Sammelbesprechung: Elektronische Zahlungssysteme in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung (online)

Schwerpunktthema: Elektronisches Geld und Internet- Zahlungssysteme

Sammelbesprechung: Elektronische Zahlungssysteme in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung

von Ulrich Riehm, ITAS [1]

Geld, was immer es "eigentlich" sein mag, unterlag im Laufe seiner Geschichte einem stetigen Wandel seiner Repräsentationsformen. Heute, im Zeitalter von Mikrochip, Computer und Internet, verlieren diese Repräsentationsformen zunehmend ihre distinkte "Dinglichkeit". Geld wird zu einem technischen System, "verschwindet" vielleicht sogar in den technischen Systemen. So ist es nicht überraschend, daß sich die Techniksoziologie dem Thema "Geld" annimmt. [2] Die herrschende Strömung in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung geht von der sozialen Einbettung der Technik und von ihrer sozialen Gestaltbarkeit aus. So sehen es auch die Autoren der drei Bücher, die hier vorgestellt werden sollen. Trotzdem gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Kleins "Hürdenlauf electronic cash" von 1993 und dem Gemeinschaftswerk von Kubicek und Klein zu den "Wertkarten im Zahlungsverkehr" von 1995 auf der einen Seite und Webers "Soziale Alternativen in Zahlungsnetzen" von 1997 auf der anderen Seite. Weber verficht die These, daß durch demokratische, regionale Milieus und engagierte Persönlichkeiten die Technik frei von negativen Folgen sozial gestaltet werden könnte, gibt so der These von der sozialen Gestaltbarkeit der Technik ein stark voluntaristisches Gepräge. Klein und Kubicek dagegen halten am Primat einer ökonomischen Rationalität fest und schauen in erster Linie auf die strukturellen Faktoren der Technikentwicklung, die sie in den technischen Potentialen selbst, aber auch in den rechtlichen Regelungen, den kulturellen und sozialen Faktoren, sowie den allgemeinen Konkurrenzbedingungen sehen. Diese unterschiedlichen Sichtweisen und Akzentuierungen machen die Lektüre der drei Werke in der Zusammenschau so spannend, jenseits der Tatsache, daß jedes Buch für sich ein aufschlußreiches Kapitel über die Entstehung neuer, elektronischer Geld- und Zahlungssysteme erzählt.

Kleins Hürdenlauf zum electronic cash

In dem ältesten der hier zu behandelnden Bücher schildert Stephan Klein den "Hürdenlauf" zum "electronic cash". Mit "electronic cash" wird das Zahlungssystem der deutschen Kreditwirtschaft bezeichnet, das auf der Euroscheckkarte beruht, und an der Händlerkasse die bargeldlose Zahlung mit direkter Belastung des Kundenkontos erlaubt. Im internationalen Computer-Banken-Jargon nennt sich dies EFT/POS-System - Electronic Fund Transfer am Point of Sales. Diese Zahlungsweise mag heute dem Leser und der Leserin aus Kaufhäusern und Supermärkten vertraut sein. Klein schildert die wechselvolle und konfliktreiche Herausbildung dieses Zahlungsstandards im Detail: von ersten Pilotversuchen bereits in den 70er Jahren und vom ersten Beschluß der deutschen Kreditwirtschaft aus dem Jahr 1981 zur Einführung "bargeldloser Kassen-Systeme" bis zu deren Realisierung in der "electronic-cash-Vereinbarung" von 1990 und den darauf folgenden Implementations- und Diffusionsschritten. Das liest sich teilweise spannend wie ein Krimi.

Eine Besonderheit des deutschen Kreditwesens ist, daß es bisher alle wesentlichen Geldinnovationen brancheneinheitlich eingeführt hat. Eine besondere Regelung im Kartellrecht, das sogenannte Bankenprivileg, ermöglicht dieses, den Wettbewerb im Zahlungsverkehr ausschließende, mindestens stark begrenzende Vorgehen. Der Zentrale Kreditausschuß (ZKA) ist das Branchengremium für diese Art Entscheidungen, in der Terminologie der sozialwissenschaftlichen Technikforschung die "Arena" für technologische Aushandlungsprozesse. Klein weist allerdings darauf hin, daß trotz ZKA die Konkurrenz zwischen den einzelnen Sektoren des Kreditwesens, insbesondere zwischen den Kundenbanken (Sparkassen) und den Händlerbanken (Privatbanken), nicht aufgehoben ist. Diese ökonomisch bedingte Rivalität ist eine Ursache für die Schwierigkeit bei der Etablierung des EFT/POS-Systems der deutschen Kreditwirtschaft. Die Ausbalancierung der unterschiedlichen Interessen kostete Zeit, mehr als zehn Jahre in diesem Fall, und die Macht des ZKA machte es für "Außenseiter" extrem schwer, mit eigenständigen Innovationen anzutreten. So ist das Scheitern des ersten EFT/POS-Systems in Deutschland, eingeführt im Alleingang der Verbraucherbank 1977/78, nicht nur auf technische oder Akzeptanzprobleme zurückzuführen, sondern hing auch mit dem brancheninternen Druck auf die Verbraucherbank zusammen.

Eine zweite Konfliktlinie läuft zwischen der Kreditbranche und dem Einzelhandel. Dem Einzelhandel geht es im wesentlichen um die Kosten, die er für neue Zahlungssysteme zu tragen hat, Kosten für spezielle Kassen und Terminals, für Datenübertragung und Gebühren, die an die Banken abzuführen sind. Im Gegensatz zur Kreditbranche verfügt der Handel nicht über ein dem ZKA vergleichbares Spitzengremium. Seine Vertretungsorgane und Verbände sind zersplitterter und in den Interessen auch keineswegs gleich gerichtet. Klein diagnostiziert im technologischen Entwicklungsprozeß eine "Vertretungslücke" für die Interessen des Handels (noch weitergehend für die Interessen der Verbraucher und Beschäftigten). Gleichwohl war der Handel nicht machtlos: ein unter Führung der großen Kaufhauskonzerne von 1984 bis 1990 organisierter Boykott gegen die Lösungskonzepte des Kreditgewerbes führte zu wesentlichen Änderungen, u.a. in der Gebührenfrage. In dieser Auseinandersetzung wurden vom Handel alternative Lösungskonzepte entwickelt, die im Verbund mit einzelnen Banken teilweise auch realisiert werden konnten, und später dann sogar vom ZKA in modifizierter Form "legalisiert" wurden.

Chip oder Magnetstreifen

Damit kommen wir auf die Systemalternativen. Klein unterscheidet im gesamten zehnjährigen "Geneseprozeß" von 1981 bis 1990 18 Etappen, die mit strategischen Organisations- und Technikalternativen verknüpft waren. So wurde bereits 1985 von Seiten des Handels, beeinflußt durch Entwicklungen in Frankreich, ein chipkartenbasiertes POS-Konzept vorgeschlagen, aber von der Kreditwirtschaft zugunsten der Euroscheckkarte mit Magnetstreifen verworfen. Der damalige Chipkarten-Vorschlag des Handels wurde u.a. mit der Möglichkeit begründet, auf die aufwendige und teure Online-Autorisierung und Online-Übertragung der Zahlungsdaten zu verzichten. Denn beim eigentlichen "electronic cash-Verfahren", das ab 1991 realisiert wurde, wird die Gültigkeit der Karte und die Legitimität des Kartenbesitzers durch Eingabe seiner PIN am Händlerterminal und durch eine unmittelbare "Online-Überprüfung" in einem zentralen Servicerechenzentrum ausgeführt sowie die Zahlungsdaten ebenfalls über einen speziellen Netzbetreiber ins "Bankennetz" übermittelt

Auf diese Online-Komponenten wird im "Lastschriftverfahren" verzichtet, das ursprünglich von Händlerseite eingeführt wurde (als ELV - Elektronisches Lastschriftverfahren) und mittlerweile in einer ZKA-legalisierten Variante existiert (EC-POZ - electronic cash am Point of Sale ohne Zahlungsgarantie). Die Euroscheckkarte wird dabei dazu genutzt, die Kontodaten des Kunden herauszulesen, um dem Kunden dann ein Lastschriftformular zur Unterschrift vorzulegen. Der Vorteil für den Händler ist, daß damit alle Online- und sonstigen Transaktionsgebühren entfallen. Sein Nachteil ist, daß die Banken bei diesem Verfahren keine Zahlungsgarantie, wie beim electronic cash-Verfahren mit PIN, geben.

Im übrigen wurde 1997, zwölf Jahre später, von der Kreditwirtschaft ein chipkartenbasiertes Zahlungsmittel realisiert, das auf Online-Autorisierung und PIN-Eingabe verzichtet: die sogenannte GeldKarte.

Für die Darstellung weiterer technisch-organisatorischer Alternativen ist hier nicht der Platz. Im Ergebnis zeigt sich jedenfalls, daß die Kreditwirtschaft zwar ein einheitliches System "electronic cash" (mit PIN, Online-Autorisierung und Online-Zahlungsdatenübertragung) gegen erheblichen Widerstand und mit einigen Systemanpassungen durchsetzen konnte, aber auch andere Verfahren akzeptieren mußte.

Um das Buch insgesamt noch besser beurteilen zu können, hier noch einige ergänzende Informationen und ein Inhaltsüberblick. Die als Dissertation an der betriebswirtschaftlichen Fakultät der Universität Osnabrück angenommene Monographie entstammt einem Forschungsprojekt zur "Informatisierung der Waren- und Kreditwirtschaft als Verhandlungsprozeß", das von der Forschungsgruppe Telekommunikation an der Universität Bremen (Prof. Kubicek) in den Jahren 1989 bis 1992 durchgeführt wurde. Hauptquelle für die Einsichten in den Prozeß der Entstehung des electronic cash-Systems sind 40 Expertengespräche. Im Text wird auf die Interviews in anonymisierter Form Bezug genommen.

Das mit über 500 Seiten sehr umfangreiche, aber auch materialreiche Buch behandelt in seinem ersten einleitenden Teil die Grundfunktionen eines EFT/POS-Systems und gibt eine lesenswerte theoretische Einordnung in die sozialwissenschaftliche Technikforschung zwischen Technikgeneseansatz und Modellen sozialer Aushandlungsprozesse. Interessant ist die Differenzierung in einen Organisationskultur- und einen Organisationsstruktur-Ansatz. Der erste Ansatz wird in den Kontext der Technikleitbilddiskussion gestellt und für eine "Maschinentechnik" als geeignet angesehen, letzterer eher für die systemischen, vernetzten Techniksysteme. Klein entwickelt seinen eigenen "Bezugsrahmen" entlang der Begriffe Akteur (worunter er sowohl Organisationen als auch Individuen faßt), Kontextfaktor (er unterscheidet rechtliche Regeln, Rationalisierungsdruck, technologische Optionen, Entwicklungen im Ausland, Wettbewerbsfaktoren im Zahlungsverkehr und Produkttraditionen), Interaktionssystem (das durch bestimmte Strategien und Arenen geprägt ist) und Resultate des Entwicklungsprozesses, die typischerweise nicht identisch sind mit den ursprünglichen Entwicklungszielen.

Im zweiten Teil wird sehr präzise das schließlich 1991 ausgehandelte und in den Produktionsbetrieb gehende electronic-cash-System dargestellt, was die technischen Details, aber auch die organisatorischen Schnittstellen und die rechtlichen und ökonomischen Regelungen betrifft. In Teil drei werden nochmals ausführlich die beiden hauptsächlich tangierten Branchen und ihre "Arenen" vorgestellt: die Kreditwirtschaft und der (Einzel-)Handel. Teil vier betrachtet die Kontextfaktoren, u.a. mit Ausführungen zu den Entwicklungen in Frankreich, Belgien und Dänemark und interessanten Hinweisen auf die besonderen Entstehungsbedingungen des Euroscheck-Systems in Deutschland, das auch für das EFT/POS-System einen wesentlichen Bezugsrahmen darstellte. Teil fünf und sechs enthalten die genaue historische, und trotz oder gerade wegen einer gewissen Detailverliebtheit spannend zu lesende Rekonstruktion der Entwicklungsetappen des electronic cash-Systems bis in die Diffusionsphase hinein. Klein schreibt selbst, daß das zeitliche Zusammenfallen der letzten Aushandlungsphase und der ersten Realisierungsschritte mit der Laufzeit des Forschungsprojektes eine überaus glückliche Bedingung war, die die Ergebnisse dieser Studie nach Ansicht des Rezensenten auch heute noch zu einer interessanten Lektüre machen. Im Teil sieben werden einige Vorschläge für einen "partizipativen Aushandlungsprozeß" gemacht, insbesondere was die Einbringung von Verbraucherinteressen betrifft. Der achte Teil schließt mit einem Resümee. Im umfangreichen Anhang finden sich u.a. die wichtigsten Vereinbarungen und Verträge sowie ein Exkurs zur konventionellen und elektronischen Abwicklung bei Kreditkarten-Zahlungen. Über 50 Abbildungen, graphische Übersichten und Tabellen bieten dem Leser einen zusätzlichen Komfort. Nur ein Sachregister wurde schon vermißt.

Kubicek/Klein: Wertkarten - Technik ohne Lobby?

In Kleins Ausführungen zu den Verbraucherinteressen beim kartengestützten Zahlungsverkehr werden als mögliche Alternative zu (personenbezogenen) elektronischen Zahlungsinstrumenten auf Basis einer Scheck- oder Kreditkarte (anonyme) "Wertkarten" in die Diskussion eingebracht. Insbesondere unter Gesichtspunkten des Daten- und Verbraucherschutzes können sie vorteilhaft sein. So ist es nur konsequent, daß die Forschungsgruppe um Herbert Kubicek an der Universität Bremen sich in einem weiteren Forschungsprojekt mit diesem Thema genauer befaßte. Die Ergebnisse des von der VW-Stiftung 1992/1993 geförderten Projektes liegen unter dem Titel "Wertkarten im Zahlungsverkehr" seit 1995 publiziert vor. Die Autoren sind Herbert Kubicek und Stephan Klein.

Im Gegensatz zum electronic cash-Verfahren, das mit oder nach dem Kauf eine Kontobuchung auslöst, werden unter Wertkarten vorausbezahlte Zahlungsinstrumente verstanden, vergleichbar mit Gutscheinen, die beim Kauf einer Ware oder Dienstleistung nur noch eingelöst werden müssen, aber keinen Geldfluß mehr auslösen. Obwohl es auch andere Technologien gibt, denkt man heute bei Wertkarten in erster Linie an Chipkarten. Prominentes und weit verbreitetes Beispiel für eine solche "pre-paid"-Wertkarte ist die Telefonkarte. Die Besonderheit dieses Typs von Wertkarten ist allerdings, daß der Herausgeber der Karte gleichzeitig auch der "Dienstleister" ist. Solche "single purpose"-Wertkarten sind einfacher zu etablieren und zu verwalten als "multi-purpose"-Wertkarten, bei denen mehrere Dienstleister für unterschiedliche Dienstleistungen über die Wertkarte entgolten werden. Beispiele für letztere sind die oben bereits erwähnte ZKA-GeldKarte, die als universell einsetzbare elektronische Geldbörse für Beträge bis zu 400 DM konzipiert ist, oder auch die PayCard (oder T-Card) der Deutschen Telekom, die sowohl für das Telefonieren als auch den Bezug von Bahn- und Nahverkehrstickets am Automaten und für andere "verkehrsnahe" Dienstleistungen gedacht ist. Während der Laufzeit des "Wertkarten-Projektes" gab es die letzten beiden Wertkarten-Varianten noch nicht. Anwendungen von Wertkarten, abgesehen von der Telefonkarte, beschränkten sich in Deutschland auf kleine Einsatzgebiete und Pilotversuche. Kubicek und Klein diagnostizieren eine neue Zahlungstechnik ohne echte Lobby - mit Ausnahme der Technikhersteller (S. 22). Insbesondere die Kreditwirtschaft setzte in erster Linie auf Debit- und Kreditkarten und nicht auf vorausbezahlte Wertkarten. Kubicek und Klein sehen dagegen in den Wertkarten, sofern sie anonym geführt werden, besondere Vorteile aus Sicht des Daten- und Verbraucherschutzes. Eine Verengung in der Wahl der Zahlungsmittel auf nur noch buchungsorientierte, nicht-anonyme Zahlungsverfahren sollte verhindert werden, so ihr Plädoyer. Es geht also um die Verbreitungschancen von Wertkarten im allgemeinen und ihre konkreten Ausprägungen im besonderen. Dabei interessiert speziell die Frage, ob es einen zwangsläufigen Technologiepfad von den Zweiparteien- zu den Mehrparteien- und von den Monoservice- zu den Multiservice-Karten-Systemen gibt. Für letztere wird ein Organisationsproblem diagnostiziert, das möglicherweise schwer zu lösen sein wird. Diesen Fragestellungen wird im Buch auf unterschiedlichen Ebenen nachgegangen: da gibt es Fallstudien über Wertkartensysteme, die Analyse potentieller Dienstleister und Herausgeber für Wertkarten und schließlich die Entwicklung von Szenarien, die in einem Experten-Workshop diskutiert und zu einer Prognose verdichtet wurden.

Fünf Fallstudien wurden im Rahmen des Projektes durchgeführt: Die erste Fallstudie behandelt den Einsatz von Wertkarten bei der Verkehrsgemeinschaft Kempten, die seit 1992 in den Bussen von fünf Nahverkehrsunternehmen ein Chipkartensystem eingeführt hatte. In der zweiten Fallstudie geht es um ein vom Forschungsministerium gefördertes Modell, bei den Kieler Verkehrsbetrieben die Telekom-Telefonkarten auch für das Bezahlen in den Bussen einzusetzen. Dieses Konzept ist sowohl an den zu hohen Kosten als auch am heftigen Widerstand der Kreditwirtschaft gescheitert. Auch bei der dritten Fallstudie ist das Anwendungsfeld zunächst der Nahverkehr. Seit Mai 1993 wurde von den Berliner Verkehrsbetrieben eine "Elektronische Geldbörse" eingeführt, mit dem Ziel, diese Karte zu einer umfassend einsetzbaren "BerlinCard" weiterzuentwickeln. Die Fallstudien vier und fünf führen ins benachbarte Ausland: Einmal in die Schweiz nach Biel, wo die PTT bereits 1991 einen Pilotversuch für eine "Integrierte PTT Zahlkarte" startete, die zu einer landesweiten elektronischen Geldbörse weiterentwickelt werden soll. Schließlich handelt es sich beim Danmont-System in Dänemark um das weltweit erste offene Drei-Parteien-Multiservice-Wertkartensystem. Es begann 1992 in Naestved und wurde seit 1993 auf ganz Dänemark ausgedehnt. Im Ergebnis der Fallstudien zeigen sich recht unterschiedliche Systemarchitekturen, die eine "ideale" Lösung schält sich nicht heraus. Als neue Rolle im Zahlungsgeschäft gibt es den Herausgeber der Wertkarten. Wer diese Aufgabe übernehmen sollte, ist noch ungeklärt (jedenfalls zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buches, während seit 1998 mit der 6. Novelle zum Kreditwesengesetz Wertkartenherausgeber nur eine Bank sein kann, soweit es sich nicht nur um "single-purpose"-Karten handelt). Kubicek und Klein sind aufgrund der Analyse der Fallstudien, die in der Regel auch Nutzerbefragungen einschlossen, skeptisch, ob die Multifunktionskarte auf jeden Fall die zu präferierende Variante sein muß. Einfache Handhabung und größere Transparenz sowie deutlich geringere Organisationsanforderungen lassen Einfunktionskarten weiterhin attraktiv erscheinen.

Organisationslücke für die Mehrfunktionskarten

Im dritten Teil des Buches wird ein theoretischer Bezugsrahmen entwickelt. Zunächst geht es um ein Phasenmodell der Technikentwicklung. In der ersten Explorationsphase werden vielfältige Systemvarianten generiert und getestet, in der Phase der "Mainstream-Definition" die meisten davon wieder ausgeschieden und nur wenige in die Diffusionsphase übernommen. Doch auch mit der Praxiseinführung ist die Entwicklung nicht abgeschlossen. So kann es in einer vierten Phase, "Reaktion" genannt, zu weiteren Modifikationen kommen. Kubicek und Klein verknüpfen dieses Phasenmodell mit bestimmten Kontextfaktoren. Ihre These ist dabei, daß in den ersten beiden Phasen die technischen Faktoren dominieren, aber auch andere "nicht-ökonomische" Einflüsse, wie Erfahrungen aus dem Ausland, von einiger Bedeutung sind. Im Übergang von der Phase zwei zur Phase drei werden dann die ökonomischen Faktoren immer wichtiger und dominieren weitgehend die Diffusionsphase. Daneben sind es rechtliche Regeln und sozio-kulturelle Faktoren, die die Technikgenese beeinflussen. Weiter wird die These von der "Organisationslücke" bei branchenübergreifenden Technikanwendungen, wie es eine Multiservicekarte wäre, entwickelt. Die Bewältigung der vertikalen und horizontalen Koordinationsprobleme allein über den Markt wird skeptisch beurteilt. Alternative Steuerungsformen, die nach allen Erfahrungen auf längere Dauer angelegt sein müssen, sind nicht einfach zu etablieren. Schließlich werden aus diesen mehr theoretisch inspirierten Überlegungen drei Leitfragen formuliert: Welche Akteure kommen für die Übernahme der unterschiedlichen Rollen im Wertkartensystem in Frage? Welche Verhandlungsarenen gibt es für die Ausgestaltung der Systeme und die Übernahme der Rollen? Welche Kontextfaktoren können zu Initialzündungen für die Entwicklung und Einführung von Wertkartensystemen führen?

In den Kapiteln vier und fünf wird der ersten Frage nachgegangen. In einer Art Branchenreport werden 17 potentielle Dienstleister für Wertkartensysteme dargestellt. Dazu zählen u.a. Telekommunikationsdienstleister, der Personennahverkehr, Kinos, Automatenaufsteller, Parkhäuser, Pay-TV-Betreiber, Anbieter von gebührenpflichtigen Straßen, der Lebensmitteleinzelhandel und kommunale Dienstleister. Als potentielle Herausgeber von Wertkarten werden sieben Branchen bzw. Unternehmen analysiert: die Kreditwirtschaft, Kreditkartenorganisationen, Mobilfunkanbieter, die Deutsche Telekom, die Deutsche Bahn, die Deutsche Lufthansa und die Metro Handelsgruppe. Diese Darstellungen, die einem strengen Variablenraster folgen, sind teilweise etwas mechanisch und daher ermüdend, in einzelnen Aspekten aber nicht uninteressant.

In Kapitel sechs wird der Frage nach den Arenen der Aushandlung für Wertkartensysteme nachgegangen. Dabei wird zunächst auf die Normungsgremien verwiesen und ein Tableau der Normungaktivitäten im Wertkartenbereich auf internationaler wie nationaler Ebene ausgebreitet. Im Prinzip wird davon ausgegangen, daß die technischen Normungsfragen weitgehend gelöst seien, das Koordinationsproblem auf der Anwendungsebene aber bleibe. So wird im weiteren der Frage nachgegangen, wo (in welcher "Arena") diese "Organisationslücke im Anwendungsbereich" geschlossen werden könnte. Eine Durchmusterung der Wirtschaftsverbände führt zu keinem eindeutig positiven Ergebnis. Entweder sind die Interessen für die Übernahme einer solchen Aufgabe nur schwach oder die Kompetenzen und Ressourcen zu gering. Da als eine erfolgversprechende Variante regionale Wertkartensysteme angesehen werden, wird auch die Politik, insbesondere die Kommunalpolitik, in die Analyse mit einbezogen. Auch hier ist, was die Übernahme einer aktiven Koordinationsaufgabe angeht, das Ergebnis eher negativ. Schließlich wird, mit Blick auf Daten- und Verbraucherschutzaspekte, nach Arenen für die Interessenvertretung der Nutzer von Wertkarten gefragt, solche aber praktisch nicht gefunden. Es werden acht Verbraucherforderungen für Wertkartensysteme aufgestellt:

  1. Zugänglichkeit: Karten müssen für alle leicht erhältlich sein.
  2. Handhabbarkeit: Karten müssen robust und praktisch sein.
  3. Durchschaubarkeit: Karten müssen verstehbar sein.
  4. Sicherheit: Karten müssen sicher sein.
  5. Budgetkontrolle: Karten dürfen nicht zu ungewollter Verschuldung führen.
  6. Datenschutz: Karten müssen anonym sein.
  7. Umweltfreundlichkeit: Karten müssen umweltfreundlich sein.
  8. Kosten-/Nutzenverteilung: Durch Karten darf nichts teurer werden.

Systemvarianten elektronischer Geldbörsen

In einer Diskussion von sechs Wertkarten-Systemvarianten wird auf die konkrete Form der Aufladung und Entwertung abgehoben. In bezug auf die Aufladung werden drei Varianten unterschieden: die Aufladung/Kauf einer Wertkarte per Bargeld, die Aufladung/Kauf über eine andere z.B. Euroscheck- oder Kreditkarte, die Aufladung zu Lasten einer in der Geldbörse eingespeicherten Kontoverbindung. In bezug auf die Entwertung sind zwei Varianten von Bedeutung: die Akkumulation der Werteinheiten im Terminal, so daß Einzeltransaktionen nicht mehr nachvollzogen werden können, und die Übertragung der Daten jeder einzelnen Transaktionen zum Börsenherausgeber. Unter Daten- und Verbraucherschutzgesichtspunkten werden als besonders problematisch diejenigen Varianten angesehen, bei denen die Aufladung der Wertkarte über ein Konto erfolgt und bei denen bei der Entwertung die Transaktionsdaten an den Börsenherausgeber weitergeleitet werden. Nicht problematisch sind in den Augen von Kubicek und Klein alle Varianten, bei denen die Einzeltransaktionen im Händlerterminal akkumuliert werden und bei denen die Aufladung (anonym) per Bargeld erfolgt. Gleichwohl gehen die Autoren davon aus, daß die wahrscheinlichere Variante (wegen der von der Kreditwirtschaft in den Vordergrund gerückten Sicherheitsinteressen) die nicht-anonyme kontobezogene Aufladung ist. Damit verliert die Wertkarte aber ihr spezifisches Profil gegenüber den bereits etablierten elektronischen Zahlungsmitteln Debit- und Kreditkarten. In diesem Zusammenhang wird den Verbreitungschancen von "single purpose"-Karten vom Typ Telefonkarte nochmals das Wort geredet, da solche Karten viel eher anonym konzipiert werden können und das Sicherheitsrisiko für den Herausgeber und das Verlustrisiko für den Kartennutzer kalkulierbarer ist.

Da die Suche nach potentiellen Dienstleistern, Kartenherausgebern und Verhandlungsarenen zunächst nicht zu einem überzeugenden Entwicklungspfad geführt hat, wird nun nach Faktoren für eine "Initialzündung" gesucht, die eine solche Entwicklung in Gang bringen könnten. Der Suchraum für diese Initialzündungen wird definiert durch die Kontextfaktoren Technik, ökonomische Faktoren, rechtliche Regeln, soziale und kulturelle Faktoren sowie die "anderen". Hierzu werden sieben Szenarien entwickelt, die je ein "Ereignis" im Bereich eines Kontextfaktors zum Ausgangspunkt nehmen. So geht man beispielsweise in einem Szenario davon aus, daß die Bundesbank selbst Wertkarten herausgeben wird. In einem anderen Szenario setzen sich Wertkarten als kostengünstige Alternative gegenüber Debitkarten durch. In einem weiteren Szenario spielen die Faktoren Anonymität und Datenschutz eine besondere Rolle. Diese Szenarien waren Input für einen im November 1993 durchgeführten Workshop mit über 50 Praktikern und am Thema Interessierten aus den verschiedensten Bereichen. Etwas fragwürdig kommt einem die Abstimmung vor, die mit den Teilnehmern des Workshops durchgeführt wurde. Welche Schlüsse sollen daraus gezogen werden, daß 64,1 Prozent der Teilnehmer den drei ökonomisch begründeten Szenarien zugestimmt hatten. Da scheint dann doch, bei der relativ zufälligen Zusammensetzung des Workshops und einer nicht systematisch begründeten "Konstruktionsregel" für die sieben Szenarien, die Quantifizierung empirischer Ergebnisse zu weit getrieben.

Daß sich die beiden Autoren dann auch noch zu einer konkreten Prognose über die Verbreitungschancen von Wertkarten bis zum Jahr 2005 hinreißen lassen, ist zwar einerseits ganz spannend, andererseits nicht gut mit ihrem "Gestaltungsansatz" zu vereinbaren. Die "Prognose" ist jedoch so formuliert, daß man damit kaum falsch liegen kann: Im Jahr 2005 werde man auch am Kiosk noch mit Bargeld zahlen, während an Automaten auch Kartenzahlungen akzeptiert werden. Die Kreditwirtschaft werde bis zum Jahr 2000 mit einer eigenen (oder mehreren) Wertkarten herauskommen, in der Gewinnung von Dienstleistern als Akzeptanzstellen aber einige Schwierigkeiten zu überwinden haben. Bereichsspezifische Karten werden weiterhin angeboten und neue dazukommen, so für den Telekommunikationsbereich und den Nahverkehrsbereich sowie, bei einer entsprechenden Einführung der Systeme, für das Pay-TV und für die Begleichung von Straßennutzungsgebühren (Maut).

Aus heutiger Sicht muß man vermuten, daß die Schnelligkeit und Massivität, mit der seit 1997, also zwei Jahre nach Abschluß des Buches, die "GeldKarte" von der deutschen Kreditwirtschaft als die universell einsetzbare elektronische Geldbörse in den Markt gebracht wurde, so nicht erwartet wurde, obwohl auch Kubicek und Klein klar war, daß die Kreditwirtschaft eine wesentliche Rolle spielen und entsprechende Aktivitäten starten wird. Mit der Ausgangsthese von der Zahlungstechnik ohne Lobby läßt sich diese Entwicklung allerdings nicht mehr ohne weiteres vereinbaren. Mit der GeldKarte wurde genau die Variante eingeführt, die unter Verbraucher- und Datenschutzgesichtspunkten als besonders problematisch erschien. Da die Verbraucher nicht gefragt werden, ob sie die Geldbörse haben wollen, sondern sie "automatisch" mit der neuen Euroscheckkarte erhalten, stellt sich die Frage der Akzeptanz erst in zweiter Instanz durch ihre Nutzung. Allerdings wird zusätzlich (und manchmal, wie es scheint, nur unter dem Ladentisch) eine anonyme Karte angeboten, die sogenannte WhiteCard, womit vermutlich, und das wäre mit den Kubicek/Kleinschen Ergebnissen kompatibel, nicht die letzte Modifikation und Differenzierung des Wertkartensystems GeldKarte in der "Reaktions-Phase" erfolgt ist. Über die Interpretation des "Vorpreschens" der Kreditwirtschaft wäre trefflich zu streiten. Eine plausible These ist, von strategischen und technologieorientierten Entscheidungen auszugehen, bei denen die vorhandenen Binnenkonflikte innerhalb der Kreditwirtschaft (wieder einmal) gegenüber einer potentiellen Außenkonkurrenz durch neue Akteure zurückgestellt wurden - übrigens zeitgleich und gut koordiniert mit der Politik, da nach der im Sommer 1997 verabschiedeten 6. Novelle zum KWG seit dem 1.1.1998 das "Geldkartengeschäft" unter die Bankgeschäfte fällt und nur noch von Banken ausgeführt werden darf.

Zwei Argumente, die heute für die Wert- oder Geldkarten stark gemacht werden, spielten Anfang/Mitte der 90er noch gar keine Rolle, jedenfalls wenn man den Ausführungen von Kubicek/Klein folgt: die Einführung des Euro und die Kommerzialisierung des Internet. Beide Ereignisse werden heute oft als "Initialzündung", mindestens als positive Rahmenbedingungen für elektronische Geldbörsen genannt. Wie schnellebig solche Faktoren aber auch wieder sind, zeigen die noch vor drei, vier Jahren sehr präsenten Diskussionen um Pay-TV und individuell abrechenbare Straßennutzungsgebühren, die momentan kaum mehr eine Bedeutung haben.

Im Vergleich zum "Hürdenlauf"-Buch von Klein ist das "Wertkarten-Buch" von Kubicek/Klein deutlich spröder und zerfaserter. Das liegt in erster Linie an den Entwicklungen im Untersuchungsfeld selbst. Klein konnte das Glück der Stunde nutzen und die gesamte Entwicklungsgeschichte von electronic cash bis in die erste Diffusionsphase hinein analysieren, während im Wertkartenbereich dieser Durchbruch 1995 noch nicht vollzogen war. Gleichwohl ist das "Wertkarten-Buch" auch heute noch für die Geldkartendiskussion eine wertvolle Quelle als Darstellung der "Vorgeschichte" und für einige grundlegende Einsichten in die besonderen Probleme der Etablierung branchenübergreifender, "systemischer" Techniken.

Webers soziale Alternativen in Zahlungsnetzen

Mit dem 1997 im Manuskript abgeschlossenen und erschienen Buch "Soziale Alternativen in Zahlungsnetzen" von Arnd Weber (1995 als Dissertation an der Universität Frankfurt eingereicht) wird der Kreis zum Kleinschen "electronic cash" wieder geschlossen, aber auch eine neue Variante elektronischer Zahlungssysteme aufgetan. Denn in den beiden Fallstudien bei Weber geht es einerseits um die Entwicklung und Etablierung des mit dem deutschen "electronic cash" vergleichbaren Zahlungssystem der Migros in der Schweiz, und andererseits um das sogenannte "Public Key-Konzept" in Amerika, das als Verschlüsselungstechnik eine zentrale Bedeutung in der aktuellen Diskussion um "originär" elektronisches Geld im Internet, um sogenanntes Netzgeld, einnimmt.

Weber nimmt in seinem Einleitungskapitel zunächst Bezug auf die Technikgeneseforschung und die Diskussion um Technology Assessment. Die antizipierbaren negativen Folgen neuer Technologien sollten bereits im Technikgeneseprozeß vermieden werden. Dazu bedürfte es kultureller und regionaler Milieus und Persönlichkeiten mit sozialen Motivationen, die solche Entwicklungen gegen die (vermeintlichen) ökonomischen Imperative durchsetzen können. Damit wird von Weber die These von der "Technik als sozialer Konstruktion" sehr weit getrieben. So weit würden Kubicek und Klein nicht gehen, da sie, spätestens ab der "Mainstream"- und Diffusions-Phase, von einer Dominanz ökonomischer Faktoren ausgehen. Weber kann seine These mit seinen beiden Fallstudien sowie dem interessanten Kapitel zu den unterschiedlichen Zahlungskulturen in den Ländern USA, Deutschland, Dänemark, Frankreich und Japan überzeugend illustrieren. Einen wirklichen Beleg liefert er allerdings nicht. Dazu fehlt eine kritische Diskussion der These und eine Diskussion über den Status seines empirischen Materials, die nicht nur zeigen müßte, daß es "sozial-orientierte" technologische Varianten gibt - was Weber macht -, sondern auch, daß sie sich auf Dauer gegen "ökonomische Imperative" halten können und unter welchen Bedingungen dies gelingen könnte - was Weber nicht macht. Das ist zwar schade, ändert aber nichts daran, daß die aufgearbeiteten Materialien von großem Interesse sind.

Da gibt es zunächst das Kapitel über die unterschiedlichen nationalen Zahlungskulturen als "Ergebnis sozialer Prozesse". (Weber spricht auch in diesem Zusammenhang etwas überraschend und ohne weitere begriffliche Klärung von "Zahlungsnetzen".) In den USA haben sich die Kreditkarten sehr früh entwickelt, interessanterweise ausgehend vom Handel, während sich die Banken aufgrund besonderer Bedingungen (u.a. kein Einwohnermeldewesen) mit der Kreditvergabe an Privatkunden schwer taten. In Deutschland und der Schweiz hat sich dagegen ein gut ausgebautes Girokonto- und Überweisungssystem etabliert, das mit der starken Stellung eines öffentlich beeinflußten Bankensektors (Sparkassen und Post) zusammenhängt. Am Beispiel Dänemark zeigt Weber, wie der gemeinsame Widerstand von Handel und Verbrauchern die Einführung einer elektronischen Zahlungskarte der dänischen Sparkassen und Banken Mitte der 80er Jahre verhindern konnte, und dieser Protest schließlich zu einem "Kartengesetz" führte, das spezielle Kartengebühren und eine persönliche Identifikationsnummer auf der Karte untersagte. Außergewöhnlich ist die weite Verbreitung von Wertkarten in Japan bereits in den achtziger Jahren. Weber führt dies auf eine besondere Kultur des Schenkens von Geld bzw. von Geldgutscheinen zurück. Diese Tradition führte bereits 1932 in Japan zu einem Gesetz über den Umgang mit Gutscheinen, das aufgrund der neueren Entwicklungen hin zu Wertkarten 1990 durch ein Gesetz zur "Regulierung vorausbezahlter Dokumente" ersetzt wurde.

Die Entwicklung der M-Card in der Schweiz

In Webers erster Fallstudie geht es um die Entwicklung eines EFT/POS-Systems durch die schweizer Migros Handelsgesellschaft ab Mitte der achtziger Jahre. Erste Testimplementationen wurden ab 1987 durchgeführt, ab 1991 wurde die sogenannte M-Card auf breiter Front eingeführt. Weber schildert die vom Gründer der Migros, Gottlieb Duttweiler, herrührende besondere Unternehmenstradition: Rationalisierung des Handels und des Zahlungsverkehrs zugunsten des Endkonsumenten; keine Vergabe von Kundenkrediten (kein "Anschreiben"); Qualitätsbewußtsein; Profitmaximierung ist nicht der dominierende Geschäftszweck; alle Gewinne verbleiben in der Genossenschaft und werden reinvestiert. Weber betont über diese besondere Handelskultur hinaus den allgemeinen schweizerischen Rahmen, in dem dieser sich entfalten konnte: die demokratische Tradition der Schweiz, der calvinistische Ethos, aber auch die hohe Leistungsfähigkeit im Technologiebereich. Auslöser für die Aktivitäten der Migros waren die Pläne der schweizerischen Banken und der Post, eigene EFT/POS-Systeme zu entwickeln. Mit einer Eigenentwicklung wollte man die Bedingungen, unter denen dies stattfindet, mitbeeinflussen und mit den eigenen Interessen in Einklang bringen. So war aus der Unternehmenstradition klar, daß eine Kreditkarte nicht in Frage kommen konnte (wegen des Kreditverbots), sondern nur eine Debitkarte, eine Karte also, bei der der Zahlbetrag direkt oder zeitnah von einem Kontoguthaben abgebucht wird. Das eigene System sollte allerdings offen sein für andere Debitkarten, wie die Postcard und die Euroscheckkarte. Man dachte dabei einerseits an die Wahlmöglichkeit der Kunden, die nicht zur Nutzung einer bestimmten Karte gezwungen werden sollten, andererseits wollte man bewußt die Konkurrenz der Karten fördern.

Die Kundeninteressen spielten im gesamten Entwicklungsprozeß eine große Rolle, obwohl es eine formelle Beteiligung von Kunden oder Verbraucherverbänden nicht gab. In dieser Frage grenzt Weber sich von Kubicek und Klein ab, wenn er betont, daß im Technologieentwicklungsprozeß auch dann eine Kunden- oder Nutzerorientierung vorliegen kann, wenn diese nicht formell beteiligt sind, und wenn es für die Formulierung ihrer Interessen keine ausdrückliche "Arena" gibt. Ausdruck dieser Kundenorientierung sind z.B. die in den Migrosläden installierten gesonderten Terminals für die Kontostandsabfrage, damit der Kunde sich davor schützen kann, daß beim Bezahlen an der Kasse das eigene Konto nicht die notwendige Deckung aufweist. Kundenfreundlich ist die Möglichkeit, an den Migros-Kassen mit der "M-Card" Bargeld zu beziehen. Auch die Verwendung der bei einem solchen System unweigerlich anfallenden personen- bzw. kontobezogenen Daten für andere als Zahlungszwecke wurde von der Migros ausdrücklich abgelehnt.

Alle diese Forderungen zu verwirklichen, war weder einfach noch billig. So konnte für die Migros ein direkter ökonomischer Vorteil durch die Einführung der M-Card bei der Zahlungsabwicklung nicht erreicht werden. Dies war aber auch nicht das erste Ziel. Weber weist darauf hin, daß sich die Migros aufgrund ihrer wirtschaftlichen Potenz ein solches, relativ teures System "leisten" konnte. Positiv ist zu vermerken, daß das Migros-System eine solche Ausstrahlung besaß, daß die anderen EFT/POS-Systeme in der Schweiz (Postcard und ec-Karte) einzelne Funktionen der M-Card mit aufnehmen mußten.

Bemerkenswert ist, was Weber über die Nutzung der M-Card in den Filialen der Migros 1996 bei insgesamt ca. 3.000 "Cardomat-Terminals" berichtet, aber nicht weiter kommentiert. Von den insgesamt 1,2 Mrd. Franken, die über diese Terminals abgewickelt wurden, entfallen nur 7 Prozent auf die M-Card, 24 Prozent auf die Postcard und 59 Prozent auf die ec-Karte; und vielleicht noch bemerkenswerter, 52 Prozent des Wertes der mit der M-Card abgewickelten Transaktionen bezieht sich auf den Bargeldbezug. So wurde quasi unter der Hand aus einem EFT/POS-System (mit dem Ziel des Bargeldersatzes) eine Bargeldbezugsquelle.

Im Mittelpunkt der zweiten Fallstudie steht die Rekonstruktion der Entstehung eines kryptografischen Verfahrens, das sogenannte "Public-Key-Konzept", durch Diffie und Merkle aus dem Geiste eines liberalen, linken Milieus und der alternativen Computerszene in den USA. Ohne hier auf die Details eingehen zu wollen, wurde mit diesem Verfahren das Problem gelöst, daß viele Teilnehmer an einem kryptografischen System beteiligt sein können, ohne daß es einen einzigen zentralen Schlüssel geben muß, bei dessen Kompromitierung die gesamte Information des Systems aufgedeckt wäre. Das Public-Key-Konzept wurde für die Schaffung von "elektronischem Geld" bald als geeignet angesehen, mit der besonderen Eigenschaft, daß die Geldtransaktionen nicht nachvollziehbar sind, wie dies bei allen kontobezogenen elektronischen Zahlungssystemen sonst der Fall ist. Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Fallstudie waren solche Systeme, wie das "ecash-System" von David Chaum, erst im Konzept- bzw. Test-Stadium vorhanden. Unabhängig von der Bewertung ihrer "guten" Eigenschaften wird man aus heutiger Sicht mit einiger Skepsis auf die Erfolgschancen dieser Systeme blicken. Gegen die Macht der etablierten Institutionen im Kreditwesen mögen die "alternativen" Milieus letztlich zu schwach erscheinen, um innovatives, anonymes Netzgeld durchsetzen zu können.

Anmerkung

[1] Die Sammelbesprechung entstand im Rahmen des Projekts Elektronische Zahlungssysteme im Internet (PEZ), an dem der Autor zusammen mit Knud Böhle beteiligt ist, und das die neuste Welle technischer Geldinnovationen behandelt. Im Rahmen von PEZ gibt es eine elektronische Diskussionsliste (EZI-L) und einen elektronischen Newsletter (EZI-N). Näheres dazu findet sich unter http://www.itas.fzk.de/deu/projekt/pez.htm .

[2] Wer sich jenseits der sozialwissenschaftlichen Diskusson mehr mit den technischen Aspekten elektronischen Geldes und elektronischer Zahlungssysteme beschäftigen will, kann auf eine Fülle von Buchveröffentlichungen zurückgreifen. Sechs dieser Bücher aus dem Jahr 1997 wurden in einer Sammelbesprechung in den VDI-Nachrichten Nr. 8, 20.2.1998, S. 32 vergleichend dargestellt und bewertet (siehe eine Langfassung dieser Rezension unter http://www.itas.fzk.de/deu/PROJEKT/Pez/vdinrrez.htm ).

Bibliographische Angaben

Stephan Klein: Hürdenlauf electronic cash. Die Entstehung eines elektronischen kartengestützten Zahlungssystems als sozialer Prozeß. Mölln: Steinau 1997, ISBN 3893941053, 507 Seiten, 148 DM, (zuerst a la Card-Verlag 1993)

Herbert Kubciek, Stephan Klein: Wertkarten im Zahlungsverkehr. Trends und Perspektiven auf dem Weg zur elektronischen Geldbörse. Wiesbaden: Gabler 1995, ISBN 3409140735, 311 Seiten, 98 DM

Arnd Weber: Soziale Alternativen in Zahlungsnetzen. Frankfurt am Main, New York: Campus 1997, ISBN 3593357208, 224 Seiten, 54 DM

Kontakt

Ulrich Riehm
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
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