Helmut F. Spinner: Die Wissensordnung. Ein Leitkonzept für die dritte Grundordnung des Informationszeitalters Rezension

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Helmut F. Spinner: Die Wissensordnung. Ein Leitkonzept für die dritte Grundordnung des Informationszeitalters. Opladen: Leske + Budrich, 1994

Rezension von Peter Fuchs, Brandenburgische Fachhochschule für Sozialwesen, Potsdam

Es ist für jemanden, der systemtheoretisch instruierter Soziologe ist, außerordentlich schwer, ein Buch zu besprechen, das entschieden mit dem Anspruch gesellschaftsweiter Gültigkeit seiner Thesen auftritt, aber zugleich nur sehr dünnen Gebrauch macht von dem, was als Gesellschaftstheorie gegenwärtig verfügbar ist. Die Unterscheidungen des Rezensenten stehen in diesem Fall (und nicht nur geringfügig) quer zu denen des Autors. Damit wird das Gebot der Fairness verletzt. Denn das, was der Rezensent durch seine Brille sieht, ist nicht das, was der Autor meinte, gemeint zu haben. Eine bloße Würdigung seiner komplexen Arbeit, eine bloße Betrachtung der textimmanenten Unterscheidungen wäre, wenigstens kommt mir das so vor, dem Temperament, der forcierten Diktion, der moralischen Position Helmut F. Spinners nicht angemessen. Durch den ganzen Text ist zu bemerken, daß Vorsicht, daß Zurückhaltung gegenüber anderen Möglichkeiten der Bearbeitung seiner Probleme nicht sein Teil ist. Das ist erfrischend, das ist herausfordernd, das ist wenigstens eine Haltung, die nicht unentwegt ein optionales Dementi der eigenen Auffassungen mitführt. So will ich mich dazu bekennen, daß ich mich - so dezidiert, wie Spinner über die Vorkommnisse dieser Welt urteilt - dezidiert nicht darauf versteifen werde, Systemtheorie aus dem Spiel zu lassen. Der Autor hat das ja zur Genüge schon getan.

Es geht um Wissensordnungen. Der Begriff der Ordnung wird weitgehend vorausgesetzt. Ordnung "ordnet" heißt es (S.24). Eine solche Tautologie unterscheidet nichts, sie muß also, wie Systemtheoretiker sagen würden, entfaltet werden. Die Entfaltung leistet der Text bis an sein Ende. Die Technik ist die der Amplifikation, also einer Differenzierung von Differenzen, die - ganz im klassischen Sinne - Evidenz auf Umwegen (und nicht im Sinne der brevitas, der schlagenden Kürze) zu erreichen trachtet. Vorgeführt wird, was und wie die Ordnung ordnet. Bezeichnend dafür ist die Vielzahl der Tabellen und Listen. Sie sind für Spinner offenbar das Ordnungsmedium par excellence.

Der andere Begriff im zentralen Begriff der Wissensordnung ist das Wissen. Auch hier wird hochmodern gestartet, zwischen den schlagenden Felswänden der Tautologie und der Paradoxie. Der Wissensbegriff muß alles umfassen, damit nichts an Wissen ausgeklammert bleibe. Das Ergebnis wäre, wie Spinner deutlich sieht, der Satz: Wissen ist Wissen, also eine komplette Nichtanschlußfähigkeit. Der Begriff darf aber nicht in diesem Sinne ´leer´ sein (S.24f.), er muß allgemein und spezifisch zugleich sein, also paradox. Alles Wissen muß erfaßt werden, unabhängig von jeder Spezifik, das aber spezifisch. Die Lösung ist: die im Wissen enthaltene Information, also ein Informationsgehalt des Wissens. "Information" referiert Spinner, "ist Selektion aus der Alternativenmenge eines Möglichkeitsraums." (S.26) Es gäbe zweifelsfrei einfachere, funktionalere Bestimmungen des Informationsbegriffes, die von Bateson beispielsweise, die sagt, daß Information ein Unterschied ist, der einen Unterschied macht, woraus folgt, daß nicht jeder Unterschied eine Information ist, sondern nur der, der aufgegriffen, verarbeitet wird, also in irgendeinem Beobachter Differenzen erzeugt. Aber wenn man so verführe, ließe sich schwerlich der Typ von Allgemeinheit aufrechterhalten, den Spinner schätzt und für seine Argumentation behauptet: "Dieser globale, hinreichend verallgemeinerte und trotzdem nicht bis zur Entleerung übergeneralisierte Informationsbegriff dient im folgenden ´als Mädchen für alles´, zur wertfreien Erfassung von ´Wissen aller Arten, in jeder Menge und Güte´ im Gestaltungsfeld der verschiedensten Wissensordnungen." (S.26) Wir wollen nicht darüber richten, ob mit einem solchen Begriff überhaupt noch irgendetwas gesehen werden kann, sondern nur festhalten, daß mithin Information identisch ist mit Wissen. Es verwundert dann nicht mehr, wenn von informativem Wissen die Rede ist. (S.28)

Jedenfalls hat dieses informative Wissen Eigenschaften, und dies ist einer der Punkte, an denen es dem wissenschaftlichen Beobachter (aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur ihm) schwindlig wird: Es ist nämlich in gewissem Sinne "unstofflich" (immateriell). Es hat keine physischen Qualitäten, ist aber gerade "wegen seiner physischen Eigenschaften weitgehend entbunden von Ort und Zeit... hat fast gottähnliche Eigenschaften geistiger Allgegenwart, endloser Existenz, potentieller Ubiquität..." (ebenda) Und es ist gekennzeichnet durch Höherqualifizierbarkeit. Vor allem dieser Gesichtspunkt überrascht, denn ihm soll epistemologisch die Wahrheitsfähigkeit von Wissen entsprechen, eine "eingebaute Wahrheitsneigung" Wissen ist nicht irgendein Wissen, ist nicht doxa, sondern "wahrheitsfähige Information". (S.29) Woraus dann folgt, muß man schließen, es gibt auch nicht wahrheitsfähige Information, also wahrheitsunfähiges Wissen. Das liegt dann an "mißbräuchlichen Wissensbenutzern", woraus wiederum folgt, daß es die Wahrheit gibt, also mindestens im Blick auf die Welt in irgendeiner Form parallelisierbare Beobachter, die korrekter beobachten als andere, dann eben idiosynkratische Beobachter. Wie auch immer, Helmut F. Spinner nimmt offenbar eine Beobachtungsposition ein, von der aus er Wahrheit und Unwahrheit unterscheiden und Wahrheit bezeichnen kann. Es überrascht dann ein wenig, wenn gleichwohl behauptet wird, hier werde ein nichtemphatischer Wissensbegriff (S.34) eingesetzt.

Von dieser Wahrheit/Unwahrheit unterscheidenden Position aus können Theorieunternehmungen "auf breiter Front, von der Kybernetik bis zur Gehirnforschung und Gesellschaftstheorie" seltsamer Denkfehler überführt werden. (S.41f.) Sie unterwerfen sich der Mode des Denkens in ausdifferenzierten Systemen, letztlich der Bizarrerie des Systemdenkens. Die Systemtheorie erfährt von Spinner, daß sie so tut, als sei "Differenzierung an sich etwas Gutes, Richtiges und Wichtiges, egal welches Problem ansteht..." (Ebenda) Was sie aber tatsächlich tut (und insofern hat der Autor noch einen Blick auf das Unbewußte der Systemtheorie), sie "überdeterminiert" die Wissensordnung und "nivelliert" das Wissensfeld. Sie wagt es, die Produktion von Wissen als eine bestimmte gesellschaftliche Operation aufzufassen, zu behaupten, diese Produktion sei eine unter anderen der Gesellschaft. Sie spezifiziert, worüber sie redet, statt, wie es richtiger nach Spinner wäre, festzuhalten, daß sich das Wissen systemischer Ordnung entzieht. Denn weder der Systembegriff noch der Lebensweltbegriff in der Variation von Habermas seien geeignet, der Wissensordnung jene Unordnung zu lassen, die sie nach Spinner braucht. (S.42) Es sei "befremdlich", daß die Systemtheorie den Menschen "draußen stehen lasse", denn - und wieder: in Wahrheit - sei er der "kognitive Akteur", "Wissenserzeuger", "Wissensverbreiter" mit einem Maß an Freiheit, das seine Determination verhindere.

Dies ist, man muß es am Rande festhalten und offen und ehrlich aussprechen, nur zu verstehen, wenn man davon ausgeht, daß der Autor von seiner wahrheitsfähigen Warte aus darauf verzichtet hat, die Arbeiten, die er zitiert, zu lesen. Die Systemtheorie redet nur äußerst vorsichtig vom Kompaktkonzept des Menschen, sie spricht über psychische und soziale Systeme und behauptet nichts weiter, als daß sie unterschieden seien. Aber auch wenn irgendjemand noch meint, daß sich darüber streiten lasse, so würde doch schon ein flüchtiger Blick auf die allgemeine Soziologie zeigen, daß sie nicht von der kuriosen Vorstellung ausgeht, die Gesellschaft setze sich aus Menschen zusammen. Sie spricht statt dessen von Handlungen, die aufeinander bezogen sind, und die soziologie-interne Differenz zwischen Systemtheorie und anderen Theorien besteht doch nur darin, daß jene es vorzieht, von Kommunikationen als Einheit des Sozialen zu sprechen, und diese darauf setzt, Handlungen die Priorität zu erteilen.

Aber sei´s drum! Niemand ist gezwungen, Systemtheorie zu betreiben oder sich den Theoremen allgemeiner Soziologie anzuschließen. Man kann statt dessen (und auch dies ist nicht verboten) davon unabhängig das "Insgesamt der wissensverbundenen Grundverhältnisse des Menschen" identifizieren und die entscheidenden Ordnungsdimensionen zur Sprache bringen. Als da sind: Haben, Wollen, Handeln, Können. Damit ist klar, daß der Autor über eine gültige Anthropologie verfügt, die es zuläßt, aus der Quaternität der Grundbestimmungen Tabellen zu entwickeln. (S.45) Und wir sagten schon, daß das tabellarische Denken für Spinner offensichtlich das Ordnungsmedium schlechthin ist. Man könnte hinzufügen, sofern man leichte Neigungen zur Bosheit hätte, er ist Scholastiker, dem noch niemand im Sinne Ockhams entgegengehalten hat: Non sunt multiplicanda entia praeter necessitatem! Es geht offenbar nicht um die Konsistenz der begrifflichen Optionen, sondern um dezisionistische Amplifikation. Die bedauerlichste Folge ist für den Rezensenten ein unglaublicher Eleganzverlust - Der Flug Spinners findet nicht über den Wolken statt, er geht durch die Wolken.

Der Rezensent kann nur vermelden, daß er versucht hat, mitzufliegen, aber in den Wolken, von denen der Autor aus die ganze Welt sieht, nichts gesehen hat. Das liegt, fraglos, an ihm, dem die Verfügung über Wahrheit und Unwahrheit nicht gegeben ist, vor allem aber nicht eine Moral, von der aus sich die Probleme der modernen Weltgesellschaft aus den Angeln heben lassen. Es ist aber auch möglich, daß sein Gedächtnis durch Reihen von Listen und Tabellen einfach überfordert ist, denen die Gedächtnisstütze der Empirie fehlt.

Schließlich: Tabellarische Amplifikation und Theoriebildung schließen sich aus. Man hätte besser keinen Theoretiker fragen sollen, wenn man wissen will, was Spinner wirklich beobachtet hat.

Kontakt

Prof. Dr. Peter Fuchs
Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
Fachhochschule-Neubrandenburg
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