Hans Dieter Hellige (Hrsg.): Technikleitbilder auf dem Prüfstand. Leitbild-Assessment aus Sicht der Informatik- und Computergeschichte Rezension

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HANS DIETER HELLIGE (Hrsg.): Technikleitbilder auf dem Prüfstand. Leitbild-Assessment aus Sicht der Informatik- und Computergeschichte. Berlin: Edition Sigma, 1996.

Rezension von Bernd Wingert, ITAS

Der vorliegende Band ist eine Zwischenbilanz zur Diskussion über Leitbilder in der Technikentwicklung, eine Debatte, die von Meinolf Dierkes und seinen Mitarbeitern ursprünglich ausgelöst und im Informatiksektor mit einer ersten Tagung am Deutschen Museum in München 1993 (bei der Hellige schon als Mitorganisator auftrat) aufgegriffen und in zwei weiteren Tagungen 1995 und 1996 fortgeführt wurde. Den lesenswerten einführenden Beitrag von Hellige zum aktuellen Stand der Diskussion, zu einigen wichtigen Unterscheidungen und zur künftigen produktiven Funktion von Leitbild-Analysen nicht gezählt, vereinigt der Band 8 Beiträge aus dieser Debatte, teilweise schon auf der Tagung in München präsentiert, aber in jedem Falle aktualisiert und fokussiert, wie der Herausgeber betont.

Die behandelten Gebiete, für die Leitbilder untersucht und geprüft werden, sind vielfältig; die theoretischen Kontexte und je eigenen Akzente sind reichhaltig, also ist der Band auf jeden Fall lesenswert und vermutlich zu dieser Thematik nicht der letzte. Auf diese Idee könnte man aber kommen, wenn man die Bildbotschaft des Titelbildes studiert: abgebildet "Der falsche Türke", ein Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert, der einen Türken als Schach spielenden Automaten zeigt, der in Wirklichkeit jedoch von einem Menschen im Kasten gespielt wurde (s. Anm. 1). Hätte sich nach der von Hellige vorgelegten kritischen Bestandsaufnahme nun das Leitbild-Assessment als falscher Türke, will sagen, als Windei herausgestellt? Keineswegs. Es werden zwar erhebliche Differenzierungen und andere Akzentuierungen am Konzept vorgenommen; auch der eigentlich springende Punkt am Leitbild-Assessment, nämlich über die als leitend erkannten Bilder in eine konstruktive Wende der Leitbildgestaltung bei aktuellen (!) Entwicklungen einzutreten, kann eindeutig nicht gehalten werden:

"Die in der anfänglichen Euphorie erhobenen Ansprüche der Technikgeneseforschung, über ein Assessment von Leitbildern ließen sich Technikfolgen bereits im Entstehungsprozeß erkennen und korrigieren, so daß man auf komplexe TA-Analysen und womöglich sogar auf staatliche Interventionen verzichten könne, haben sich nicht nur als überzogen, sondern als theoretisch und methodisch fragwürdig herausgestellt" (S. 29). Deshalb wird die künftig produktive Funktion eher in begleitenden Analysen von Leitbildern, deren Unstimmigkeiten, deren Verhältnis zur "dynamischen Problemstruktur von Technik", auch deren mögliche Übersetzbarkeit in konkrete Gestaltungsrichtlinien liegen.

Aber als Konzept möchte selbst Hellige "Leitbilder" nicht über Bord werfen: "Mir erscheint der heuristische Wert eines phänomenologischen Technikleitbild-Begriffes für die historische Rekonstruktion wie für die Deskription aktueller Geneseprozesse deshalb nach wie vor so hoch, daß man nicht einfach auf ihn verzichten sollte. Denn man stößt immer wieder auf prototypische Lösungsmuster oder Bündel von Zielvorstellungen, bei denen die genannten Ausweichbegriffe [wie Metaphern, Modelle, Paradigmen] nicht ausreichen, da sie nur Teilaspekte abdecken oder Diskursformen unabhängig von dem speziellen Gegenstand beschreiben." So Hellige (S. 17) nach intensiver Beschäftigung mit dem Leitbildkonzept und sicher reiflicher Überlegung und trotz der Vielfalt konkurrierender und ungeklärter Konzepte, die "sowohl im Zeithorizont, im Realitätsgehalt und in der Wirkungsmacht" variieren (S. 16).

Angesichts der Reichhaltigkeit der präsentierten Analysen gibt es unterschiedliche Ebenen und Weisen, die 8 Beiträge und die Einführung zu lesen, inhaltlich und diskursiv, was der Herausgeber gleichfalls vorschlägt. Inhaltlich meint, die Beiträge als Materialgeschichte des Computers und der Informationstechnik zu lesen. Dann erfährt man im Beitrag von Bernd Hamacher einige interessante Dinge über Referenzmodelle in der CIM-Entwicklung, darüber, welche Modelle von Technikgestaltung verfolgt wurden, wo diese ihre Grenzen fanden (gerade bei CIM, aber deshalb noch nicht endgültig gescheitert) und wo in solchen Modellen Leitbilder gewissermaßen versteckt sind.

Man lernt bei Jeanette Hofmann, wie zwei recht konträre Leitbilder der "Texttechnologie" sogar innerhalb einer Organisation (der großen freilich, die wir alle kennen) koexistieren konnten, nämlich die auf rationelle Bearbeitung des "Schriftgutes" abstellenden "Textautomaten" einerseits, und die das "kreative Schreiben" (ursprünglich Programmieren) unterstützenden "Texteditoren" andererseits, die mit ihrer den Autor idealisierenden und romantisierenden Sicht wohl bei vielen Autoren und Autorinnen auf dem Schreibtisch nun angekommen sein dürften (wir kommen darauf zurück).

Inhaltlich geht es bei Peter Eulenhöfer um die Entwicklung von Programmiersprachen und den Nachweis, wie sich erst im Zuge einer systematischeren Beschäftigung bei der ALGOL-Entwicklung eine Theorie der Programmiersprachen abzuzeichnen begann. Oder es geht Ralf Klischewski den diversen Etappen und Leitbildern nach, die sich bei der innerbetrieblichen und der überbetrieblichen Vernetzung rekonstruieren lassen, wobei er die These verfolgt, daß am Anfang zunächst ein systemisches Konzept "mächtiger Akteure" steht, das durchgearbeitet wird, bis sich Grenzen und Widersprüche in der Realisierung zeigen, so daß akteursorientierte Leitbilder aufkommen und verfolgt werden. Soweit ein erster inhaltlicher Durchgang.

Die zweite Weise, die Bestandsaufnahme zu lesen, liegt darin, die einzelnen Artikel als Beiträge zum Leitbild-Diskurs zu verstehen und darauf zu achten, wie - um ein naheliegendes Bild zu verwenden - gewissermaßen am Denkmal weitergearbeitet wird. Ob daran weitermodelliert, also die Grundkonstruktion schon belassen wird, aber doch entscheidende Kontextierungen vorgenommen werden, wie im Beitrag von Ingo Schulz-Schaeffer, der den Kontroversen und Überschneidungen nachgeht, die sich in der Software-Entwicklung zwischen einem ingenieurwissenschaftlichen und einem designwissenschaftlichen Ansatz aufzeigen lassen. Dabei ist ihm wichtig, "Leitbild" als Konzept (im Anschluß u.a. an Andreas Knie) in weitere, globalere wie spezifischere Orientierungsmuster einzubetten, nämlich einerseits in globalere Konstruktionsmethodiken, die sich als sich langsam sedierende und bewährende Formen von Wissen einer Profession ansehen lassen; und andererseits in spezifischere Konstruktionsstile, die er als "lokale Formen der Lösungssuche" bezeichnet, was sich in firmentypischen Konstruktionsmethoden etwa äußern kann.

Im Vergleich dazu verfährt August Tepper sehr viel kritischer und konfrontativer mit dem Leitbild-Konzept, dazu ermutigt auf der Grundlage eines (mit Paetau und Mambrey) durchgeführten eigenen Projektes u.a. zur Geschichte des PC. Das wäre dann doch eher als Graben am Fundament einzustufen und läuft auf eine gründliche konzeptionelle Revision hinaus, nämlich Leitbild nicht als Bild aufzufassen, das leitet (wie es, seiner Meinung nach, Dierkes u.a. zu figurativ und kognitivistisch verstehen), sondern als eine kommunikative Erscheinung, die etwa entlang den Luhmannschen "generalisierten Kommunikationsmedien" konzeptualisiert werden könnte. Ein Leitbild wäre dann ähnlich wie "Reputation" im wissenschaftlichen Bereich ein Medium, in dem sich in kommunikativ verkürzender und effizienter Weise Macht- und Geltungsansprüche verhandeln ließen.

Als Beitrag zum Leitbild-Diskurs ist die Analyse von Hellige selbst, nämlich zur Entwicklung von Time-Sharing-Systemen, wieder anders angesetzt. Er analysiert eine breite Entwicklung, in deren Verlauf zunächst sehr technisch ausgerichtete Ideen entstehen, die dann immer weiter ausgebaut werden, dann zu Leitbildern ausformuliert werden (z.B. von Licklider) oder sogar zu Visionen (John McCarthy), die noch heute auf ihre Realisierung warten. Das ist sowohl als Technikgeschichte als auch als Soziogenese (und Pathogenese?) von Leitbildern spannend zu lesen. "Leitbilder" wären in dieser Auffassung nur eine der Figurationen, deren Entstehung durch bestimmte technische und soziale Strukturen begünstigt wird, Figuren, die auch untereinander in Konkurrenz treten können wie am MIT, wo die "Programmierer" eher pragmatische, die KI-Vertreter (Minski, McCarthy) eher hochfliegende Visionen verfolgten, wobei jedoch diese "hausinterne" Kontroverse beiden Seiten im Sinne einer, wie Seeger es nannte, "emergenten Rationalität" nützte, "... denn sie trieb die Pragmatiker über allzu konventionelle Entwürfe hinaus und bewahrte die KI-Vertreter vor einem zu starken Abdriften in die Irrealität" (S. 223).

Schließlich sei - auf dieser Diskursebene - noch der Beitrag von Ulrich Klotz angeführt, der in diesem Band sicher seinen berechtigten Platz hat, aber auch ohne das Leitbild-Konzept auskommen könnte. Denn es geht ihm (so auch die Einordnung, die Hellige selber vornimmt) um eher noch grundlegendere Orientierungen als sie im Leitbild-Konzept festgehalten sind, um paradigmatische Strömungen, in seiner Analyse um tayloristische und "verrichtungsorientierte", auf genaue Planung, auf Einteilung, Einweisung und Ausführung abstellende Modelle der Arbeitsorganisation im Bürobereich einerseits und um eher dem Prinzip des autonomen Handelns und der Selbstorganisation folgende Gestaltungsprinzipien andererseits. Deren informatischen Kern erkennt er in Ansätzen des "objektorientierten Programmierens". Diese scheinen ihm mehr als nur Programmieransatz zu sein:

"Objektorientierung ist weniger eine spezielle Programmierweise als vielmehr eine Methode der Komplexitätsreduktion, die in direktem Gegensatz zum vorherrschenden Prinzip der Funktionsteilung steht. Während funktionsorientierte Ansätze Komplexität durch Aufsplitterung in detaillierte Handlungsanweisungen zu beherrschen suchen, ist ein zentrales Merkmal der Objektorientierung, daß die einzelnen Objekte weitgehend autonom, auf selbstverantwortliche Weise ihre Aufgaben erledigen. Die Kommunikation zwischen den Objekten [sc. den einzelnen Arbeitenden als Individuen oder als Gruppen] enthält Aufforderungen was zu tun ist, nicht aber Handlungsanleitungen, wie etwas zu tun ist" (S. 61, Hervorh. i.O.).

Eine "anständige" Rezension könnte nun nach diesem zweifachen Durchgang die einzelnen Beiträge inhaltlich noch etwas näher charakterisieren, die jeweilige These herausarbeiten und vielleicht die eine oder andere kritische Anmerkung machen. Wir haben einen Teil der Beiträge der inhaltlichen Leserichtung, die andere Hälfte der diskursiven zugeschlagen. Selbstverständlich werden wir so dem jeweiligen Artikel nicht gerecht; jeder hätte noch Ergänzung verdient. Aber erstens gibt Hellige selbst eine gute Charakterisierung in seiner Einführung, und zweitens erscheint es mir im vorliegenden Kontext wichtiger, die Frage 'Leitbild-Assessment oder Folgenabschätzung' noch einmal aufzugreifen. Daß hier eher ein komplementäres denn ein konkurrierendes Verhältnis als sinnvoll erscheint, war u.a. Ergebnis einer Vortragsreihe, die von ITAS durchgeführt wurde (s. Anm. 2).

Aber daß das Ergebnis der Bestandsaufnahme gerade in diesem einleitend schon kommentierten Punkt der "konstruktiven Wende" des Leitbild-Assessments so ernüchternd ausfällt, scheint nun doch der Hervorhebung wert, denn es ginge ja auch, Leitbildbegriff hin oder her, um die Auslotung von Chancen, in aktuellen Technikdebatten am Leitbild-Diskurs mitzumischen.

Nicht nur Hellige ist in diesem Punkt sehr dezidiert, auch andere Beiträge kommen - in diesem Punkt - zu einem ernüchternden Ergebnis. So äußert sich Jeanette Hofmann zur Bildbarkeit von Leitbildern eher zurückhaltend, ja sie votiert ausdrücklich "wider die Verdinglichung von Technikentwürfen". "Die wechselseitige Verwobenheit von Artefakten und deren sinnbildlicher Bedeutung legt den Schluß nahe, daß die Erfolgschancen einer gezielten Entwicklung und Implementierung von Leit- oder Technikbildern für konkrete Technikfelder nicht sonderlich aussichtsreich sind" (S. 181).

Auch Ingo Schulz-Schaeffer kann zwar in bezug auf das Leitbild "Software-Engineering" etliche der postulierten Leitbild-Wirkungen belegen, aber sieht sie nicht in der "Bildhaftigkeit" begründet, sondern in der "rhetorischen Prägnanz einer Metapher". Dies ist in seinem entgegengesetzten Fall der "designwissenschaftlichen Ansätze" nicht so deutlich, ja es ist, was das praktische Vorgehen in Software-Projekten angeht (unter Rückgriff auf Ergebnisse von Weltz und Ortmann 1992) sogar von einer Doppelbödigkeit auszugehen: Vom Ansatz und vom Plan her wird so getan, als ob das gegebene Projekt eben planvoll und erfolgreich in Angriff genommen werden könne, im praktischen Vollzug kommen aber ungeplante Schleifen hinzu, und dies sei ein "nützlicher Widerspruch":

"Die Kombination dieser Orientierungsmuster bietet die Möglichkeit, die Vorteile eines geplanten Vorgehens zu nutzen, ohne anschließend an den Bedingungen tatsächlicher Unplanbarkeit zu scheitern" (S. 133). Läge, so gefragt, vielleicht die eigentliche Funktion von Leitbilddiskussionen darin, Illusionen von Steuerbarkeit zu erzeugen? Wie es immer ein Ziel von Kommunikation ist (sein muß), an die Möglichkeit weiter gelingender (aber unwahrscheinlicher) Kommunikation zu glauben?

Und die Autoren glauben an sich als Verleger? Der Band ist ohne Zweifel auch herstellungsmäßig, vom Satz und vom Layout her, von den Autoren gemacht worden, getreu dem im "elektronischen Publizieren" Mitte der achtziger Jahre so heftig propagierten Leitbild vom "Autor als Verleger" (s. Anm. 3).

Da Anmerkungen zur formalen und technischen Machart in Rezensionen ebenfalls ihren Platz haben, muß zumindest zu einigen formalen Mängeln etwas gesagt werden. So scheint in einigen Beiträgen (besonders häufig im abschließenden von Hellige selbst) die Texteinzugsmarkierung immer mal wieder verloren gegangen zu sein. Gelegentlich finden sich am Ende der Zeile solitäre Bindestriche, die ihres Verbindungswortes verlustig gingen. Zwischendurch (z.B. wenn Abbildungen in den Text eingebettet werden mußten) gibt es große weiße Löcher (z.B. im Beitrag von Klischewski). Bei Punkteaufzählungen (z.B. auf S. 206) scheint der Texteditor (oder der Autor oder der Verlag) vergessen zu haben, daß wir uns im Modus Blocksatz befinden (wir kennen das Problem). Generell sind die Vorder- und Rückseiten nicht zeilengenau gedruckt, so daß die zu lesende Zeile von einem grauen Rand eingebettet ist, der von der durchscheinenden Rückseite herrührt. ...

Anmerkungen 

  1. Vgl. hierzu im Detail: Herbert Heckmann: Die andere Schöpfung. Frankfurt a.M.: Umschau 1982, S. 258 ff. 
  2. Vgl. G. Bechmann; T. Petermann (Hrsg.): Interdisziplinäre Technikforschung. Genese, Folgen, Diskurs. Frankfurt a.M.: Campus 1994. 
  3. Vgl. zu diesem Thema Riehm u.a.: Elektronisches Publizieren. Eine kritische Bestandsaufnahme. Heidelberg u.a.: Springer 1992.