Informatik und Gesellschaft im Bremer Informatikstudium

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Informatik und Gesellschaft im Bremer Informatikstudium

von Jürgen Friedrich, Universität Bremen

In einer Zeitschrift, die den Begriff Technologiefolgenabschätzung in ihrem Titel führt, hieße es "Eulen nach Athen tragen", wenn man erläutern wollte, warum Informatik und Gesellschaft notwendig ist. Aber vielleicht ist es interessant zu untersuchen, warum die Disziplin selbst sich so schwer tut, ein Selbstverständnis zu entwickeln, das neben dem technischen auch den sozialen Charakter der Informatik akzeptiert und die gesellschaftliche Verantwortung der Informatiker/innen nicht zur Freizeitangelegenheit des Einzelnen erklärt. Dann versteht man vielleicht auch besser die Gründe dafür, warum es immer noch nicht gelungen ist, Informatik und Gesellschaft in allen Informatik-Studiengängen in Deutschland zu etablieren.

1 Lehren aus der Geschichte der Ingenieurwissenschaften in Deutschland

Oder: Warum die Informatik sich nicht nur mit Technik beschäftigen darf

Man kann wohl - ohne allzu stark zu verkürzen - sagen, daß sich die Informatik in Deutschland historisch aus zwei Disziplinen herleitet, derjenigen, die sich mit dem materiellen Substrat, dem Bau der universellen Maschine beschäftigt, und derjenigen, die der amorphen Maschine ihre konkreten Strukturen einprägt. Die erste ist die Elektrotechnik (Elektronik), die sich ganz in der Tradition der klassischen Ingenieurwissenschaften versteht; die zweite ist die Systemtechnik (Algorithmik), die ihre Wurzeln sehr oft in der Mathematik hat. Die Geschichte der Elektrotechnik in Deutschland ist nicht nur die Geschichte großer Erfindungen, sondern auch - wie bei fast allen übrigen Ingenieurwissenschaften - die Geschichte politischer Blindheit. Das Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaften scheint bemerkenswerterweise bei den Ingenieurwissenschaften auf noch fruchtbareren Boden gefallen zu sein, als in den "reinen" Naturwissenschaften. Die zweite Wurzel der Informatik, die Mathematik, ist von ihrem Selbstverständnis als "Kalkülwissenschaft" her noch viel weiter von aller Wertung entfernt, wahrscheinlich weiter als jede andere Wissenschaft.

Die Realität der Informations- und Kommunikationstechnik spricht demgegenüber eine ganz andere Sprache: Information und Kommunikation bezeichnen zunächst genuin menschliche Sachverhalte und auch in ihrem technischen Gewand dienen sie - in zunehmendem Maße - der Vermittlung und dem Austausch zwischen Menschen. Nicht umsonst sprechen wir heute vom "Computer als Medium". So wie der Einsatz des Computers selbst schon in bestimmter Weise soziale Beziehungen prägt, so ist erst recht sein funktionaler Entstehungszusammenhang sozialer Natur. Kein Entwickler wird heute noch erfolgreich Programmieren können, ohne den zukünftigen Benutzer intensiv in den Prozeß einzubeziehen; die Systementwicklung selbst ist bei komplexer werdenden Systemen nur noch im Team möglich usw. Nygaard spricht kurz von "Program development as a social activity" (Nygaard 1986). Informatiksysteme sind in diesem doppelten Sinne soziotechnische Systeme.

2 Die Entwicklung von Informatik und Gesellschaft in Bremen

Oder: Warum Wirkungsforschung notwendig, aber nicht hinreichend ist

Als der Studiengang Informatik in Bremen im Herbst 1978 gegründet wurde, war Informatik und Gesellschaft von Beginn an ein wesentlicher Bestandteil des Studiums. Die Entwicklung der letzten 20 Jahre läßt sich unter zwei wesentlichen Fragestellungen zusammenfassen: a) Wie haben sich in dieser Zeit die methodischen und inhaltlichen Konzepte entwickelt? und: b) Wie hat sich - in Abhängigkeit davon - die Organisationsform geändert?

a) Informatik und Gesellschaft war in Bremen - wie auch sonst in der Bundesrepublik - von Mitte der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre fast ein Synonym zu Informatik-Wirkungsforschung. Das Fachgebiet stand noch ganz unter dem Eindruck der ersten großen Studien zu den Wirkungen der Informatik, die von Nora und Minc in Frankreich und von Reese u.a. in Deutschland vorgelegt worden waren (Nora, Minc 1979, Reese et al. 1979). Die Tragik dieser Dekade von Informatik und Gesellschaft lag darin, was Werner Langenheder einmal die "folgenlose Folgenforschung" genannt hat: Die Analysen waren äusserst profund, aber in der Disziplin selbst, der Informatik, kümmerte sich niemand um sie. Verständlicherweise, denn sie enthielten kaum Hinweise, die die Informatik in ihrer praktischen oder theoretischen Arbeit hätte auch nur ansatzweise umsetzen können. In Bremen war dieses Defizit der Wirkungsforschung bereits sehr früh erkannt worden: Wirkungsforschung als zentrale Kategorie von Informatik und Gesellschaft wurde durch das Konzept der Gestaltungsforschung ergänzt. Gestaltungsforschung soll, aufbauend auf den Ergebnissen der analytischen Wirkungsforschung, die Möglichkeiten und Rahmenbedingungen für eine sozial-orientierte Entwicklung von Informatiksystemen als soziotechnische Systeme erforschen und in konkrete Entwurfsentscheidungen umsetzen. Die "konstruktive Wende" von Informatik und Gesellschaft blieb nicht unumstritten. Manche fürchteten, das Fachgebiet werde nunmehr von den "Machern" vereinnahmt, dürfe sich nur noch äußern, wenn immer gleich auch die Rezepte für eine Umsetzung in technische Anforderungen mitgeliefert würden. Was sich tatsächlich entwickelte, war eine fruchtbare Verknüpfung von Wirkungs- und Gestaltungsforschung. Die arbeitswissenschaftliche Analyse von Belastungen und Beanspruchungen bei der Bildschirmarbeit etwa wurde in der Lehre verbunden mit der Vermittlung software-ergonomischer Erkenntnisse zur Oberflächengestaltung. Die Analysen zu Datenschutzrisiken in Unternehmen und Staat wurden verknüpft mit Überlegungen zu technischen Möglichkeiten, die Daten z.B. über kryptographische Verfahren sicherer zu machen. Dazu gehörte aber immer auch die Vermittlung der Einsicht in die Begrenztheit der jeweiligen technischen Gestaltungsmaßnahmen.

b) Die Behandlung der gesellschaftlichen Wirkungen der eigenen Disziplin war in Bremen kein Privileg der Informatik. Auch bei den klassischen Natur- und Ingenieurwissenschaften war die Beschäftigung mit derartigen Fragen obligatorischer Bestandteil des Studiums. Die Lehrveranstaltungen für diese Studiengänge wurden von einer eigens dafür geschaffenen Einrichtung, dem sogenannten Berufspraxiszentrum, angeboten. Der Begriff "Berufspraxiszentrum" deutete darauf hin, daß die Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Folgen des eigenen Fachs nicht nur in allgemein ethischen Motiven begründet lag, sondern daß schon damals davon ausgegangen wurde, daß dieses Thema für die berufliche Praxis der Informatiker/innen von direkter Bedeutung ist, und zwar im Sinne einer professionellen Ethik. Heute wird diese Position auch von der wichtigsten Wissenschafts- und Berufsorganisation, der Gesellschaft für Informatik (GI), geteilt. Sie hat mit den 1993 verabschiedeten "Ethischen Leitlinien" nicht nur ihre Mitglieder, sondern - das war neu - auch sich selbst als Organisation dem Postulat der gesellschaftlichen Verantwortung im beruflichen Handeln unterworfen (Autorenkollektiv 1993).

So sehr einerseits die Beziehung zwischen Verantwortung und Beruf zu begrüßen ist, so problemetatisch war andererseits - in studienorganisatorischer Hinsicht - die Ansiedlung der sozialwissenschaftlichen Studienanteile in einer eigenständigen Einrichtung, dem Berufspraxiszentrum. Für die Informatik-Studierenden, deren Erwartungshaltung primär auf die Vermittlung von Konzepten und Methoden der Softwareentwicklung gerichtet ist, ist die Beschäftigung mit sozialwissenschaftlichen Fragen naturgemäß zunächst immer fremd. Diese Haltung wird durch die Auslagerung der Lehre zu Informatik und Gesellschaft in ein Berufspraxiszentrum außerhalb des Studiengangs noch verstärkt. Auch die organisatorische Trennung der Lehrenden im Berufspraxiszentrum von denen im Studiengang selbst behindert die im Sinne der Gestaltungsforschung notwendige fachliche Integration von sozialwissenschaftlichen und technischen Lehrinhalten. Die Informatik in Bremen hat daher bereits kurz nach Gründung des Studiengangs die Konsequenz gezogen und die Lehrkapazität zu Informatik und Gesellschaft in den eigenen Studiengang integriert. Dadurch und durch die Tatsache, daß neben den Informatik und Gesellschaft-Lehrenden auch andere (Kerninformatik-)Lehrende soziale Aspekte ihres jeweiligen Spezialgebiets in ihren Lehrveranstaltungen behandeln, sind entscheidende Voraussetzungen für eine Etablierung von Informatik und Gesellschaft im Bremer Studiengang gegeben.

3 Ziele und Inhalte von Informatik und Gesellschaft in Bremen

Oder: Warum sich Informatik und Gesellschaft eigentlich selbst aufheben müßte

Das Ziel der Lehre in Informatik und Gesellschaft in Bremen kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Die Studierenden "sollen Einsicht in die Zusammenhänge von Technik, Wissenschaft und Gesellschaft gewinnen, um spätere Entscheidungen in der Berufspraxis bewußt und verantwortlich handelnd zu treffen. Sie sollen die erkannten sozialen Wirkungen der Informatik bei der zukünftigen Gestaltung informationstechnischer Systeme umsetzen lernen" (Studienordnung 1993, S. 1). Zur Erreichung dieses Ziels sind sowohl Fähigkeiten zur Analyse der Wirkungen in einzelnen Anwendungsgebieten erforderlich als auch Methoden zur Gestaltung soziotechnischer Systeme. Diese Fähigkeiten werden im Grundstudium systematisch vermittelt und im Hauptstudium exemplarisch vertieft.

Inhalte des Grundstudiums

Im Grundstudium gibt es neben Mathematik und den üblichen Kerninformatiksäulen (theoretische, praktische und technische Informatik) eine eigene Säule "Angewandte Informatik einschließlich Informatik und Gesellschaft". Die Lehrveranstaltung des ersten Semesters ("Anwendungen und Auswirkungen der Informatik") führt anhand einer komplexen Fallstudie ("Hafeninformatik 2010") in die allgemeine Problematik ein. Exemplarisch werden Anwendungen der Informations- und Kommunikationstechnik im Hafen (von der Automatisierung von Einzelfunktionen der Logistik, etwa des Containerumschlags, bis zu umfassenden Gesamtlösungen, etwa im Rahmen von Teleportkonzepten) analysiert und hinsichtlich unterschiedlicher Wirkungsdimensionen (ökonomische, arbeitsorientierte, ökologische usw.) beurteilt. Das zweite Semester dient dann der vertiefenden Darstellung verschiedener Anwendungsbereiche. Dabei bestehen Wahlmöglichkeiten zwischen Verwaltungsinformatik, Wirtschaftsinformatik, Produktionsinformatik und Medieninformatik. Aufbauend auf den Kenntnissen über die Anwendungen folgt dann im dritten Semester die Kernveranstaltung zu Informatik und Gesellschaft als sechsstündiger Kurs (4 Semesterwochenstunden Vorlesung und 2 Semesterwochenstunden Übung). Inhaltlich orientiert sich die Veranstaltung an dem Lehrbuch "Informatik und Gesellschaft" (Friedrich, Herrmann, Peschek, Rolf 1995):

Im Anschluß an den letzten Teil dieser Veranstaltung wird dann im vierten Semester der Blick auf Gestaltung gerichtet. In der Veranstaltung "Gestaltung soziotechnischer Systeme" werden für die frühen Phasen der Softwareentwicklung (Istanalyse, Anforderungsdefinition, Entwurfsspezifikation) Kriterien und Entwicklungskonzepte vermittelt, die eine stärkere Einbeziehung der Betroffenen (Benutzer, Bürger usw.) zum Ziel haben. Dazu gehören psychologische Verfahren der Arbeitsanalyse, organisationstheoretische Methoden, Methoden der partizipativen und evolutionären Systementwicklung, Prototyping, Benutzungsfreundlichkeit usw. Mit der Behandlung derartiger Lehrinhalte rückt diese Veranstaltung bereits in die Nähe der in der praktischen Informatik im selben Semester durchgeführten Lehrveranstaltung "Softwaretechnik", die sich mit den späteren Phasen des Entwicklungsprozesses beschäftigt. Das ist gewollt und illustriert die im Untertitel dieses Kapitels formulierte These: Beabsichtigt ist eine möglichst weitgehende Integration von Informatik und Gesellschaft in die "normalen" Informatikveranstaltungen. Informatik und Gesellschaft soll ihre Sonderrolle im Studium verlieren, sie soll ihre Wirksamkeit in und nicht neben der Informatik entfalten. Hier liegt das didaktische Pendant des oben beschriebenen Paradigmenwechsels von der Wirkungs- zur Gestaltungsforschung.

Inhalte des Hauptstudiums

Das Bremer Informatik-Hauptstudium ist insgesamt und dann auch im Themenfeld Informatik und Gesellschaft weit weniger strukturiert als das Grundstudium. Die Studierenden wählen aus einer Vielzahl von Veranstaltungen, die sich im wesentlichen folgenden Themengebieten zuordnen lassen (Studienordnung 1993):

Alle Informatikstudierenden müssen im Hauptstudium an einem Projekt teilnehmen. Die oben genannten Themenbereiche sind oft Bestandteil eines solchen Projekts. Dadurch kann dem beschriebenen Prinzip der möglichst weitgehenden Integration von Informatik und Gesellschaft in die Kerninformatik in der Praxis sehr gut Rechnung getragen werden.

4 Die Methodik: Analyse und Handlung, Diskurs und Gestaltung

Oder: Warum Vorlesungen und Referate nicht alles gewesen sein können

Die Lehre zu Informatik und Gesellschaft kann nicht "verordnet werden. Sie steht und fällt - mehr als andere Informatikveranstaltungen - mit der Motivation der Studierenden. Daher ist die methodisch-didaktische Orientierung hier von besonderer Bedeutung. Im Grundsatz orientiert sich die Lehre zu Informatik und Gesellschaft in Bremen an vier Prinzipien:

Die Darstellung der inhaltlichen und didaktischen Konzepte ist leichter als ihre Umsetzung. Nach wie vor besteht das Hauptproblem darin, die Erwartungshaltung der Studierenden für das Thema Informatik und Gesellschaft zu öffnen. Dies gelingt umso besser, je klarer die Wirksamkeit von Informatik und Gesellschaft für das berufliche Handeln deutlich gemacht werden kann.

Literatur

Ansorge, P.; Friedrich, J.; Streibl, R.E.: Gestaltungsfähigkeit als Prinzip der Software-Ergonomie-Lehre in Bremen. In: Ergonomie & Informatik Nr. 22 (Juli 1994), S. 26-32.

Autorenkollektiv: Ethische Leitlinien der Gesellschaft für Informatik. In: Informatik-Spektrum Bd. 16 (1993), S. 238-240.

Friedrich, J. et al.: Empfehlungen zur Einbeziehung der gesellschaftlichen Aspekte der Informatik in das Informatikstudium, in: Informatik Spektrum, (1986) Heft 1 (zusammen mit den Mitgliedern des gleichnamigen GI-Arbeitskreises).

Friedrich, J.: Informatik und Gesellschaft in der Hochschullehre. In: Langenheder, W.; Müller, G.; Schinzel, B. (Hrsg.): Informatik cui bono. Berlin etc. 1992, S. 259-264.

Friedrich, J.; Herrmann, Th.; Peschek, M.; Rolf, A. (Hrsg.): Informatik und Gesellschaft. Heidelberg, Berlin, Oxford 1995.

Friedrich, J.: Berufspraxis, soziale Lage und Bewußtsein von Informatikern und Informatikerinnen. In: Friedrich, J.; Herrmann, Th.; Peschek, M.; Rolf, A. (Hrsg.): Informatik und Gesellschaft. Heidelberg, Berlin, Oxford 1995, S. 339-344.

Friedrich, J.: Design Science 97. In: AI & Society, vol. 10 (1996) no. 2, p. 199-217.

Nora, S.; Minc, A.: Die Informatisierung der Gesellschaft. Frankfurt, New York 1979.

Nygaard, K.: Program development as a social activity. In: Kugler, H.G. (ed.): Information processing 86 - Proceedings of the IFIP 10th World Computer Congress. Amsterdam 1986, pp. 189-198.

Reese, J.; Kubicek, H.; Lange, B.-P.; Lutterbeck, B.; Reese, U.: Gefahren der informationstechnologischen Entwicklung. Frankfurt, New York 1979.

Streibl, R.E.; Friedrich, J.; Ansorge, P.: Das Elektronische Forum - ein Weg zur Verbesserung der Lehre? (The electronic forum - a way towards a better teaching?). In: Chrdle, Petr (ed.): Today's trends in education (Proceedings of the 5th Prague Conference on Educational Cybernetics EDUTECH '94, 23.-25.08.1994). Dobrichovice (Praha) 1995, S. 119-128.

Streibl, R.E.; Friedrich, J.; Paul, M.: Erfahrungsorientiertes Lernen mit dem Offenen Planspiel-Unterstützungssystem OPUS. Bremen 1997 (Universität Bremen, TZI-ISI, Schriften zu Mediengestützten Lernsystemen).

Studienordnung für den Studiengang Informatik der Universität Bremen, 01.10.1993.

Kontakt

Prof. Dr. Jürgen Friedrich
Fachbereich Mathematik/Informatik
Universität Bremen
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