Mediensucht – Öffentliche Veranstaltung im Bundestag
Unter dem Titel „Neue elektronische Medien und Suchtverhalten – Risiken, Bewältigungsstrategien und Präventionsmöglichkeiten“ wurden am 9. Juni 2016 im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus die Ergebnisse des zugrundeliegenden TAB-Projekts (TAB-Arbeitsbericht Nr. 166) präsentiert und mit Bundestagsabgeordneten, Sachverständigen und der interessierten Öffentlichkeit diskutiert. Die Leitfragen hießen: Was ist Sucht in der Gesellschaft? Gibt es eine Mediensucht? Wo liegen politische Handlungsoptionen und Regulierungsnotwendigkeiten?
Welcher Internetkonsum noch verträglich und welches Nutzungsverhalten schon krankmachend ist, werde bislang weder im wissenschaftlichen noch im gesellschaftlichen Diskurs eindeutig beantwortet, verdeutlichte TAB-Leiter Armin Grunwald zu Beginn der Veranstaltung. Die Welt der neuen Medien biete enorme Möglichkeiten, die allermeisten Menschen könnten sich eine Welt ohne digitale Medien nicht mehr vorstellen und vielen Nutzern falle es schwer, die nötige Distanz zu halten. Michael Opielka vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT Berlin) erläuterte, dass die Entwicklung vorbeugender Maßnahmen eine Zusammenarbeit mehrerer Forschungsbereiche erfordere. Auch habe sich der Blick auf Sucht über die Zeiten verändert, doch werde Sucht nach wie vor zumeist als eine „substanzgebundene“ Abhängigkeit angesehen (z. B. von Alkohol). Mediensucht hingegen ist nicht an eine Substanz gebunden und daher in Deutschland (noch) keine anerkannte Erkrankung.
Projektleiterin Michaela Evers-Wölk (IZT Berlin) beleuchtete insbesondere die Risikofaktoren der Onlinekaufsucht und der Onlinespielsucht, wobei die Onlinekaufsucht kaum in der Öffentlichkeit diskutiert werde und ein Problembewusstsein dafür fehle. Grundsätzlich stelle sich (in der Wissenschaft) immer wieder die Frage, welches Nutzungsverhalten noch als sinnvoll bzw. akzeptabel („normal“) und welches als gesundheitsgefährdend gelten könne. Klaus Wölfling von der Ambulanz für Spielsucht der Johannes Gutenberg-Universität Mainz betonte, dass nicht nur Kinder und Jugendliche von Spielsucht betroffen seien, sondern auch ältere Menschen klinisch behandelt würden. Er forderte eindeutige(re) Regularien für die Diagnose einer Spielsucht, die außerdem das Entstehen einer Spielsucht verhindern helfen sollen. Dass die wissenschaftlichen Grundlagen hier insgesamt zu dürftig seien, machte Matthias Brand von der Universität Duisburg-Essen deutlich. Er forderte u. a., die Grundlagenforschung zu diesem Thema zu stärken.
Paula Bleckmann von der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft Alfter plädierte für den Begriff Medienmündigkeit, da man auch mit einer an sich hohen Medienkompetenz durchaus Suchtverhalten entwickeln könnte. Sie empfahl, die Bildschirmzeiten von Kindern und Jugendlichen zu reduzieren und Kindern mehr Offline-Freizeitangebote anzubieten. Martin Geisler von der Ernst-Abbe-Hochschule Jena und Leiter des berufsbegleitenden Studiengangs „Spiel- und Medienpädagogik“ thematisierte die bei der Spielsucht befriedigten Bedürfnisse. Es mache in seinen Augen keinen Sinn, das Wesen des Spiels an sich zu verteufeln, vielmehr solle der Blick darauf gerichtet werden, was der Antrieb für übermäßig langes Computerspielen sei, welche Defizite in der realen Welt dem zugrunde liegen würden.
Sollen alle Computerspiele einen Beipackzettel erhalten?
So lautete die Entscheidungsfrage, nach der die Debattierer Ricarda Budke (11. Klasse Lise-Meitner-Gymnasium Falkensee) und Julia Steinmetz (10. Klasse F. F. Runge Gymnasium Oranienburg) auf der Pro-Seite sowie Matilda März (11. Klasse Neues Gymnasium Glienicke) und Lukas Ebeling (11. Klasse Evangelisches Gymnasium am Dom zu Brandenburg) auf der Contra-Seite vor dem Publikum der öffentlichen Diskussionsveranstaltung im Deutschen Bundestag ihre Positionen vertraten.
In der Eröffnungsrunde wurde ein breiter Blick auf die verschiedenen Seiten der Streitfrage geworfen. So verwiesen die Befürworterinnen auf die negativen Folgen suchtartigen Computerspielens, etwa die Zerstörung von Freundschaften und die Abnahme schulischer Leistungen. Sie hoben die Möglichkeiten eines Beipackzettels als Aufklärungsmaßnahme für Erziehungsberechtigte und Spielekonsumenten hervor. Die Kontrahenten zogen hingegen die oftmals geringe Rezeptionsbereitschaft der Menschen beim Lesen von Beipackzetteln als Argument gegen die Sinnhaftigkeit von solchen als Präventionsinstrument heran. Die Debattierer lieferten sich insgesamt eine sachorientierte und für die Parlamentarier spannende freie Aussprache.
In den folgenden Diskussionen wurde u. a. die Forderung an den Deutschen Bundestag herangetragen, die Spieleindustrie für die Folgen der Mediennutzung stärker als bisher in die Verantwortung zu nehmen. So sollte beispielsweise die Einbettung von suchtbegünstigenden Faktoren in die Spiele unterbunden werden. Weiterhin wurde die Schaffung von politischen Vorgaben angeregt, nach denen die Gewinne der Spieleindustrie nicht ausschließlich in den Unternehmen verbleiben, sondern gewisse Anteile vielmehr für den Aufbau verbesserter Versorgungsstrukturen bei Spielsucht genutzt werden sollen.
Rosemarie Hein, MdB (Die Linke, Obfrau des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages), betonte, dass es für einen sinnvollen Umgang mit digitalen Medien neben der politischen Auseinandersetzung mit den Chancen auch eines gesellschaftlichen Bewusstseins bedarf, welche Risiken mit der Mediatisierung verbunden sind. In diesem Zusammenhang stellte sie den anwesenden Schülerinnen und Schülern die Frage, ob Kinder und Jugendliche von heute über die notwendige Medienkompetenz für einen kritischen und verantwortungsvollen Umgang mit den neuen elektronischen Medien verfügen. Die Antworten verwiesen darauf, dass oftmals doch die Zeit vergessen und insbesondere mit den sozialen Medien viel Zeit unbewusst verbracht, die eigene Kompetenz oft überschätzt würde.
Die Vorsitzende des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages Patricia Lips, MdB (CDU/CSU), formulierte die These, dass die zunehmend intensive orts- und personenbezogene Werbung suchtartiges Medienverhalten bestärkt, die Funktionsweisen und Geschäftsmodelle für die Medienrezipienten dabei oft nicht transparent sind. Ihre Frage nach dem persönlichen Umgang mit suchtgefährdeten Menschen beantworteten die Jugendlichen mit einem klaren Plädoyer für die direkte Ansprache Suchtbetroffener. Isabell Raue vom Humboldt Gymnasium Potsdam setzte einen Bezug zur Magersucht und verwies in diesem Zusammenhang auf schlechte Erfahrungen in der Kommunikation mit den Süchtigen, v. a. auch, weil diese ihre Sucht in aller Regel nicht als Sucht wahrnehmen. Entsprechend wurde in der anschließenden Diskussion nochmals die Bedeutung flächendeckender professioneller Versorgungsstrukturen in den Vordergrund gerückt.
Patricia Lips schloss die Veranstaltung mit Dank an alle Beteiligten und insbesondere an die jugendlichen Debattierer und würdigte den Austausch zwischen Wissenschaft, Jugend und Politik. Sie betonte, die Inhalte der Diskussion als Auftrag an die Politik zu verstehen, entsprechende Konsequenzen für einen sinnvollen Umgang mit elektronischen Medien und suchtartigem Nutzungsverhalten zu eruieren und umzusetzen.
TAB-Bericht im Bundestag
Der TAB-Arbeitsbericht Nr. 171 „Digitale Medien in der Bildung“ wurde am 8. Juni 2016 im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung präsentiert. Der TAB-Bericht Nr. 166 „Neue elektronische Medien und Suchtverhalten“ wurde als Bundestags-Drucksache Nr. 18/8604 veröffentlicht. Der TAB-Bericht Nr. 165 „Bilanz der Sommerzeit“ wurde am 6. Juli 2016 abschießend beraten.
Neue Veröffentlichungen
TAB-Arbeitsbericht Nr. 166 und TAB-Fokus Nr. 9: „Neue elektronische Medien und Suchtverhalten“ (April 2016; Verfasser: Michaela Evers-Wölk, Michael Opielka)
Das Thema „Neue elektronische Medien und Suchtverhalten“ rückt in den Blick gesellschaftspolitischer Diskussionen. Die Frage, was Mediensucht ist, wird sowohl im wissenschaftlichen als auch im gesellschaftlichen Diskurs bislang nicht eindeutig beantwortet. Auch divergiert das Verständnis darüber, was „normales“ Mediennutzungsverhalten ist. Das führt innerhalb von Familien, aber auch in Schulen zu Konflikten. Unter diesem Eindruck wurden für den TAB-Arbeitsbericht „Neue elektronische Medien und Suchtverhalten – Risiken, Bewältigungsstrategien und Präventionsmöglichkeiten“ die bis heute vorliegenden wissenschaftlichen Befunde zu Umfang und Folgen suchtartiger Mediennutzung ausgewertet und Handlungsoptionen erarbeitet.
Im Ergebnis verweist der Bericht auf vielfältigen Forschungsbedarf. Die bisherigen Studien sind zumeist explorativ und zu wenig auf eine langfristige Analyse der Wandlungsprozesse ausgerichtet. Insbesondere fehlen bei Mediensucht abgestimmte Bewertungs- und Diagnoseinstrumente sowie Evaluationsstudien zu Therapien und Interventionsansätzen. Auch sollten die Differenzierungsformen der Mediensucht intensiver untersucht werden, einschließlich der im Bericht analysierten Ausprägungen (allgemeine Internet-, Onlinespiel-, Social-Network-, Onlinesex-, Onlinekauf- sowie Onlineglücksspielsucht). Zudem erscheint es bedeutsam, einen Diskurs zur Entwicklung einer gesellschaftlich und wissenschaftlich getragenen Wertebasis zu initiieren und zu klären, wo die Schwellenwerte zwischen Normalität und Sucht liegen. Dies ist u. a. deshalb wichtig, weil die intensive digitale Mediennutzung zunehmend zum privaten und beruflichen Normalverhalten zählt.
Link zum Arbeitsbericht: http://www.tab-beimbundestag.de/de/pdf/publikationen/berichte/TAB-Arbeitsbericht-ab166.pdf
Stakeholder Panel Report Nr. 1 „Ausbau der Stromnetze im Rahmen der Energiewende“ (Februar 2016; Verfasser: Christine Henseling, Michaela Evers-Wölk, Britta Oertel, Michael Opielka, Carolin Kahlisch)
Seit 2013 verfolgt das TAB den neuen Schwerpunkt „Diskursanalyse und Dialog mit gesellschaftlichen Akteuren“. Dabei steht die gesellschaftliche Bedarfsanalyse im Rahmen kontinuierlicher Dialog- und Diskursprozesse im Mittelpunkt. Das IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung gGmbH entwickelte hierzu das Konzept „Stakeholder Panel TA“ für den systematischen Erfahrungs- und Meinungsaustausch mit gesellschaftlichen Akteuren über Herausforderungen und Folgen von Wissenschaft und Technik. Der Bericht stellt das Stakeholder Panel TA sowie die Ergebnisse der ersten im Rahmen des Panels durchgeführten Onlinebefragung „Ausbau der Stromnetze im Rahmen der Energiewende“ vor.
Deutschland hat sich verpflichtet, den Anteil der erneuerbaren Energien als Alternative zur Kernkraft und zu fossilen Energieträgern auszubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein Umbau der Energieversorgung notwendig. Der Ausbau der großen überregionalen Übertragungsnetze sowie der Verteilernetze stellt bei der Umsetzung der Energiewende eine zentrale Herausforderung dar. Ziel der Stakeholder-Befragung war es,
- die Einstellungen von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zur Energiewende und zum Ausbau der Stromnetze zu erheben,
- zu ermitteln, welche Maßnahmen und Instrumente für die Erreichung der Ziele der Energiewende als geeignet angesehen werden,
- Fragen nach der der Bewertung von Innovationen für die Energiewende und nach gesellschaftlichen Konfliktfeldern im Rahmen des Netzausbaus zu stellen.
Die Befragungsergebnisse zeigen, dass es eine deutliche Zustimmung in allen Stakeholdergruppen zu den zentralen Zielen der Energiewende gibt. Der Reduzierung der Verwendung fossiler Energieträger und dem zielgerichteten Ausbau der erneuerbaren Energien stimmen ca. drei Viertel der Befragten zu. Demgegenüber wird der Ausbau der Stromnetze von einer Mehrheit kritisch beurteilt. Diese kritische Haltung dem Netzausbau gegenüber beeinflusst auch die Beurteilung der von der Bundesregierung beschlossenen Energiewende insgesamt.
Link zum Report: http://www.tab-beim-bundestag.de/de/pdf/publikationen/berichte/TAB-Arbeitsbericht-sp001.pdf
Festschrift der Jubiläumsfeier „25 Jahre TAB“
Das Jubiläum zum 25-jährigen Bestehen des TAB wurde am 2. Dezember 2015 mit einer Festveranstaltung im Paul-Löbe-Haus begangen. Die Feier sowie die am 18. Februar 2016 im Plenum des Deutschen Bundestages geführte Debatte „25 Jahre wissenschaftliche Politikberatung – Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag“ sind in einer Festschrift dokumentiert.
Link zur Festschrift: http://www.tab-beim-bundestag.de/de/aktuelles/20160614/web_25 Jahre Technikfolgenabschaetzung.pdf