Visionen von In-vitro-Fleisch. In-vitro-Fleisch als nachhaltige Lösung für die Probleme des Fleischkonsums?

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Visionen von In-vitro-Fleisch

In-vitro-Fleisch als nachhaltige Lösung für die Probleme des Fleischkonsums?

von Inge Böhm, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruhe

In-vitro-Fleisch wird von seinen Innovatoren als eine nachhaltige Lösung für die erheblichen Probleme, die mit der Produktion und dem Konsum von Fleisch einhergehen, präsentiert. In dem Projekt „Visionen von In-vitro-Fleisch (VIF) – Analyse der technischen und gesamtgesellschaftlichen Aspekte und Visionen von In-vitro-Fleisch“[1] möchten wir untersuchen, welche Vorstellungen einer zukünftigen Ernährung die gegenwärtige Forschung an und Entwicklung von In-vitro-Fleisch prägen. Da es sich um eine Innovation in der frühen Phase des Innovationsprozesses handelt, bleiben viele Fragen offen. Sie betreffen neben naturwissenschaftlichen und technischen Herausforderungen auch ethische, kulturelle, soziale und politische Aspekte, die wir im Rahmen des Projekts näher beleuchten wollen.

1     Was ist In-vitro-Fleisch?

Die heutige und zukünftige Ernährung steht vor neuen Herausforderungen. Mit zunehmender wissenschaftlicher Evidenz zeigt sich, dass die Nutztierhaltung in ihrer heutigen Form nicht nachhaltig gestaltet werden kann (u. a. FAO 2014; Steinfeld et al. 2006; UNEP 2010; Westhoek et al. 2014). Neben erheblichen negativen Auswirkungen auf die Umwelt durch Treibhausgas- und Schadstoffemissionen sowie den hohen Verbrauch von Land, Wasser und Energie bestehen Gefahren für die menschliche Gesundheit und das Wohl der Tiere. Zudem verschärfen die ineffiziente Umwandlung von Nahrungskalorien sowie der immense Bedarf an Futtermitteln den Welthunger. Alternativen zur herkömmlichen Fleischproduktion und zum Fleischkonsum sind also dringend notwendig.

Die Alternativen reichen von anderen tierischen Proteinquellen (z. B. Insekten, Algen) über die Optimierung von pflanzlichen Fleischersatzprodukten (z. B. Tofu, Seitan, etc.) bis hin zu sozialen oder persönlichen Reformen, wie z. B. die Reduktion oder der Verzicht von Fleischkonsum. In-vitro-Fleisch stellt eine mögliche technische Alternative dar. Aus der Sicht von Mark Post, dem „Vater“ des ersten In-vitro-Burgers, ist es unwahrscheinlich, dass sich der Verzehr von Insekten oder der Verzicht auf Fleisch in weiten Teilen der Bevölkerung durchsetzen wird (Post 2014). In-vitro-Fleisch sei aber, so die Innovatoren, eine realistische Lösung des Problems einer nachhaltigen Ernährung.

In-vitro-Fleisch besteht aus tierischen Muskelstammzellen, die durch eine Muskelbiopsie gewonnen werden. Die Zellen werden in einem Nährmedium in einem Bioreaktor kultiviert, vermehren sich und bilden kleine Muskelfasern aus. Ca. 20.000 dieser kleinen Fasern wurden benötigt, um den ersten In-vitro-Burger aus Rinderstammzellen zu formen. Dieser Burger wurde von Mark Post und Kollegen an der Universität Maastricht hergestellt und im August 2013 auf einer Pressekonferenz präsentiert. Im Januar 2016 stellte das US-amerikanische Start-up-Unternehmen Memphis Meats ein In-vitro-Fleischbällchen vor, das nach eigenen Angaben bereits in drei bis vier Jahren auf den Markt kommen könnte (Bunge 2016).

Doch die Produktion von In-vitro-Fleisch im großen Maßstab steht noch vor einigen Herausforderungen. Neben wissenschaftlichen und technischen Hürden (v. a. die Skalierung des Herstellungsprozesses) bleiben die tatsächlichen ökologischen Vorteile unklar. So legen verschiedene antizipatorische Lebenszyklusanalysen zwar einen geringeren Verbrauch von Wasser und Land gegenüber der Produktion von Rinder- und Schweinefleisch nahe, stellen jedoch einen erhöhten Energiebedarf fest (Mattick et al. 2015; Tuomisto et al. 2014). Ethische, kulturelle, soziale und politische Aspekte, wie beispielsweise die gesellschaftlichen Bedingungen der Akzeptanz von In-vitro-Fleisch, langfristige Auswirkungen auf Landwirtschaft und Ernährung sowie das Verhältnis von Mensch und Tier bleiben in der Diskussion um In-vitro-Fleisch weitgehend unbeachtet.

2     Ziele des Projekts

In-vitro-Fleisch ist eine neue und emergierende Technologie in einer sehr frühen Phase des Innovationsprozesses. Sie hat das Potenzial, große Veränderungen in unserer Ernährung und unseren Essgewohnheiten herbeizuführen. Den mit In-vitro-Fleisch einhergehenden Leitbildern und Visionen kommt daher eine hohe Bedeutung für die Forschungspolitik im Engeren und die „Technology Governance“ im Weiteren zu. Die Angemessenheit und Robustheit dieser Vision sind jedoch im Sinne der Politik eines innovativen Deutschlands zu überprüfen. Das vom BMBF geförderte Projekt „VIF – Visionen von In-vitro-Fleisch“ zielt darauf ab, Wissen zu generieren, um die Relevanz dieser Innovation für eine nachhaltige Landwirtschaft und somit eine gerechte Gesellschaft abzuschätzen.

Das zentrale Ziel dieses Projekts besteht darin, die naturwissenschaftlichen und technischen sowie die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Aspekte der Leitbilder und Visionen der heutigen In-vitro-Fleisch-Forschung zu analysieren. Dazu gehört auch eine Untersuchung mittels partizipativer Verfahren der Akzeptabilität dieser Innovation, die Hinweise für die Forschungspolitik und Governance liefern kann.

3     Aufgaben und Herausforderungen

Die Ergebnisse einer ersten Analyse der Fachliteratur zum Thema In-vitro-Fleisch wurden für die Projekthomepage (http://www.invitrofleisch.info) aufbereitet. Die Homepage soll ein deutsches Fachportal für relevante Informationen und Publikationen über In-vitro-Fleisch sein. Sie soll einen kritischen Ort für Information und Reflexion schaffen. Für die Homepage wurde auch ein explorativer Fragebogen für Bürgerinnen und Bürger erstellt, der u. a. der Vorbereitung der partizipativen Verfahren im Projekt dient. Eine erste Herausforderung bestand darin, die weitestgehend positive Literatur über In-vitro-Fleisch möglichst objektiv und in verständlicher Sprache darzustellen, ohne als Befürworter zu wirken und das komplexe Thema zu stark zu vereinfachen. So beziehen sich die Innovatoren beispielsweise bei der Aussage, In-vitro-Fleisch sei besser für die Umwelt, im Wesentlichen auf die Lebenszyklusanalyse von Hanna Tuomisto und Kollegen (Tuomisto et al. 2014). Grundsätzlich besteht aber ein Mangel an weiteren aussagekräftigen Beiträgen zu diesem Thema. Auch bekannte Probleme und weitere offene Fragen bezüglich der Produktion von In-vitro-Fleisch im großen Maßstab werden in der Literatur nur am Rande erwähnt. Dazu zählen u. a. die Herstellung geeigneter Bioreaktoren und das Finden von Alternativen zu fetalem Kälberserum als Nährmedium sowie adäquater Zelllinien. Diese Aspekte werden nicht ausführlich diskutiert, sondern lediglich als leicht zu überwindende Herausforderungen dargestellt.

Das Projekt VIF verfolgt das Konzept von Visionen als „sozio-epistemische Praktiken“, das im Rahmen des ITAS-Projektes „Leitbilder und Visionen als sozio-epistemische Praktiken“ weiterentwickelt wird. Dabei geht es nicht nur um die Analyse der Inhalte von Visionen in den Diskursen über In-vitro-Fleisch, sondern auch um die Erarbeitung des praktischen Einflusses dieser Visionen im Innovations- und Transformationsprozess. Darüber hinaus kommen im Projekt Methoden der qualitativen Sozialforschung sowie partizipative Verfahren zum Einsatz.

Erstens werden Akteure bzw. Experten interviewt, um ihre Forschungsabsichten, ethischen Motive und Zukunftsvorstellungen über In-vitro Fleisch zu ermitteln. Bereits bei der Bestimmung der Akteure ergaben sich einige Schwierigkeiten, da es viele Akteure gibt, die sich für In-vitro-Fleisch engagieren, ohne jedoch zwangsläufig Experten zu sein. Des Weiteren ist das Feld derjenigen Bereiche, die potenziell mit In-vitro-Fleisch in Berührung kommen, enorm groß. Neben Physiologen, Zellbiologen, Tissue Engineers und Bioingenieuren tummeln sich Unternehmer und Investoren, Künstler, Köche, Vertreter der Fleischindustrie sowie Tierrechtsvertreter in der In-vitro-Fleisch-Szene. Gruppierungen, die von dieser Innovation betroffen sein könnten, wie beispielsweise Landwirte oder Vertreter der Fleischindustrie, beteiligen sich bisher nicht an der Diskussion.

Zweitens werden in Deutschland wohnende Bürgerinnen und Bürger in zwei Fokusgruppen und einem Bürgerforum (Citizens’ Jury) involviert, um ihre Vorstellungen über In-vitro-Fleisch zu erfahren. In Deutschland gibt es bisher noch keine derartigen Untersuchungen zu In-vitro-Fleisch. Wim Verbeke und Kollegen haben bereits Umfragen in Belgien, Großbritannien und Portugal durchgeführt, die sich vor allem mit der Akzeptanz von In-vitro-Fleisch beschäftigten („Würden Sie kultiviertes Fleisch essen?“, Verbeke et al. 2015). Es gibt weitere Arbeiten aus dem Bereich der Soziologie (u. a. Stephens 2013; van der Weele/Driessen 2013), die sich auch mit der Vision einer zukünftigen Ernährung mit In-vitro-Fleisch auseinandersetzen. Auch hier kamen Experteninterviews und partizipative Verfahren zum Einsatz.

Die empirischen Methoden bieten die Grundlage für eine Analyse der Leitbilder und Visionen mithilfe eines „Vision Assessments“, indem die Inhalte der visionären Narrative und die politische Funktion solcher Visionen analysiert werden. Ausgehend davon können sodann die ethischen Vorstellungen der Akteure sowie der Bürgerinnen und Bürger, die den Leitbildern und Visionen zugrunde liegen, untersucht werden. Dabei wird auch auf die bereits bestehenden Beiträge zur ethischen Reflexion über In-vitro-Fleisch eingegangen.

Abschließend werden forschungspolitische Optionen ausgearbeitet, die dem Bundesministerium für Bildung und Forschung vorgelegt werden. Hier sollen folgende Fragen beantwortet werden: Welche Ressorts im Ministerium wären von In-vitro-Fleisch betroffen? Welchen Zwecken könnte die Forschung an In-vitro-Fleisch außer der Ernährung sonst noch dienen (z. B. Medizin)? Gibt es in anderen Ländern bereits Diskussionen über mögliche Regulierungen? Lassen sich die verschiedenen Visionen und Optionen, die Probleme der Welternährung zu lösen, in eine Gesamtstrategie übersetzen, und welche Rolle käme In-vitro-Fleisch darin zu?

Anmerkung

[1] Das Projekt VIF wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von Oktober 2015 bis September 2017 gefördert (Förderkennzeichen: 16I1645). In dem Projekt arbeiten Dr. Arianna Ferrari (Projektleitung), Inge Böhm, M.A. und Silvia Woll, M.A. Weitere Informationen finden Sie auf der Projekthomepage: http://www.invitrofleisch.info.

Literatur

Bunge, J., 2016: Sizzling Steaks May Soon Be Lab-grown. In: The Wall Street Journal; http://www.wsj.com/articles/sizzling-steaks-may-soon-be-lab-grown-1454302862 (download 18.2.16)

FAO – Food and Agricultural Organisation of the United Nations, 2014: Food Outlook. Biennal Report on Global Food Markets; http://www.fao.org/docrep/019/I3751E/I3751E.pdf (download 18.2.16)

Mattick, C.; Landis, A.E.; Allenby, B.R., 2015: A Case for Systemic Environmental Analysis of Cultured Meat. In: Journal of Integrative Agriculture 14/2 (2015), S. 249–254

Post, M., 2014: Cultured Beef. A Medical Technology to Produce Food. In: Journal of the Science of Food and Agriculture 94/6 (2014), S. 1039–1041

Steinfeld, H.; Gerber, P.; Wassenaar, T, 2006: Livestock’s Long Shadow. Environmental Issues and Options. Rom

Stephens, N., 2013: Growing Meat in Laboratories. The Promise, Ontology, and Ethical Boundary-Work of Using Muscle Cells to Make Food. In: Configurations 21/2 (2013), S. 159–181

Tuomisto, H.; Ellis, M.J.; Haastrup, P., 2014: Environmental Impacts of Cultured Meat: Alternative Production Scenarios. In: Proceedings of the 9th International Conference on Life Cycle Assessment in the Agri-Food Sector

UNEP – United Nations Environment Programme, 2010: 2009 Annual Report. Seizing the Green Opportunity. UNEP

van der Weele, C.; Driessen, C., 2013: Emerging Profiles for Cultured Meat. Ethics Through and As Design. In: Meat 3/3 (2013), S. 647–662

Verbeke, W.; Marcu, A.; Rutsaert, P. et al., 2015: „Would You Eat Cultured Meat?“ Consumers’ Reactions and Attitude Formation in Belgium, Portugal and the United Kingdom. In: Meat Science 102 (2015), S. 49–58

Westhoek H.; Lesschen, J.P.; Leip, A. et al., 2014: Nitrogen on the Table. The Influence of Food Choices on Nitrogen Emissions and the European Environment. Executive Summary; http://www.clrtap-tfrn.org/webfm_send/555 (download 18.2.16)

Kontakt

Inge Böhm
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Karlstr. 11, 76133 Karlsruhe
E-Mail: inge.boehm∂kit.edu