N. Kan: Als Premierminister während der Fukushima-Krise

Rezensionen

Die Ursache des Fukushima-Unglücks ist die Behauptung seiner Unmöglichkeit

N. Kan: Als Premierminister während der Fukushima-Krise. München: Iudicium 2015, 165 S., ISBN 978-386-205-426-8, Euro 14,80

Rezension von Hans-Jochen Luhmann, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, Wuppertal

Naoto Kan, im März 2011 Premierminister Japans, ist gelernter Physiker. Ein Physiker stand damals an der Spitze der japanischen Katastrophenstäbe, hatte die Zügel in der Hand! Dieser besonderen Konstellation wegen habe ich nach seinem Buch gegriffen. Er hat es nach Ende seiner Amtszeit umgehend für den innerjapanischen politischen Gebrauch angefertigt – erst kürzlich ist es auf Deutsch erschienen.

Das Geschehen, welches mit Erdbeben und Tsunami am 11. März 2011 seinen Ausgang nahm, war „eine Weltneuheit“ – so eine Formulierung Kans (S. 41). Speziell an ihm sei, dass damit erstmals ein „multiples Reaktorunglück“, und zwar „in Progression“, eingetreten sei: Es gingen drei Reaktoren an einem Standort durch, es kam zu drei Kernschmelzen, es kam zu vier intendierten Entlassungen von radioaktiven Isotopen; es kam aber nur in geringem Ausmaß zu unkontrollierten Freisetzungen. Das multiple Unglück „im Raum der Präfektur Fukushima“, so die Sprechweise Kans, ist noch relativ glimpflich ausgegangen. Diese Sprechweise Kans ist wichtig. Er sieht die Anlagen in Fukushima I und Fukushima II (10 km südlich) nämlich als eine einzige Kraftwerksballung. An diesem Standort hätte ein Volumen an Kraftwerksleistung in Höhe von bis zu etwa 9 GWel durchgehen können.

Man könnte meinen, der Zufall, dass zum rechten Augenblick ein Physiker und damit ein Mann mit potentiellem Durchblick an der Spitze der japanischen Katastrophenstäbe gestanden hat, sei für den glimpflichen Ausgang entscheidend gewesen. Damit täuscht man sich. Geschildert wird von Kan vielmehr, er sei ein Vorsitzender der beiden gesetzlich vorgesehenen Zentralen gewesen, der fast nichts erfährt und auch nichts auszurichten vermag: ein sprichwörtlicher „König ohne Land“. Kans passende Ausbildung hatte lediglich den Effekt, dass sie ihm eine Vorstellung davon bescherte, was schon ausgelöst sein könnte, dass es noch eintritt, – die Schilderung seiner Wahrnehmung im Brennpunkt des Geschehens ist sprachlich deswegen vom Potentialis bestimmt. Und er wusste natürlich auch bestens, was ihm berichtet werden müsste, sah die Differenz zwischen Soll und Ist.

Zur Schnittstelle von Politik und Technologie lässt einen das Dreierlei begreifen:

  1. Kans Insistieren auf der Wahrnehmung im Potentialis zeigt, welcher Ausblendung an der Kernkrafttechnologie wir gemeinhin unterliegen. Drei räumlich getrennte Reaktoren sind sicherheitstechnisch etwas kategorial anderes als drei Reaktoren, die Teil einer Kraftwerksanlage sind. Der Unfallablauf in Fukushima ist nur verstehbar als der eines „Unfalls in Progression“: Die Unfallursache bei Block 3, die mangelhafte Vorbereitung einer alternativen Wassereinspeisung vor der manuellen Abschaltung des Hochdruckeinspeisesystems – ein Anfänger-Fehler –, ist ohne den Stress aufgrund des Unfalls in Block 1 unvorstellbar. Die Unfallursache bei Block 2, die fehlende Überwachung von Druck und Temperatur in der Kondensationskammer, wäre ohne die Unfälle in Block 1 und 3 nicht unterlaufen.
  2. Kan ist konfrontiert mit einer institutionell völlig unangemessenen Vorbereitung für den Fall eines Unfalls. Er fand sich vor als Vorsitzender zweier gesetzlich vorgesehener Zentralen, eine a) zur Bekämpfung eines Atomunfalls und b) eine zur Bekämpfung eines dringenden Notfalls (für Tsunamis und Erdbeben). Beide Zentralen waren fast identisch besetzt, tagten auch in Personalunion. Kan berichtet davon vor allem mittels seiner erstaunten Beobachtungen darüber, dass und weshalb die beiden Einrichtungen so dysfunktional eingerichtet sein konnten. Den Denkweisen-Konflikt bringt er so auf den Punkt:
  3. „... die Maßnahmen bei einem Erdbeben mit Tsunami richten sich gegen eine bereits eingetretene Katastrophe, während das Augenmerk bei einem Atomunfall auf die künftig möglichen Geschehnisse gelegt werden muss. Beide Notfallzentralen müssen sich also jeweils entgegengesetzter Denkweisen befleißigen.“ (S. 41)

  4. Dass die Atomunfall-Zentrale nicht auf den Typus „Unfall in Progression“ ausgelegt war, also nicht darauf, Schlimmeres verhüten zu können, hat folgenden Hintergrund. Von 1966, dem Inbetriebnahmedatum des ersten Kernkraftwerks in Japan, bis 1999 hatte es keine Regelung für den Fall eines Atomunglücks gegeben – mehr als 30 (!) Jahre lang. Im September 1999 gab es in Japan einen „Atomunfall“ mit Verstrahlungs-Toten: Den Kritikalitätsstörfall (mit Brennstäben) in Tokaimura. Den, also ausdrücklich keinen Kernkraftwerksunfall, nahm man als Modell im dann endlich erlassenen Atomunfallgesetz. Dass das so, wie es organisiert war, nicht zielführend sein konnte, liegt auf der Hand.
  5. Kan reflektiert in seinem Buch eine Ebene höher, auf den Grund des institutionelles Ungenügens, dessen Opfer er im März 2011 geworden war. Vorher, so seine Erwägung, sei er Gesundheitsminister und Finanzminister gewesen. Da sei er jeweils von fachlich bestens informierten Beamten umgeben gewesen. Diesmal sei es anders gewesen. Nicht aus Zufall. Die zentrale Stelle zur Kanschen Kausalanalyse liest sich, etwas gegliedert, so:
  6. (1)„Der Grund dafür, dass es keine Organisation für die Bekämpfung von Atomunfällen gibt, ist, dass solche Unfälle eben nicht passieren.“ (S. 47)
    (2)„Würde eine solche Organisation aufgebaut werden, hieße das ja, dass die Regierung von der Annahme eines solchen Unfalls ausgeht. Das wiederum würde den Aufbau von Atomkraftwerken behindern. Das dürfte der Grund sein.“ (S. 47)

Der Chef der IAEA (International Atomic Energy Agency), der Japaner (!) Yukiya Amano, hat Passage (1) der Kanschen Diagnose (aus dem Jahre 2012) als zentrale Diagnose in den Abschlussbericht seiner Agentur zum Fukushima-Unglück übernommen. Sie lautet:

„Ein bedeutender Grund, der zum Unfall beitrug, war die in Japan weitverbreitete Auffassung, dass Kernkraftwerke so sicher seien, dass ein Unfall dieser Größenordnung einfach unvorstellbar sei. Diese Auffassung vertraten die Betreiber der Kernkraftwerke, und sie wurde von den Regulierungsbehörden und von der Regierung nicht in Frage gestellt. Das Ergebnis: Japan war nicht hinreichend vorbereitet auf einen Unfall, wie er dann am 11. März 2011 anfing einzutreten.“ (S. v)[1]

Ein solches Ausmaß von selbstkritischer Unverblümtheit vom IAEA-Chefsessel aus ist nur einem Japaner und damit einem Mitglied der dortigen Kernkraft-Kultur möglich – ein Außenstehender hätte sich das nicht herausnehmen können.

Ich habe zu dem Kanschen Buch gegriffen, nachdem ich etliche der voluminösen Untersuchungsberichte, darunter die drei japanischen, studiert hatte. Meine Erwartung, der physikalisch gebildete Autor hätte sich den Unfallablauf in den Grundzügen klargemacht und würde ihn in wenigen Strichen verständlich darstellen, wurde enttäuscht. Dafür wurde ich mehr als entschädigt, dank der politik-systemischen Expertise des Autors, auch in seinem Heimatland. Die Lehre: Sicherheit von durchgehfähigen Leichtwasserreaktoren entsteht erst mit der Bereitschaft einer Gesellschaft, sich den schlimmsten Fall gewärtig zu halten – was zugleich die Akzeptanz dieser Technologie untergräbt. Nur so paradox bzw. nur zu Kosten einer solchen Selbstbedrohung ist Sicherheit zu haben. Deutschland hat diese Lehre, wenn auch spät erst, nach Fukushima begriffen – jahrzehntelang wurde in Deutschland eine „scharfe“ Aufsicht als „kernkraftfeindlich“ denunziert. Der Sinneswandel geschah zu Recht, denn es kann ja auch in den Restjahren des schrittweisen Ausstiegs noch schiefgehen.[2]

Anmerkungen

[1] „A major factor that contributed to the accident was the widespread assumption in Japan that is nuclear power plants were so safe that an accident of this magnitude was simply unthinkable. This assumption was accepted by nuclear power plant operators and was not challenged by regulators or by the Government. As a result, Japan was not sufficiently prepared for a severe nuclear accident in March 2011.“ (p. v), in: IAEA (2015): The Fukushima Daiichi Accident. Report by The Director General. Wien; http://www-pub.iaea.org/MTCD/Publications/PDF/Pub1710-ReportByTheDG-Web.pdf (download 4.3.16)

[2] Vgl. die Katastrophenschutzübung/Risikoanalyse „Freisetzung radioaktiver Stoffe aus einem Kernkraftwerk“, die in BT-Drs. 18/7209 dokumentiert ist.