Helmut Willke: Die Entwicklung im Multimedia-Bereich als Herausforderung regional-politischer Steuerung Rezension

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HELMUT WILLKE: Die Entwicklung im Multimedia-Bereich als Herausforderung regionalpolitischer Steuerung. Stuttgart: 1996 (Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg). DM 15,--

Rezension von Ulrich Riehm, ITAS

Die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg (AfTA; http://www. afta-bw.de) führt zur Zeit ein Projekt "Regionale Erneuerung durch Multimedia?" durch, dessen Ziel es ist, herauszuarbeiten, welchen Beitrag Multimedia zur Erneuerung von regionalen Wirtschaftsstrukturen leisten kann. Im Rahmen dieses Projektes, in dem insbesondere regionale Fallstudien und der Vergleich baden-württembergischer Regionen mit internationalen Referenzregionen vorgesehen sind, wurde ein Gutachten zum Thema Multimedia und regionalpolitische Steuerung bei Helmut Willke in Auftrag gegeben, das nun als Arbeitsbericht Nr. 68 der AfTA veröffentlicht wurde. Helmut Willke, Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld (http:// www.uni-bielefeld.de/soz/), ist durch eine Reihe von Veröffentlichungen hervorgetreten, in denen er bisherige Steuerungsmodelle entwickelter, demokratischer Industriegesellschaften (z.B. Markt und Hierarchie) als unzureichend für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen und Transformationsprozesse kennzeichnet.

Im ersten Kapitel seines Gutachtens für die AfTA greift er diese Überlegungen erneut auf und setzt sie in Beziehung zu den neuen Technologien, insbesondere Multimedia. Die in den letzten zwanzig Jahren erfolgte Restauration formaler, repräsentativer, von den etablierten Parteien dominierten, demokratischen Herrschaftsformen gerate, so Willke, in den Strudel der Globalisierung, der Informatisierung und Digitalisierung, der rasanten technologischen Entwicklungen. Die damit verbundene dramatische Steigerung der Komplexität und Dynamik individueller, sozialer und gesellschaftlicher Kommunikation führe zu kaum mehr beherrschbaren kombinatorischen Folgen. "Die Demokratie als Steuerungsform gerät zwischen die Mühlsteine einer 'postmodernen' Individualisierung einerseits ... und einer technologiegetriebenen Globalisierung andererseits" (S. 2). Das bedeute nun nicht, daß jegliche Steuerung obsolet geworden sei, sondern, daß aufgrund der "Entzauberung" staatlicher Steuerung die anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme (Wirtschaft, Wissenschaft, Recht etc.) und ihre Institutionen verstärkt diese Aufgabe übernehmen müßten und übernähmen. Dem politischen Subsystem, dem Staat, bliebe dabei die Aufgabe der Integration der Entscheidungen der anderen gesellschaftlichen Teilsysteme ("Supervisionsstaat"). Denn der durch die Verlagerung von Steuerung auf die Ebene der einzelnen Funktionsbereiche und Institutionen erreichte Gewinn an Steuerungskompetenz gehe einher mit der Gefahr des Auseinanderfallens des gesellschaftlichen Zusammenhangs, der gesellschaftlichen Desintegration.

Hier setzt auch die Idee der "Kontextsteuerung" an, die er kontrastiert mit dem "pluralistischen Durchwursteln" und einer "hierarchischen Steuerung" (oder zentralen Planung), beides Formen der Steuerung, die an den Komplexitätsanforderungen heutiger Problemlagen scheitern. Die Kontextsteuerung versucht, eine Verstärkung der Selbststeuerung der gesellschaftlichen Subsysteme zu verbinden mit gesellschaftlich anerkannten ("verbindlichen") "Kontextvorgaben", oder, wie andere vielleicht dazu sagen würden, Visionen und Leitbildern. Willke ist dabei durchaus bewußt, daß das zentrale Problem dieses "Steuerungsmodells" darin besteht, wie man die erforderliche Verbindlichkeit für diese Kontextvorgaben erreichen könne, und zwar in einer Situation, in der "die Politik ihre Sonderrolle als Instanz der Formulierung und Durchsetzung des gesellschaftlichen Konsenses eingebüßt hat" (S. 9).

Willke geht dann auf die "ureigene Aufgabe der Politik" ein, die Herstellung und Gewährleistung von Kollektivgütern, insbesondere der großen Infrastruktursysteme. Er verfolgt dabei die These, daß die "widerstandslose" Aufgabe des angestammten Infrastrukturmonopols der europäischen Regierungen Mitte der achtziger Jahre mit den neuen Eigenschaften der Infrastruktursysteme "zweiter Generation" zu tun haben, die sich den "einfachen Alternativen von Regulierung und Deregulierung, Verstaatlichung oder Privatisierung, Monopol oder Wettbewerb nicht mehr fügen" (S. 11). Willke kennzeichnet (am Beispiel der Telekommunikation und Multimedia) die Infrastruktursysteme der zweiten Generation (der Generationenbegriff bleibt allerdings unklar, teilweise spricht er auch von Infrastruktursystemen zweiter Ordnung) durch drei Merkmale: a) ihre Basierung auf "intelligenter" Technologie; b) ihre außerordentliche Kostspieligkeit in Entwicklung und Einrichtung, nicht in einem absoluten Sinne, sondern im Verhältnis zu den erwartbaren (nationalen) Märkten und im Verhältnis zum erwartbaren Zeitfenster, in dem die jeweilige Technologie noch zum Stand der Technik gehört; c) ihre Einbettung in die transnationale und globale Vernetzung. Dabei erscheint mir sein Hinweis richtig und wichtig, daß aus Sicht der einzelnen Akteure, bei diesen neuen großen technischen Systemen, Steuerungsanspruch und Steuerungsfähigkeit zunehmend auseinanderfallen. Auch dies ist ein Indiz dafür, daß die klassischen marktförmigen oder hierarchischen Steuerungsformen nicht mehr ausreichen. Offen bleibt, ob die neuen Infrastruktursysteme noch als legitime öffentliche Güter anzusehen seien, oder ob eine Herstellung durch den Markt eine erfolgversprechende Alternative sein könnte. Willke tendiert dabei dazu, die Infrastruktursysteme unter die "kollateralen" Güter zu subsummieren, die sowohl Merkmale privater wie öffentlicher Güter tragen, die insbesondere aber dadurch gekennzeichnet sind, daß der "private" Markt zu schwach ist, sie ohne staatliche "Garantien" zu produzieren. Nur in der Kooperation privater und staatlicher Akteure lassen sie sich verwirklichen.

Interessant ist Willkes Charakterisierung des spezifischen Steuerungsproblems bei Multimedia. Einerseits ist die Steuerung von Multimedia deshalb besonders schwierig, weil Multimedia im Schnittpunkt unterschiedlicher Politikarenen liegt (Medienpolitik, Telekommunikationspolitik, Rundfunkpolitik etc.), deren Probleme für sich schon mit herkömmlichen politischen Steuerungsinstrumenten kaum zu bewältigen seien (S. 7). Andererseits tritt die Paradoxie auf, daß nicht klar ist, was das Problem von Multimedia eigentlich sei. Man wisse weder, so Willke (S. 4), ob mit Multimedia ein Problem oder eine Problemlösung gegeben sei. Politische Steuerung wird wenig Erfolg haben, "wenn sie ein Problem formuliert, das niemand als sein eigenes ansieht, und sie kann keinen Erfolg haben, wenn sie mit Multimedia eine Lösung für ein Problem in Aussicht stellt, die niemand hat" (Hervorhebung UR). Wer denkt dabei nicht an den Stuttgarter Pilotversuch zum interaktiven Fernsehen (vgl. hierzu die Artikel im Schwerpunkt dieses Heftes), den Willke übrigens, erstaunlicher- oder bezeichnenderweise in seinem Gutachten an keiner Stelle auch nur erwähnt.

Gegenüber diesem ersten Teil des Gutachtens, das überzeugend die übergreifende Steuerungsproblematik moderner Gesellschaften am Beispiel Multimedia und multimedialer Infrastrukturen darstellt, fallen die beiden folgenden Teile, wo es konkreter und materialreicher werden sollte und müßte, deutlich ab. Wahrscheinlich ist aber das Institut des "Gutachtens" für eine solche Konkretisierungsaufgabe latent überfordert.

In Kapitel zwei geht es um die Besonderheiten der Steuerungsproblematik des Multimedia-Bereichs. Spätestens hier wäre eine Differenzierung und Konkretisierung des typischerweise in der öffentlichen Diskussion völlig "überladenen" Multimediabegriffs notwendig gewesen. Zwar wird immer wieder und mit Recht auf die Bedeutung infrastruktureller Aufgaben hingewiesen, aber die spezifische und ungeklärte Beziehung zwischen der Etablierung einer neuen multimediageeigneten Infrastruktur und multimedialen Anwendungen (in äußerst heterogenen Anwendungsbereichen) bleibt weitgehend undiskutiert. Schichtenmodelle scheinen mir hier zu einfach.

Das dritte Kapitel nimmt sich des Themas regionale Kooperationsregimes an und identifiziert zwei zentrale Aufgaben: Infrastrukturentwicklung und Wissensmanagement. Auch dies bedürfte weiterer Konkretisierung jenseits manchmal etwas hohl klingender Rhetorik vom "Rohstoff Wissen" ("Der Komplex Information, Wissen, Expertise und eingebetteter Intelligenz ist der Rohstoff des nächsten Milleniums", S. 40). Überzogen scheint mir auch eine Aussage wie, "daß im Multimedia-Bereich Tausende von Stellen angeboten werden, die nicht besetzt werden können, weil es dafür keine 'fertig' ausgebildeten Professionellen gibt" (S. 50).

In seinen Schlußfolgerungen betont Willke nochmals die eingeschränkten Möglichkeiten der regionalen Steuerung von Multimedia, die er positiv als Kontextsteuerung (Beeinflussung der relevanten Kontextbedingungen) und Moderierung der Selbststeuerung der beteiligten Akteure benennt. Doch selbst auf diesen eingeschränkten Feldern sind schnelle Erfolge nicht zu erwarten.