen. Stichworte seien in diesem Kontext die uralte Sage über den Golem, den künstlichen Menschen mit seinen zwei Gesichtern, der von Karel Capek erschaffene Roboter, das ungarisch-tschechische Donau-Damm-Projekt und damit eng im Zusammenhang stehende environmental-impact-assessment-Untersuchungen seit Anfang der 80er Jahre.

Die Erkenntnis ist an sich nicht neu, die Erfahrungen der osteuropäischen Transformationsprozesse sowie beim Aufbau von Technikfolgenbeurteilung bestätigen, daß pauschales Eins-zu-Eins-Übertragen mehr oder weniger schnell an einen Punkt führt, an dem das Vorbild nicht mehr für ein anderes Umfeld paßfähig ist, an dem wieder nach eigenen (Aus)Wegen zu suchen ist. Insofern plädieren nahezu alle Beiträgen dafür, bei der Transformation von der Plan- zur Markt- und Demokratiegesellschaft, insgesamt bei neuen Entwicklungen nach der Methode des "prüfenden Suchens" vorzugehen. Zudem, auch Probleme erfahren eine Neuauflage: Der Anfang der 90er Jahre geplante und noch laufende Versuch, TA auf parlamentarischer Ebene zu institutionalisieren (so am ungarischen OMFB - Regierungsamt für technische Entwicklungen oder über das PIAS Prague Institute of Advanced Studies) läßt an den keineswegs geradlinigen und schnellen Weg der Technikfolgenbeurteilung in Westeuropa erinnern. Dieses Übertragen, Übernehmen, das Anlehnen an andere Erfahrungen und der sehr genau beobachtende Blick von Ost nach West - daß diese Blickrichtung überwiegt, ist naheliegend und logisch - hat zugleich indirekt zur Folge, daß sich der Verantwortungsdruck auf westliche Demokratien erhöht, daß es vielmehr sogar eine Herausforderung an sie wird. Zugespitzt mag hier auf das Dominoprinzip verwiesen sein.

Partiell stellt sich beim Lesen der Eindruck ein, daß TA als Mittel demokratischer Kontrolle und Partizipation in Osteuropa überbewertet wird, daß die Möglichkeiten westlicher Demokratien überschätzt, Ansprüche und Realität bzw. das real machbare nicht deutlich genug voneinander unterschieden werden.

Institutionell sind wissenschaftliche Institutionen (Universitäten und Akademieeinrichtungen) und dabei wiederum philosophische Richtungen stark vertreten (was allerdings auch methodisch bedingt ist). Die Angebote an Lehrveranstaltungen, in denen TA-Aspekte, teilweise sogar in beträchtlichem Umfang, vermittelt werden, geben Anlaß zur Hoffnung, daß damit Multiplikatoren für Technikfolgenbeurteilung heranwachsen.

Auch wenn all die aufgepürten TA-Elemente von Gerhard Banse zurückhaltend als erste Mosaiksteinchen einer zukünftigen TA-Landschaft bezeichnet werden, auch die betreffenden Einrichtungen selbst schätzen ihr TA-Level ebenfalls als eher niedrig und diffus ein, sie könnten sich am ehesten zu ersten Netzwerkknoten in Ost- und Mitteleuropa profilieren.

Als hinderlich für den TA-Aufbau erweist sich die Vielfalt der Begriffe Technikbeurteilung, Technikfolgenabschätzung, Technikbewertung etc., wenn die spezifischen Hintergründe der Auseinandersetzungen in anderem kulturellen oder gesellschaftlichen Kontext nur schwerlich nachvollziehbar sind.

Die thematischen Ansatzpunkte für Projekte zur Technikfolgenbeurteilung in der Kooperation von ost- und westeuropäischen Einrichtungen sind nur wenig von denen entfernt, die in Deutschland oder Westeuropa zur Disposition stehen. Sie betreffen vor allem ökologische Vorhaben und Auswirkungsbereiche, Risikoabschätzungen, den Ausbau der IuK-Technologien, die Ausrichtung der Forschungs- und Technologiepolitik, um nur einige Aspekte zu nennen.

Es ist nicht immer nur der Ruf nach Geld, der zuerst unterstellt wird, wenngleich dieses so manches befördert und beschleunigt. Schon die Beachtung und Akzeptanz der TA-Akteure und Aktivitäten in Ost- und Mitteleuropa durch deutsche und westeuropäische Institutionen wäre für die osteuropäischen Partner eine deutliche Aufwertung, Stimulierung und zugleich auch ein gewisses Druckmittel, um auf die Notwendigkeit bzw. Weiterführung von TA-Aktivitäten bei den eigenen Entscheidungsträgern drängen zu können.

Manch einem mag es nicht spektakulär genug sein, was sich bei diesem ersten Blick auf die terra incognita zeigt. Nur, wie vorurteilsfrei, medienbeladen oder eingeschränkt ist dieser Blick? Sind andererseits die Transformationsprozesse in den osteuropäischen Ländern nicht schon ein Phänomen für sich selbst? Vergleichsfälle dafür gab es nicht. Und es sei daran erinnert, was in der Biologie bzw. Ökologie unbestritten ist, daß Stabilität, (Über)Lebensfähigkeit eines Systems (Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft) nicht nur von der Anzahl der Elemente abhängt, sondern auch von der Vielfalt, der Ausgewogenheit sowie der Art der Vernetzungen der Elemente.

Die ost- und mitteleuropäischen Länder in ihrer Spezifik, in ihrer Geschichte, Kultur und eingebettet in den gesamteuropäischen Kontext deutlicher in das westeuropäische Bewußtsein zu rücken, den Blick gezielt auch von West nach Ost zu lenken, dies ist ein wesentliches Verdienst von Gerhard Banse, in diesem Sinne leisten die zwei Bände beachtliches. Letztlich leitet sich daraus auch eine gewisse Erwartung ab, daß es nicht bei dieser ersten Bestandsaufnahme bleibt, es gibt noch hinreichend viele weitere weiße Flecken.

Literatur

Banse, G. (1998a): Workshop "Technikfolgenbeurteilung und Wissenschaftsethik in Ländern Mittel- und Osteropas". In: TA-Datenbank-Nachrichten, Heft 2 (1998), S. 97 - 100

Banse, G. (1998b): Technikfolgenbeurteilung in Ländern Mittel- und Osteuropas - erste Ergebnisse eines Projektes. In TA-Datenbank-Nachrichten, Heft 3/4 (1998), S. 29 - 37

Rembser, J. (1998): Die Integration der West- und Osteuropäischen wissenschaftlichen Gemeinschaften: Gedanken über das deutsche Beispiel. In: Euroscientia Forum, No. 1/1998, S. 40-57

Kontakt

Dr. Renate Patz
Forschung und Technologietransfer / TA
Fachhochschule Merseburg,
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Tel.: +49 3461 462907
E-mail: renate patzMpu0∂ltg fh-merseburg de