Über die Mühen, gesellschaftliche Anliegen in der Forschungspolitik zu verankern

Tagungsberichte

Über die Mühen, gesellschaftliche Anliegen in der Forschungspolitik zu verankern

Bericht zur Veranstaltung „Forschungspolitik – ein lohnendes Thema für zivilgesellschaftliche Organisationen?“

Stuttgart, 11. Januar 2016

von Michael Kalff, Zentrum für Nachhaltige Entwicklung an der Hochschule für Technik, Stuttgart

Seit den Anfängen wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Nachhaltiger Entwicklung (NE) wurde kritisch mitreflektiert, wie Eigenlogiken des Wissenschaftssystems auf Forschung, Lehre und Transfer für die NE wirken. Schon früh zeigte sich, dass Nachhaltigkeitsthemen im Nebeneinander der Disziplinen kaum adäquat zu bearbeiten sind, sondern das gesamte Spektrum wissenschaftlicher Weltaneignung fordert (z. B. Heinrichs/Michelsen 2014). Man kann Nachhaltigkeitsprobleme sogar als Folgen einer Wissenschaft interpretieren, die viel zu wenig über den eigenen Tellerrand geblickt hat und deswegen blind war für mögliche Nebenfolgen aus der Anwendung ihrer Erkenntnisse. Kein Wunder also, dass zum „Klimawandel im Wissenschaftssystem“ aufgerufen wurde (Schneidewind/Singer-Brodowsky 2014), und dabei nicht nur eine Stärkung interdisziplinärer Kooperation eingefordert wird, sondern auch die Integration von Praxiswissen in die Forschung für Nachhaltige Entwicklung (Transdisziplinarität).

1     Wie werden gesellschaftliche Anliegen zu Forschungsthemen?

Transdisziplinäre Forschung mit Unternehmen gibt es schon lange, für die NE war bisher dabei aber nur etwas zu gewinnen, wenn es im Interesse der Drittmittelgeber lag. Engagiertere Anwaltschaft für NE darf bei einschlägigen zivilgesellschaftlichen Organisationen vermutet werden (z. B. die Studien „Zukunftsfähiges Deutschland“ 1996 und 2008 im Auftrag von BUND und Misereor, das BUND-Wissenschaftspapier von 2012). Der Appell, zivilgesellschaftliche Anliegen stärker als bisher ins Wissenschaftssystem zu integrieren, stößt allerdings auch auf überraschend lebhafte Kritik, vorgetragen etwa von führenden DFG-Vertretern (Strohschneider 2014; Rohe 2015), die um die Wissenschaftsfreiheit fürchten.

Vorangetrieben wird die bessere Einbindung zivilgesellschaftlicher Anliegen in die Wissenschaft von der „Plattform Forschungswende“, einem bundesweiten Netzwerk von Verbänden, Einrichtungen und Organisationen für NE. Im Januar lud das Netzwerk nach Stuttgart ein, um einen Tag lang die Potenziale der Forschungspolitik für zivilgesellschaftliche Organisationen (ZGO) auszuloten, hatte sich doch Baden-Württemberg in der eben ablaufenden Legislatur wissenschaftspolitisch mit der Förderung transdisziplinärer Wissenschaft für NE exponiert, u. a. mit 15 Mio. Euro für 14 „RealLabore“ und eine hochkarätige, internationale Begleitforschung.

Wissenschaftsministerin Theresia Bauer begründete in ihrem Auftakt diese Investitionen mit der Notwendigkeit einer „Klimawende in der Gesellschaft“, denn nur mit Engagement und Wissen „bottom up“, und die darauf antwortenden Änderungen im Wissenschaftssystem sei die Transformation zu bewältigen. Ihren Rekurs auf die schon einmal so erfolgreiche Liaison von Ökobewegung und Wissenschaft quittierten Tagungsteilnehmer mit Nicken – v. a. Vertreter von BUND, Landesnaturschutzverband und NABU im Raum konnten sich gut an diesen Aufbruch erinnern. Ministerin Bauer verwies für eine erfolgreiche Neuauflage auf die Anregungen der vom Land 2011 eingesetzten Expertenkommission (Beispiele transformativer Wissenschaft sichtbar machen, miteinander verbinden und weiterentwickeln) und die von ihr daraufhin angestoßene Förderung der Wissenschaft für NE, und hier besonders die RealLabore. Diese Prototypen für transdisziplinäre Wissenschaft seien ein Wagnis (auch für die unmittelbar Beteiligten) mit der Gefahr des Scheiterns, böten aber die Chance, zu lernen, wie Transdisziplinarität funktioniert und wie nicht.

2     Gegenspieler und Hindernisse

Steffi Ober, Leiterin des Projekts Forschungswende (Ober/Paulick-Thiel 2015), würdigte die respektable landespolitische Bilanz, sah den Ball aber trotzdem nicht allein im Feld von Wissenschaft und Zivilgesellschaft liegen. In ihrem Aufriss wurde deutlich, wer die forschungspolitischen Traktanden setzt, z. B. mächtige Verbände wie der Bundesverband Deutscher Industrie e.V. (BDI) und der Verband der Automobilindustrie e.V. (VDA). Unternehmen gäben in Deutschland mehr als doppelt so viel Geld für Forschung und Entwicklung (F&E) aus als der Staat, nichtstaatliche Organisationen ohne Gewinnabsicht trügen hingegen nur rund 4 Promille zum inländischen F&E-Budget bei. Die Verteilung der Forschungsförderung des Bundes spiegele diese Verhältnisse, trotz aller politischen Bekenntnisse zur Relevanz von NE und gesellschaftlicher Transformation: 27 Mrd. Euro für die Hightech-Strategie (2010–2013), 2 Mrd. für FONA (Forschung für Nachhaltige Entwicklung, 2013–2015), 30 Mio. für transdisziplinäre Sozialökologische Forschung (2010–2013), also gerade 1 Promille gegenüber der Hightech-Strategie im gleichen Zeitraum. Auch in den Beiräten von Forschungsprogrammen seien die Unternehmen weit überproportional vertreten.

Die Hightech-Strategie schrieb sich in der aktuellen Periode „Partizipation und Transparenz“ auf die Fahne und wollte ein Drittel der Sitze im Lenkungsgremium, das sind sechs Plätze, mit „Vertretern gesellschaftlicher Gruppen“ besetzen. Diese Plätze wurden u. a. eingenommen von der Volkswagenstiftung, einem Mitglied der „fünf Weisen“ (dem Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung) und dem Vorsitzenden des Nachhaltigkeitsrats (ebenfalls ein Beratungsgremium der Bundesregierung), sicherlich ehrenwerte Institutionen, die aber nur schwerlich als Vertreter gesellschaftlicher Gruppen angesehen werden können. Dabei gäbe es mit dem Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) oder dem Deutschen Naturschutzring (DNR) – beide zusammen repräsentieren ca. 200 Verbände mit 2,4 Mio. Mitgliedern – engagierte, kompetente Vertretungen bürgerschaftlicher Anliegen für ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit.

3     Wie Zivilgesellschaft trotzdem mitbestimmen kann: praktische Wege

Drei Ansätze fasste Steffi Ober dann für mehr gesellschaftliche Partizipation am Wissenschaftssystem zusammen:

Für die ersten beiden bräuchten ZGOs Anstöße, Herausforderung und Förderung. Letzteres müssten die angesprochenen Akteure gemeinsam bewerkstelligen, z. B. indem Vertreter von ZGOs in allen Entscheidungsebenen des Wissenschaftssystems partizipieren, vom wissenschaftspolitischen Diskurs über Agendasetting und Programmentwicklung bis zu Hochschulräten und Projektsteuerung. Abschließend verwies Steffi Ober auf operative Möglichkeiten der bürgerschaftlichen Partizipation an Wissenschaft, wie Technikfolgenabschätzung, Nutzer- und Arbeitnehmerbeteiligung oder „Community-based Research“. Sie schlug mit den Wissenschaftsläden (die z. T. ja noch aktiv sind) einen Bogen zur Vorrednerin (Ökobewegung und Wissenschaft) – und mit dem Verweis auf RealLabore die Überleitung zum folgenden Referat.

Oliver Parodi (ITAS/KIT) berichtete aus zwei Karlsruher RealLaboren, wie Nachhaltigkeitstransformation in Stadtquartieren angegangen werden kann (Parodi et al. 2016). „Quartier Zukunft“ und „R131“ sind in der Karlsruher Oststadt angetreten – das eine eher „breit“, das andere eher „vertiefend“ –, um die ganze Palette von relevanten Nachhaltigkeitsthemen anzusprechen: Wohnen, Wirtschaften, Werte, Klima und Energie, Mobilität, Gerechtigkeit, Gesundheit … Dabei hilft dem ITAS das integrative Verständnis Nachhaltiger Entwicklung der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (Kopfmüller et al. 2001), das sich inspirierend von der immer noch vielfach zelebrierten „Säulen-Dreifaltigkeit“ der 1990er Jahre abhebt. Gruppen und Menschen der Oststadt aus einem Spektrum von Kirchengemeinden über die „üblichen Verdächtigen“ wie Slow Food und den Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubbis zu Ökodörflern werden über die Stufen Information-Konsultation-Kooperation-Kollaboration-Empowerment zu selbstwirksamen Gestaltern nachhaltiger Entwicklung ihres Stadtteils. Neben erwartbaren Formaten (Bürgerforen, Stammtische, Aktionstage etc.) sticht der „Zukunftsraum“ heraus, in den RealLabor-Wissenschaftler ihren Arbeitsplatz verlagern, aus der sicheren Campus-Welt mitten ins Quartier, um auf diese Weise konkret sichtbare, ansprechbare Projektpartner zu sein. Bürger nutzen den Zukunftsraum für ihre Nachhaltigkeitsexperimente, wie z. B. Repair-Cafés. Oliver Parodi verwies abschließend auch auf Schieflagen im Arrangement – wie etwa ehrenamtliche Bürger vs. hauptberufliche Wissenschaftler (also nicht immer auf „gleicher Augenhöhe“ und mit inkompatiblen Arbeitsrhythmen), ungleiche Geldflüsse, institutionelle Grenzen – und der Status als junges, oft unbequemes und zuweilen sogar ungewolltes Kind im Wissenschaftsbetrieb.

4     Wie immer: Diskurs ums liebe Geld

Den Vormittag rundete eine Paneldiskussion ab, besetzt mit Ministerin Bauer und den bisherigen Vortragenden sowie Rudi Kurz (Wissenschaftskommission des BUND) und Andre Baumann (Landesvorsitzender des gastgebenden NABU). Die Ministerin erläuterte weitere Aspekte ihrer Politik für Nachhaltigkeitswissenschaft und mehr Partizipation, u. a. die Öffnung der Hochschulräte für zivilgesellschaftliche Vertretung (was im Land leider noch gar nicht in Anspruch genommen werde). Rudi Kurz berichtete von den praktischen Mühen der Ehrenamtlichen in forschungspolitischen Gremien, die mit den gutbezahlten Profis der Wirtschaft schon beim Zeitaufwand kaum mithalten könnten. Bei der Forderung nach Mitteln für Wissenschaftsreferenten in den ZGOs traf er sich mit Andre Baumann und löste bei Hochschulvertretern im Publikum ein Echo aus: Auch dort fehle es an bezahlten Profis für die aufwändigere Organisation transdisziplinärer Projekte. Ministerin Bauer wollte statt verlässlicher Finanzierung aber lieber Orden zur Förderung der Transdisziplinarität zusagen („Pioniere auszeichnen“), wiewohl Steffi Ober auf den empirisch belegten Erfolgsfaktor eines „professionellen Projektmanagements“ verwies (90 % der gescheiterten Projekte erlitten Schiffbruch wegen fehlendem bzw. unzureichendem Management). Da beißt die Maus wohl keinen Faden ab – Transdisziplinarität ist nicht zum Nulltarif machbar, die bislang budgetierten Bordmittel in Hochschulen und Verbänden geben das nicht her.

Der Nachmittag begann mit einem Workshop zu Treibern, Akteuren, Formaten und Hürden der Forschungswende. Die Teilnehmer aus Verbänden, Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen nutzten diese Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch, für Problemdefinitionen und zur Formulierung von Desideraten, beispielsweise bei der Ausschreibung von Mitteln für transdisziplinäre Projekte (u. a. RealLabore). Felix Wagner (Ministeriumsreferent für NE) holte sich einschlägige Anregungen ab. So wurde etwa vorgeschlagen, auf Wettbewerbe zu verzichten, weil zu viele leer ausgingen, trotz aufwändig erarbeiteter und sehr guter Konzepte. Besonders frustrierend seien solche Ablehungen, wenn es keine Rückmeldungen über Entscheidungsgründe gäbe. Alternativ dazu wäre z. B. jeder Hochschule eine – ggf. gestaffelte – Summe in Aussicht zu stellen, die sie mit einem guten Konzept dann auch zugesprochen bekäme.

5     Visionen für die Forschungswende

Ergiebig war die Abschlussrunde im Plenum. Neben einer Vermisstenmeldung (wo bleibt das im grün-roten Koalitionsvertrag anvisierte „Kompetenzzentrum Bildung für NE“?) und der Benennung von Diskrepanzen (das Märchen der „Augenhöhe“ von Forschungspolitik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft; Technologielastigkeit des Wissenschaftssystems; unterschiedliche Sprachen und Diskurse; Vernachlässigung des Themas in den ZGOs) gab es konstruktive Visionen: die Anregung eines Programms zur Erforschung alternativer, nachhaltiger Wirtschafts- und Lebensformen; der Vorschlag eines openlabs bei der Steinbeis-Stiftung zum Anstoß transdisziplinärer Vorhaben und Crowdfunding; die Idee eines Transformationsladens in Stuttgart, anknüpfend an die Wissenschaftsläden und den Karlsruher Zukunftsraum, betrieben u. a. von den RealLaboren der Stuttgarter Hochschulen.

Fazit der Tagung: Bis gesellschaftliche Anliegen in der Wissenschaft ebenso repräsentiert sind wie wirtschaftliche, ist noch ein weiter Weg zu gehen. Hochschulen und Zivilgesellschaft müssen das Miteinander noch lernen – u. a. in RealLaboren zeigt sich, wie das gehen könnte, und was dafür noch zu tun ist.

Literatur

BUND – Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (Hg.), 2012: Nachhaltige Wissenschaft: Plädoyer für eine Wissenschaft für und mit der Gesellschaft. Berlin

Heinrichs, H.; Michelsen, G. (Hg.), 2014: Nachhaltigkeitswissenschaften. Heidelberg

Kopfmüller. J.; Brandl, V.; Jörissen, J. et al., 2001: Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet: Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. Berlin

Kurz, R.; Luthardt, V.; Schnitzer, R., 2014: Wissenschaftspolitik für Nachhaltige Entwicklung. Thesen der Wissenschaftskommission des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND e. V.). In: umf UmweltWirtschaftsForum 4 (2012), S. 233–236

Ober, St.; Paulick-Thiel, C., 2015: Zivilgesellschaft beteiligen: Perspektiven einer integrativen Forschungs- und Innovationspolitik. Berlin

Parodi, O.; Albiez, M.; Meyer-Soylu, S. et al., 2016: Das „Quartier Zukunft – Labor Stadt: Ein reales Reallabor“. (angenommen) In: Resilienz | Stadt und Region – Reallabore der resilienzorientierten Transformation. Frankfurt a. M.

Rohe, W., 2015: Vom Nutzen der Wissenschaft für die Gesellschaft: Eine Kritik zum Anspruch der transformativen Wissenschaft. In: Gaia 3 (2015), S. 156–159

Schneidewind, U.; Singer-Brodowski, M. (Hg.), 2014: Transformative Wissenschaft: Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Weimar

Strohschneider, P., 2014: Zur Politik der Transformativen Wissenschaft. In: Brodocz, A.; Herrmann, D.; Schmidt, R. et al. (Hg.): Die Verfassung des Politischen: Festschrift für Hans Vorländer. Wiesbaden, S. 175–192