Schwerpunktthema: Innovation
Im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten
Im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten
Anmerkungen zum Kapitel 5: "Innovation" des Zwischenberichtes der Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" des 13. Deutschen Bundestages
von Gotthard Bechmann, ITAS
Der folgende Beitrag wurde anläßlich der Expertenkonferenz der Akademie für Politische Bildung, Tutzing, am 17./18. Juni 1997 vorgetragen. Thema der Tagung war, die kritische Auseinandersetzung mit dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt. Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung" des 13. Deutschen Bundestages. Der Vortrag bezieht sich auf das fünfte Kapitel des Berichts, das sich mit Innovation in einer nachhaltigen Gesellschaft beschäftigt. Der Beitrag wird hier in der ursprünglichen Form abgedruckt, um den Argumentationsfluß nicht zu stören und dem knappen, gedrängten Stil dieses kurzen, 15-minütigen Vortrags nichts von seiner Wirkung zu nehmen. Die Form eines Vortrags ermöglicht es, die Argumente etwas schärfer zu formulieren, als es vielleicht in schriftlicher Form geschehen würde - aber auch dies sollte erhalten bleiben im Interesse einer offenen Diskussion.
Zu Anfang sei gleich betont, bedingt durch die Knappheit der Zeit, verzichte ich auf die üblichen Formeln der Bewunderung für den Bericht, meine Kritik wird deshalb etwas harscher ausfallen als sonst üblich. Ich bitte dafür im voraus um Verzeihung.
In fünfzehn Minuten kann man nicht alles sagen, was einem zu einem Text einfällt, geschweige denn in verbindlicher Form, wie es sich geziehmt. Schon das 18. Jahrhundert wußte, zu gepflegten Sitten gehört Zeit, deshalb hat auch der Adel vornehme Umgangsformen entwickelt und das Bürgertum die Revolution gemacht. Aber Zeit haben wir heute generell nicht mehr - aufgrund eines forcierten Innovationstempos auf sozialer, technischer und kultureller Ebene.
Und damit sind wir schon beim Thema: Innovation.
- Das Kapitel 5 des Zwischenberichts trägt den Titel "Innovationen für eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung". Als erstes fällt am Text auf, daß Innovation unproblematisch mit etwas Gutem gleichgesetzt wird und daß es Unternehmen und der Gesellschaft im Ganzen schlecht geht, wenn sie keine Kreativität mobilisieren und keine Kraft zu Innovationen aufbringen. Ich muß gestehen, daß ich dieses Vorurteil nicht teile. Wir müssen uns von einem rein rhetorischen Gebrauch solcher Kategorien distanzieren. In Wirklichkeit gibt es immer Protagonisten und Gegner. Innovationen werden nach vielen weiteren Kriterien beurteilt und Reformen werden oft gerade dann als erfolgreich eingestuft, wenn Innovationen nicht durchgeführt worden sind und jeder das mit Erleichterung zur Kenntnis nimmt.
Die andere Seite der Innovation ist nämlich die der Zerstörung. Schon Schumpeter wußte von dieser dunklen, der Sonne abgewandten Seite der Innovation. Wer etwas Neues will, muß Bestehendes diskriminieren, als alt und überholt bezeichnen. Mit anderen Worten, eine innovative Gesellschaft ist zugleich und vor allem eine zerstörende Gesellschaft. Und dies geschieht auf kulturellem, sozialem und wirtschaftlichem Gebiet. Sieht man die Ambivalenz der Innovation, so fällt das Urteilen schon schwerer. Innovation ja, aber wer ist der Verlierer, der Ausgegrenzte durch die Neuerung? Unsere Gesellschaft, so möchte man meinen, ist eine Entwertungsgesellschaft durch Neuerung.
Nicht nur kulturelle Güter, Religionen oder Sitten und Gebräuche werden entwertet, auch konkrete Produkte. Der Computer, den ich heute kaufe, ist schon beim Kaufakt veraltet, da in den Produktionsstätten bereits die nächste Generation auf ihre Marktgängigkeit wartet. Diese Zerstörung durch Innovation wird nicht besser, wenn man sich an einem Innovationsbegriff festhält, der schon nahe an der Tautologie formuliert ist. "Danach bedeutet Innovation, in Wirtschaft und Gesellschaft Neuerungen hervorzubringen, zu übernehmen und erfolgreich zu nutzen" (S. 145). Dieser Begriff ist leer. "Innovation" wird rein temporal gebraucht. "Neu" heißt nur: zeitlich später. Innovation ist mindestens aber auch als Differenz zu früheren Zuständen und Erfahrungen zu bestimmen.
Der Neuheitsdruck stimuliert die Suche nach neuem Wissen; und Neues wird geradezu gesucht, um ein Anlaß zu sein, Neues zu suchen. Wer so die reine Selbstreferenz feiert, wird nichts als Innovation sehen. Aber auch hier müßte eine zweite Unterscheidung gemacht werden, die zwischen Neuheit und Fehler. Ohne diese Unterscheidung zu machen, kann man Innovation nicht positiv werten und da beginnt das Dilemma: Innovationen können Investitionsfehler sein, sie können soziale Ungerechtigkeit und politische Irrtümer sein. Mit anderen Worten: die dunkle Seite der Innovation schiebt sich wieder in das gleißende Licht der Neuerungen. Davon ist aber im Text keine Rede.
- Auffällig ist am Text sein appellativer Charakter. "Gesellschaften und Unternehmen, die sich in einer sich rasch verändernden Wirklichkeit behaupten und gestaltend eingreifen wollen, müssen in der Lage sein, flexibel auf neue Chancen und Risiken zu reagieren. Voraussetzung dafür ist die Kompetenz der Akteure, in offenen Problemsituationen adäquate Entscheidungen zu treffen und kompetent handeln zu können" (S. 148). Besonders deutlich wird dieser appellative Charakter bei der näheren Bestimmung der Aktionsfelder. Was hier in fünf Punkten gefordert wird, betrifft schlechterdings alle Vorschläge, die in den letzten Jahren auf diesen Gebieten kontrovers diskutiert wurden. Neben der Verbesserung der Ressourcenproduktivität muß gleichzeitig auch die Produktqualität hinsichtlich ihrer Langlebigkeit, Modulbauweise, Modernisierbarkeit und Multifunktionalität gesteigert werden" (S. 163). "Halt!" möchte man rufen, "wo bleibt eigentlich die Wirtschaftlichkeit?" Denn das hohe Innovationstempo ruiniert die Gewinne und macht Investitionen unrentabel. Die Modebranche ist eben nicht Vorbild der gesamten Wirtschaft. Von der Wissenschaft wird gleichzeitig Transparenz und Mitwirkung der Beteiligten, wenn nicht sogar Betroffenen gefordert, bei gleichzeitiger Steigerung des Tempos des Wissensgewinns und der Entscheidungen, so als ob noch keine Erfahrungen mit Gruppenuniversität und partizipativer Forschungsorganisation vorliegen würden. Meine Mutter würde sagen, wer allen helfen will, hilft keinem. Alteuropäisch könnte man auch vom abstraktem Sollen sprechen, das nicht in der Realität verankert ist.
Innovation als Wunschliste zu organisieren, zeigt nur, daß hier dem Zeitgeist politisch gehuldigt, nicht aber die Wirklichkeit beschrieben wird, um die es gehen soll. Jede angemessene Theorie organisatorischer Veränderungen wird ein sehr viel komplexeres Instrumentarium benötigen, das eher auf evolutionstheoretischer und nicht auf handlungs- bzw. planungstheoretischer Grundlage formuliert werden kann. Man muß also unterscheiden zwischen der Selbstzuschreibung des Innovationssystems und den tatsächlichen Operationen, und den Strukturen und Entscheidungsprämissen, an denen sich die Entscheidungen der einzelnen Organisationen orientieren.
- Nun könnte man sagen, daß die Unklarheiten im Begriff der Innovation nicht unbedingt ein Defizit sind, wenn das Ziel der Neuerung präzise bestimmt ist. Und dieses Ziel scheint der Bericht in der nachhaltigen zukunftsverträglichen Entwicklung zu sehen, das auch gleich in die Dimensionen: Ökonomieverträglichkeit, Sozialverträglichkeit und Umweltverträglichkeit (S. 152) zerlegt wird. Aber auch hier scheint eher der Wille zur politischen Anpassung durchzuschlagen, als die Anleitung durch klare Bestimmungen.
Der Begriff "Sustainable Development" ist in aller Munde, was noch nicht bedeuten muß, daß er auch in allen Köpfen, geschweige denn in allen Handlungsprogrammen wiederzufinden ist. Der eigentliche Charme dieses Begriffes rührt wohl daher, daß er vor allem verspricht, den Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie in Wohlgefallen aufzulösen. Dies zeigt sich, wenn man ihn in das etwas schwerfällige Deutsch einer allgemeinen Programmatik übersetzt: nachhaltige Entwicklung, wobei Nachhaltigkeit für ökologisch/ressourcenschonend und Entwicklung für wirtschaftliche/industrielle Entwicklung steht. Man könnte sagen, daß dieser Begriff perfektioniert ist.
Perfektionierung eines Begriffes meint ja, daß man schlechterdings nicht das Gegenteil vertreten kann und wenn ja, nur mit schlechtem Gewissen und unter Verlust an sozialem Ansehen. Wer möchte schon statt dem guten Leben das schlechte propagieren, oder Krankheit statt Gesundheit? Auffällig ist am Begriff "Sustainable Development", daß er meist negativ gebraucht wird. Man weiß genauer, was nicht nachhaltig ist, aber weniger präzise, was in der Zukunft sich als nachhaltiges Wirtschaften herausstellen wird.
Die Schwierigkeiten fangen aber nicht bei der Zustimmung zu solchen Begriffen an, sondern bei der Konkretisierung und Umsetzung. So dürfte es sich auch bei der "nachhaltigen" und "zukunftsverträglichen" Entwicklung verhalten.
Ohne in Details zu gehen, möchte ich hier aus Zeitgründen exemplarisch auf zwei Problembereiche hinweisen:
- die Zeitproblematik
- die Werteproblematik
- Das Zeitproblem:
Hier stellt sich die Frage, auf welchen Zeitrahmen bezieht sich das Konzept? Man kann an alle zukünftigen Generationen der ganzen Menschheit denken, was sicherlich dem Begriff Nachhaltigkeit entspricht. Das ist die lange Sicht der Dinge. Oder man kann an die Aufgaben der nächsten zwei bis fünf Jahrzehnte denken.
Bei der langen Sicht gibt es keine Zweifel, daß nachhaltige Entwicklung oder nachhaltiges Wachstum unmöglich ist. Die nicht erneuerbaren Ressourcen werden langfristig erschöpft sein, die Natur wird irgendwann aufgebraucht sein, die Wirtschaft muß in einen neuen stationären Zustand übergehen. (Was kommt also nach der Nachhaltigkeit?) Eines kann man heute sicher wissen: Die Evolution hat immer schon in hohem Maße selbstdestruktiv gewirkt. Kurzfristig und langfristig. Wenig von dem, was sie geschaffen hat, ist erhalten geblieben. Das gilt für die Mehrzahl der einst vorhandenen Lebewesen. Und ebenso sind fast alle Kulturen, die das menschliche Leben hervorgebracht hat, verschwunden.
Begreift man Sustainability dagegen als mittelfristiges Konzept, treten ebenfalls gravierende Probleme auf. Wie zum Beispiel
- das Werteproblem:
Wie wir alle wissen, ist jede technische oder auch jede ökonomische Entwicklung in einen gesellschaftlichen Werterahmen eingebunden. Es geht ja nicht allein um die effiziente Nutzung vorhandener Technologien wie das 3 Liter Auto.
Was hilft es, wenn wir zwar beim Benzinverbrauch sparen, aber dafür umso mehr Kilometer fahren? Sustainability ist gleichzeitig auch die Suche nach dem rechten Maß; es geht mit anderen Worten auch um ein anderes Kultur- und Wertemodell. Der Umstieg von Steigerung auf Begrenzung, und, wenn man moderat sein will, auf kluge Begrenzung.
Damit sind zwei Dinge impliziert. Zum einen müssen fundamentale Werte geändert werden, zum anderen muß ein zentraler Begrenzer auftreten (sprich Staat), um für die Übergangszeit gewisse Richtwerte durchzusetzen.
Das Einzige, was wir vom Wertewandel aber wissen, ist, daß er nicht managebar ist, sondern sich evolutionär einstellt. Hinzu kommt, daß Werte Präferenzen sind, die zwar Ziele ausdrücken, nicht aber eine eigene Ordnung aufweisen. Unsere Gesellschaft ist unhintergehbar wertpluralistisch organisiert. Wer dies nicht akzeptiert, verkennt die Leistungen der Moderne.
Werte werden als normativ einforderbare Präferenzen verstanden, ohne daß man sich darauf festlegt, wie Wertkonflikte von Fall zu Fall zu lösen sind. Seit Kenneth Arrow wissen wir aber, daß es für pluralistische Gesellschaften keine optimale Lösung der Wertprobleme geben kann, und es keine transitive Ordnung von Werten gibt. Wertelisten sind daher meist auch Wartelisten nach dem Prinzip der Opportunität und des Kompromisses.
Die Rolle des Begrenzers erinnert uns fatal an die Marxsche Frage "Wer erzieht die Erzieher?" Meist folgen hier Appelle an den Staat, er möge das Gemeinwohl vertreten.
Aber kann er das? Kann er das richtige Maß bestimmen, woher nimmt er die Richtlinien und Grenzwerte, wenn nicht aus der Gesellschaft, und damit sind wir wieder beim Pluralismus, bei der Vielfalt der Werte und ihrer Konflikte.
- Damit komme ich zu meinem vierten Punkt.
Forsch deklariert der Bericht: "Das Ziel einer nachhaltigen zukunftsverträglichen Entwicklung muß von der gesamten Gesellschaft angestrebt werden" (S. 145 und ähnlich S. 158). Kann man aber so von der Gesellschaft reden? Ist sie eine Adresse, an die man Aufforderungen senden, von der man Handlungen erwarten kann? So recht mögen die Autoren selbst nicht daran glauben, denn schon im nächsten Satz wird die Einheit wieder in die divergierenden Akteure und Systeme aufgespalten (S. 144) und nun wäre es zunächst hier angebracht, von den Widersprüchen und Konflikten zu sprechen, die Innovationen auslösen. Jedoch weit gefehlt. Es wird versucht, die verlorengegangene Einheit durch zwei Begriffe zu heilen: Konsens und Holismus.
Die Konsenstheorie als Erbe der gescheiterten Vertragstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts ist ja heute in aller Munde. Sie verheißt eine auf Solidarität und Integration gegründete Gesellschaft. Aber ist Konsens in einem physisch-sozial aktualisierbarem Sinne überhaupt möglich, und wie soll auf diese Weise eine ausreichende Gleichrichtung von ineinandergreifenden Erwartungen und Zukunftsvorstellungen erreicht werden? In der Soziologie hat Parsons die Lösung in einem Wertkonsens gesehen, der auf zunehmende Differenzierung durch zunehmende Generalisierung reagierte. Mit diesen eingebauten Verzichten auf Konkretisierung trägt man zwar der Individualität der Akteure und der Komplexität der Gesellschaft Rechnung, bringt aber das, was man dann noch als Gemeinsames, als Gesellschaft bezeichnen kann, in eine ausgedünnte Begrifflichkeit, die wenig benennt. Solche Konsense haben aber die Eigenart, sich mit zunehmendem Konkretisierungsgrad in Dissense aufzulösen, so daß der wirkliche Inhalt des abstrakten Konsenses wohl die Ausklammerung der Dissense ist und sonst nichts weiter.
Wichtiger ist vielleicht noch ein anderer Punkt. Konsens hat zur Folge, daß man, wider besseres Wissen, soziale Konflikte, Dissense und abweichendes Verhalten nicht zur Gesellschaft im eigentlichen Sinne rechnen kann. Aber wird nicht damit gerade auf die produktive Kraft von Konflikten verzichtet? Wenn man auf die Zukunftsfähigkeit und Weiterentwicklung der Gesellschaft setzt, sollte man nicht versuchen, Konflikte präventiv zu vermeiden? Konflikte sind nicht unliebsame - und zugunsten eines Konsenses zu vermeidende - Störungen des reibungslosen Funktionierens der Gesellschaft, sondern gerade Quelle innovativer Weiterentwicklung und Ausdruck einer offenen und gestaltbaren Zukunft. Nicht die Akzeptanz und Bewertung kann vornehmlich das Ziel einer Innovationspolitik sein (S. 148, 152, 156), sondern der Zufall und die Überraschung. Eine weitere Konsequenz dieses Ansatzes, Innovation über Konsens zu bestimmen, ist, daß Strukturen und Entwicklungen der Gesellschaft als individuelles Fehlverhalten erscheinen. Entsprechend wird dann gerade bei ökologischen Fragen Verantwortung angemahnt, ohne zu prüfen, ob strukturelle Probleme sich überhaupt in individuelle Handlungs- und Entscheidungsprobleme übersetzen lassen (S. 151/52). Die Autoren des Berichtes treten als "Warntäter" auf, sie sehen ihre eigene Verantwortung darin, die Verantwortung anderer anzumahnen: der Wirtschaft, der Wissenschaft usw. Aber nach welchen Kriterien und mit welchen Vorschlägen?
Ein wesentliches Kriterium sehen sie im Holismus, den der Bericht geradezu beschwört (S. 156 und besonders S. 165 ff.). Unter Holismus verstehe ich eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die versucht, Gegensätze und Differenzen durch einen übergeordneten Gesichtspunkt aufzulösen oder zu harmonisieren. Dies kann in der Tat geschehen, wenn man, wie Hegel, die Einheit der Gegensätze aufheben kann, sei es in der Figur des Weltgeistes oder im preußischen Staat als historischen Ausdruck desselben. An beide ist uns der rechte Glaube leider verlorengegangen. Wenn der Holismus von keiner Theorie gesteuert wird, verkommt er leicht zum Aneinanderreihen von nicht miteinander kompatiblen Sachen und dem Wunsch, sie müßten sich vereinen lassen - zumindest auf dem Papier oder im Kopf. Dieser Gefahr entkommt auch der Bericht nicht. "Innovationsstrategien im Sinne des integrativen Ansatzes des Leitbildes Nachhaltigkeit zielen auf eine umfassende, d.h. ganzheitliche wirtschaftlich-technische, ökologische und soziale Modernisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft ab. Einzeloptimierungen im Sinne partieller Modernisierungsstrategien können allenfalls kurzfristige Erfolge gewährleisten, reichen aber nicht aus, um den Strukturwandel langfristig und nachhaltig zu gestalten" (S. 156). Gut gebrüllt Löwe, möchte man sagen. Die Einsicht ist nicht neu, jedoch die Realisierung dürfte im umgekehrten Verhältnis zur Unverdrossenheit ihrer Beschwörung stehen. Wer alles sehen will, sieht meist nichts, da nur Differenzen Informationen erzeugen. Gleiches dürfte für die gebetsmühlenartige Beschwörung der "problemorientierten Interdisziplinarität" gelten (S. 166). Abgesehen davon, daß auch Interdisziplinarität Disziplin erfordert, also Differenzen erzeugt, dürfte dieses Postulat das ständig schlechte Gewissen der Hochschul- und Wissenschaftsreform sein. Ehe man ein weiteres Mal diese Forderung gewissermaßen kostenlos unterschreibt, möchte man doch gerne wissen, warum sie bisher noch nicht realisiert wurde, welche Widerstände da sind und wie diese abgebaut werden können. Es wäre schön, wenn einmal innovativ über Innovationen, daß heißt mit Überraschungswert und ohne Konsens, nachgedacht würde. Dies muß wohl dem Zufall überlassen bleiben.
Ich komme zum Schluß und möchte mich dem Sondervotum des Kommissionsmitgliedes Joachim Borner (S. 168/69) insoweit anschließen, als auch er dargelegt hat, daß man, ehe man laufend normative Forderungen erhebt, versuchen sollte, das Thema Innovation historisch und theoretisch im Rahmen einer begründeten Gegenwartsanalyse einzubetten, die Roß und Reiter benennt. Ansonsten bleibt die nachhaltige zukunftsverträgliche Entwicklung eine Welt als Wille ohne Vorstellung, die die reale Gesellschaft aus den Forderungen ausgrenzen muß.
Bibliographische Angaben
Konzept Nachhaltigkeit: Fundamente für die Gesellschaft von morgen. Zwischenbericht der Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt - Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung" des 13. Deutschen Bundestages. Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit. Bonn: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 1997. 188 S. Ser. Titel: Zur Sache 1997 (1) ISBN 3-930341-32-8.