Technikgestaltung & Technikbewertung am Fachbereich Informatik der Universität Hamburg

TA-Institutionen und -Programme

Technikgestaltung & Technikbewertung am Fachbereich Informatik der Universität Hamburg

von Prof. Dr. Arno Rolf

Die Technikfolgenforschung wurde 1986 als eigenständiger Bereich am Fachbereich Informatik der Universität Hamburg etabliert, eine Professur für "Wirkungen der Informationstechnologie" besetzt (Prof. Dr. Arno Rolf) und mit einer wissenschaftlichen Mitarbeiterstelle ausgestattet. Mitarbeiter waren Prof. Dr. Peter Berger, Dr. Heidi Schelhowe, Dr. Ralf Klischewski, heute ist es Dipl.-Inf. Andreas Möller. Es wurden im Laufe der Jahre zahlreiche Drittmittelprojekte mit einer Reihe von Mitarbeitern durchgeführt.

Im folgenden werden die Meilensteine der Entwicklung dieses Bereichs von der isolierten Folgenabschätzung hin zur sozial- und umweltorientierten Informationstechnikgestaltung und -bewertung skizziert und eine Übersicht über aktuelle Forschungsarbeiten im Fachbereich Informatik der Universität Hamburg gegeben.

I. Entwicklung des Lehr- und Forschungsbereiches

1. Phase: Gründung der Wirkungsforschung

Prägend in der Anfangsphase waren das allgemein wachsende Bewußtsein für soziale Probleme im Zusammenhang mit Informationstechnikeinsatz sowie die Debatte um eine unzureichende Institutionalisierung von Technikfolgenabschätzung in politischen Entscheidungsprozessen. Dementsprechend waren die Handlungsfelder der Wirkungsforschung - bezogen auf die Wissenschaft Informatik und die von ihr hervorgebrachten Ergebnisse -, orientiert an Begriffen wie "Frühwarnsystem" und "soziale Beherrschbarkeit". Die verfolgten Konzepte waren vor allem geprägt durch Interdisziplinarität und die Einbeziehung von Betroffenen. [Zu wichtigen Forschungsergebnissen bzw. -Projekten dieser Phase vgl. Kubicek, H., Rolf, A. 1985; Rolf, A. 1986; Klischewski, R. et al. 1990.]

Herausforderungen erforderten eine Fortentwicklung des "klassischen" Ansatzes der Technikfolgenabschätzung, so u.a.:

Krise der Prognose:
Planbarkeit und Vorhersage stellten sich als wissenschaftlich immer weniger machbar heraus, einhergehend mit der Entwicklung der Chaosforschung und Selbstorganisationsansätzen.

"Wirkungslosigkeit der Wirkungsforschung":
Die Forschungsergebnisse kamen entweder zu spät (die untersuchte Technologie war bereits entwickelt und verbreitet) oder zu früh (noch zu große Unklarheit bezüglich weiterer Technikentwicklung oder der Bedingungen ihres künftigen Einsatzes).

Appendix der Informatik:
Die Folgenforschung wurde von den "Gestaltern" der Informationstechnik an den Rand gedrängt, auch weil die soziologische Analyse nicht ohne weiteres von Informatikern verstanden wird und deshalb kaum auf die Handlungsorientierung der Informatiker einwirken kann.

Funktion von Leitbildern:
In Forschungsprojekten wurde herausgearbeitet, daß die Wirkungsforschung Leitbilder und noch längst nicht realisierte Visionen der Technikhersteller als "bare Münze" nimmt und so selbst ihre Ausdifferenzierung und Verbreitung aktiv unterstützt.

Neue Leitbilder:
Computer als "Werkzeug" und als "Medium" stellten bisherige Metaphern der Rationalisierungs- und Automatisierungstechnologie in den Hintergrund mit der Folge, daß neue Sichtweisen für Folgenforschung und Technikgestaltung notwendig wurden.

2. Phase: Aufarbeitung der wissenschaftstheoretischen und historischen Grundlagen der Informatik

Die Informatik wurde in Deutschland Ende der 60er bis Anfang der 70er Jahre an zahlreichen (Technischen) Universitäten gegründet. Für einen Forschungsbereich an der Nahtstelle zwischen Informatik und Gesellschaft ist es von entscheidender Bedeutung zu verstehen, warum sich ein bestimmtes Informatikverständnis (Teil der Mathematik oder Ingenieurwissenschaft, warum kaum sozialwissenschaftliche Anteile?) durchgesetzt hat, obwohl gerade in der Anfangszeit auch konkurrierende Modelle in der Diskussion waren (Petri, Zemanek, Adam, Brauer). Die Identifikation der formenden Kräfte ist Voraussetzung für die Analyse des Verhältnisses von Informatik und Gesellschaft - erst auf dieser Grundlage können auch realistische Wege für eine Weiterentwicklung des Fachgebietes aufgezeigt werden.

Die Analyse der wissenschaftstheoretischen Grundlagen (Theorien, Begriffe, Modelle, Sichtweisen) und des damit verbundenen internen Wissenschaftsverständnisses diente der Bestandsaufnahme zum Verhältnis von Informatik und Gesellschaft. Die damit verbundene Zielsetzung war, die sprichwörtliche "Brandmauer" (Dijkstra) zwischen Korrektheitsproblematik in der Theoriewelt und ihrer Angemessenheit in der Anwendungswelt ein Stück weit zu überwinden. Damit verbunden war ein Bekenntnis zu einem integrativen Ansatz: Gesellschaftliche Bezüge sollten zu einem Teil des Informatikselbstverständnisses werden. Dazu sind Öffnungen und Erweiterungen der formalen, an maschineller Beherrschbarkeit ausgerichteten Grundlagen der Informatik notwendig. [Zu wichtigen Forschungsergebnissen bzw. -Projekten dieser Phase vgl. Rolf, A. 1992; Berger, P. 1991.]

3. Phase: Entwicklung "sozialorientierter" Modell- und Methodensichten

Um soziale Aspekte wissenschaftlich nachvollziehbar in die Informationstechnikentwicklung integrieren zu können, wurden Konzepte als Erweiterung der Informatikgrundlagen entwickelt und in Forschung und Lehre umgesetzt. Im einzelnen geht es um folgende Modelle und Sichtweisen:

Akteursmodell:
Entwicklung und Nutzung von Informationstechnik werden durch soziale Akteure vorangetrieben. Die Identifikation von Akteuren und ihren Handlungsarenen mit Hilfe von Akteursmodellen kann ein kommunizierbares und transparenzschaffendes Hilfsmittel in der Entwicklung von "eingebetteten" Systemen (embedded systems) sein.

Techniknutzungspfad und Technikgenese:
Rückblickend analysierbar als ein Ineinandergreifen von interessengeleitetem Akteurshandeln (Technikgeneseforschung). Vorausschauend lassen sich (alternative) Szenarien als mögliche Fortsetzungen des Techniknutzungspfades entwickeln und dadurch Optionen künftiger Technikentwicklung und -nutzung zur Diskussion stellen (Technikfolgen- und -gestaltungsforschung).

Gestaltung durch Leitbilder:
Leitbilder (wie z.B. "Informationsgesellschaft") spielen in Gestaltungsprozessen insbesondere als akteursübergreifende Orientierungen eine wichtige Rolle - diese zu hinterfragen, in ihrer Bedeutung für einzelne beteiligte Akteure aufzuklären und ggf. auch Alternativen aufzuzeigen, sind wesentliche Aufgaben der Gestaltungsforschung. [Zu wichtigen Forschungsergebnissen bzw. -Projekten dieser Phase vgl. Rolf, A. u.a. 1990; Rolf, A. u.a. 1994; Friedrich u.a. 1995.]

4. Phase: Exemplarische Verknüpfung der neuen Modellsicht mit Informatik-Schwerpunkten sowie Technologietransfer von Forschungsergebnissen in die Praxis

In der zur Zeit andauernden Phase wird versucht, die bisherigen Ergebnisse für die an der Systemkonstruktion orientierte Informatik-Forschung und Lehre fruchtbar zu machen und exemplarisch in Schwerpunktbereichen der angewandten Informatik zu verankern. Bearbeitet werden insbesondere die Bereiche

Wirtschafts- und Organisationsinformatik:
Neben analytischer Erkenntnis werden Erklärungs-, Referenz- und Handlungsmodelle sowie Methoden und Werkzeuge entwickelt, um angemessene Informationstechnikunterstützung für Arbeitsorganisation und unternehmensübergreifende Kooperation zu konzipieren und exemplarisch zu entwickeln.

Umweltinformatik:
Über den bisherigen Rahmen der Umweltinformatik hinaus (Umweltschäden DV-gestützt erfassen und dokumentieren) wird der Frage nachgegangen, wie einzelne Akteure - insbesondere einzelne Unternehmen - methodisch und technologisch unterstützt werden können, so daß sie einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten können. Im Zentrum steht dabei eine von uns entwickelte Konzeption zur Stoffstromanalyse und ein darauf aufbauendes Stoffstrommanagement auf der Basis des zu diesem Zweck entwickelten Softwarewerkzeugs Umberto (in Kooperation mit dem ifu Institut für Umweltinformatik Hamburg GmbH und dem ifeu Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg GmbH).

Softwaretechnik und Systementwicklung:
Die Informatik als Wissenschaft liefert vor allem Grundlagen, Methoden und Modelle für die Systementwicklung in der Praxis. Um soziale und ökologische Aspekte möglichst frühzeitig (und damit ressourcensparend) in die Systementwicklung einzubeziehen, ist die Theoriebildung auch im Bereich der "Kerninformatik" auf ihre soziale Wirksamkeit hin zu befragen, und es sind praxisangemessene Erweiterungen zu suchen.

Darüber hinaus wurden Kontakte aufgebaut, um die entwickelten Methoden, Modelle und Softwareprodukte praxiswirksam werden zu lassen. Für den Bereich Umweltinformatik und Stoffstrommangement hat sich dabei insbesondere ein Interesse von Handelsunternehmen und Dienstleistern gezeigt. Praktisches Interesse haben auch zahlreiche Hochschulen, die mit Hilfe der computergestützten Ökobilanzierung Umweltthemen bearbeiten. [Zu wichtigen Forschungsergebnissen bzw. Projekten dieser Phase vgl. Möller, A. u.a. 1996; Klischewski, R. 1996; Klischewski/Ruhmann 1996; Schmidt/Häuslein 1997]

II. Übersicht über aktuelle Forschungen

Im Bereich Technikgestaltung & Technikbewertung werden z.Z. folgende Schwerpunktthemen bearbeitet:

Ein wesentliches Merkmal der Hamburger Gruppe besteht in der Integration von TA-Aspekten in klassische Informatik-Lehr- und Forschungsfelder. Auf diese Weise soll eine Verknüpfung von Verfügungs- und Orientierungswissen erreicht werden. Ein Beispiel ist die Lehrveranstaltung Umweltinformatik I : In der Einstiegsphase werden Orientierungen vermittelt, im Hauptteil stehen Methoden, Modelle, Produkte und Werkzeuge der Umweltinformatik im Mittelpunkt. Zum Abschluß der Veranstaltung werden zukünftige Szenarien entwickelt und mit den erlernten Methoden etc. rückgekoppelt (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Lehrveranstaltung Umweltinformatik I des FB Informatik an der Universität Hamburg (WS 96/97)
I. Ökologische Technikfolgenabschätzung (TA) der Informationsgesellschaft
1. Technische, ökonomische und globale Leitbilder der Informationsgesellschaft

2. Öko-TA: Exemplarische Untersuchungen
(Telearbeit, Teleshopping/WWW, virtuelle Bibliotheken, Process Reengineering etc.)

3. Methoden der Öko TA:

  • Stroffstromnetze (Beispiel Telearbeit in der Region HH),
  • Methoden der TA
II. Modell Ressourcenschlanke Produktion
1. Leitbilder des Umweltschutzes
  • Gesellschaftliche Leitbilder; Nachhaltigkeit, volkswirtschaftliche Effizienz,
    betriebswirtschaftliche Kosteneffizienz
  • Betriebliche Leitbilder des Umweltschutzes; End-of-Pipe bis Life-Cycle-Design
2. Ökonomische Werkzeuge: Ökobilanzen, BUIS, Stoffstrommanagement etc. 3. Softwarewerkzeuge für den betrieblichen Umweltschutz
Überblick, Demo und Übung am Rechner
4. Modellstudie: Ressourcenschlanke Produktion in einem Handelsunternehmen
III. Modell Qualitätsökonomie & sustainable development
Ökonomische und informatorische Voraussetzungen
(Globalisierung/Regionalisierung, dauerhafte Produkte, Life-Cycle Design,
Auswirkungen auf Organisations- und Softwaretechnikkonzepte, z.B.
Objektorientierte Methoden)

Darüber hinaus bemühen wir uns, unsere Ergebnisse in die Praxis zu bringen. Der Technologietransfer ist für uns deshalb wichtig, weil die TA-Forschung durch Realisierung von selbst entwickelten Technikoptionen einen hohen gesellschaftlichen Wirkungsgrad erreichen kann. Wir können so aber auch lernen und gesellschaftlich relevante Fragestellungen sehr schnell identifizieren. Vielleicht kann diese Vorgehensweise als aktualisierte Form der Aktionsforschung gedeutet werden.

Literatur

Berger, P.: Gestaltete Technik. Die Genese der Informationstechnik als Basis einer politischen Gestaltungsstrategie, Ffm. (1991)

Friedrich / Herrmann / Peschek / Rolf: Informatik und Gesellschaft, Heidelberg (1995), Forschungsprojekt der GI, FB 8

Klischewski, R., Kühn, M., Oberquelle, H., Rolf, A.: Technologiefolgenabschätzung des Einsatzes von Bürokommunikationssystemen - Bestandsaufnahme, Bewertung und Konsequenzen für klein- und mittelständische Betriebe in der Region Hamburg. (Forschungsbericht an die Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, 1990), Forschungsprojekt des Wirtschaftssenators der Freien und Hansestadt Hamburg.

Klischewski, R.: Anarchie - eine Leitbild für die Informatik. Von den Grundlagen der Beherrschbarkeit zur selbstbestimmten Systementwicklung. (1996)

Klischewski, R., Ruhmann, I.: Ansatzpunkte zur Entwicklung von Methoden für die Analyse und Bewertung militärisch relevanter Forschung und Entwicklung im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie. (Kooperation mit dem FIfF e.V. im Auftrag des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), Bonn, 1995; Zusammenfassung im TAB-Arbeitsbericht Nr. 45/1996).

Kubicek, H., Rolf, A.: Mikropolis - mit Computernetzen in die "Informationsgesellschaft", Hbg. (1985).

Möller, A., Häuslein, A., Rolf, A.: Stoffstrommanagement für ein mittelständisches Filialunternehmen. (Forschungsbericht an die Bundesstiftung Umwelt, 1996).

Rolf, A. (Hg.): Neue Techniken Alternativ. Möglichkeiten und Grenzen sozialverträglicher Informationstechnikgestaltung, Hbg. (1986).

Rolf, A., Berger, P., Klischewski, R., Kühn, M., Maßen, A., Winter, R.: Technikleitbilder und Büroarbeit. Zwischen Werkzeugperspektive und globaler Vernetzung, Wiesbaden (1990), Forschungsprojekt des Landes Nordrhein-Westfalen, Arbeit & Technik.

Rolf. A.: Sichtwechsel - Informatik als (gezähmte) Gestaltungswissenschaft. In: Coy, W., Rolf, A. u.a (Hg.): Sichtweisen der Informatik, Wiesbaden (1992), Forschungsprojekt VDI/VDMA.

Rolf, A., Klischewski, R., Schelhowe, H.: Anwendung - Wirkung - Gestaltung. Konzepte und Erfahrungen zur Einführung in "Informatik und Gesellschaft" im Grundstudium, FBM-Hbg. (1994).

Schmidt, M., Häuslein, A.: Ökobilanzierung mit Computerunterstützung, Berlin, Heidelberg, New York 1997.

Kontakt

Prof. Dr. Arno Rolf
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Fachbereich Informatik
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