TA’15-Jahrestagung „Zukunft, Macht, Technik“, Institut für Technikfolgen-Abschätzung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Tagungsberichte

Zukünfte und Technologieentwicklung – Wechselseitige Beeinflussung als Herausforderung für die Technikfolgenabschätzung

Bericht von der TA’15-Jahrestagung „Zukunft, Macht, Technik“, Institut für Technikfolgen-Abschätzung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

Wien, Österreich, 1. Juni 2015

von Ulrike Bechtold, Daniela Fuchs und Niklas Gudowsky, Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA), Wien, Österreich[1]

Die Frage, wie Zukunftsvorstellungen und Technologieentwicklung sich wechselseitig beeinflussen (können) und welche Rolle der Technikfolgenabschätzung bei der Auseinandersetzung mit möglichen zukünftigen Entwicklungen zukommen könnte, stand im Mittelpunkt der 15. Jahrestagung des Instituts für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dabei wurde das Verhältnis von (imaginierten) Zukünften und Technologie aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie die Technikfolgenabschätzung mit der Möglichkeit vielfältiger Zukunftsvorstellungen umgehen könnte – und wie diese Vorstellungen wiederum aktuelle Technologieentwicklungen gestalten. Neben TA-theoretischen Auseinandersetzungen wurden institutionelle Perspektiven und Ansätze aus ausgewählten Einzeldisziplinen diskutiert.

Zwei Keynotes befassten sich mit der Frage, inwiefern sich überhaupt wissenschaftliche Aussagen über Zukunft treffen lassen und wie die TA mit solcher Zukunftsoffenheit umgehen kann. Leena Ilmola-Sheppard (IIASA, Laxenburg/Österreich) sprach diesbezüglich über die Grenzen der Antizipation und die daraus resultierende Unsicherheit bei Entscheidungen. Armin Grunwald (ITAS, Karlsruhe) stellte vor, wie imaginierte Technikzukünfte gesellschaftliche Debatten strukturieren und damit Technikentwicklung beeinflussen können.

1     Offene Zukunft als Herausforderung für die TA

Anhand des Konzepts des Prosumers beleuchteten Sascha Dickel und Jan-Felix Schrape zwei Medienutopien des 21. Jahrhunderts. Die Beispiele Web 2.0 und 3D-Drucker dienten dazu zu zeigen, dass der Technik in beiden Fällen aufklärerisches Potenzial zugeschrieben werde (Empowerment, Demokratisierung und Dezentralisierung). Die in den Utopien versprochenen Revolutionen, die mittels utopischer Semantik vermittelt würden, wichen jedoch von den empirisch tatsächlich stattgefundenen Pfaden ab. Helge Torgersen und Daniela Fuchs widmeten sich in ihrem Vortrag mythisierten Vorstellungen von Zukunft, die besonders im Fall der Emerging Technologies eine Rolle in der Darstellung und Einordnung der jeweiligen Technologie spielen könnten. Das Beispiel Neuro Enhancement zeige, wie über semiologische Ketten Begriffen bewusste Bilder impliziert werden, die sich durch neue, nicht-sachbezogene Vorstellungen in Mythen transformieren. TA könne in diesem Kontext über Dekontextualisierung und Rekontextualisierung als „Myth-Buster“ fungieren.

Arianna Ferraris Vortrag beschäftigte sich mit Überlegungen zu einem (noch utopisch anmutenden) Wissensobjekt: In-vitro-Fleisch. Während erste Ideen dazu bereits in den 1930er Jahren entstanden, habe die Diskussion neuen Aufschwung bekommen, als 2013 ein Burger aus Rindermuskelstammzellen hergestellt und medienwirksam verkostet wurde. Die Diskursanalyse ergab eine Kommunikation von Vorteilen sowohl aus Sicht der Nachhaltigkeit als auch aus ethischer (keine Tötung von Lebewesen) oder ökonomischer Perspektive (Effizienzsteigerung der Fleischproduktion). Damit entstünden neue gesellschaftliche Problemfelder, zu deren Beforschung TA einen wichtigen Beitrag leisten könne. Der Verfestigung des Zukunftsbildes Industrie 4.0 widmete sich Georg Reischauer: Unternehmen hätten dabei eine bedeutende Rolle, da sie diese konkretisieren und institutionalisieren.

Stefan Böschen befasste sich in seinem Vortrag mit dem Begriff der Selbstbindung in Bezug auf Risikodiskurse und Debatten der Öffnung, wie etwa Partizipation, Inklusion, Governance oder Resilienz. Selbstbindung bedeute die Begrenzung des Optionenraumes und gleichzeitig die Entdeckung bisher noch unbekannter Optionen. Entlang dreier Risikoformen – Umwelt-, Personalitäts- und Transformationsrisiken warf er die Frage auf, wie experimentelles Selbstverständnis, institutionelle Settings und das Phänomen der Selbstbindung zusammenhängen. Kontrovers diskutiert wurde u. a. die Frage, inwieweit Selbstbindung letztlich auch Fremdbindung bedeute. Martin Meister und Ingo Schulz-Schaeffer behandelten verschiedene Rollen von Szenarien in der Technikentwicklung im Bereich Ubiquitous Computing und fragten nach der tatsächlichen Wirkung gedachter Zukunft. Szenario definierten sie allgemein als Darstellung möglicher Zukünfte, wobei sie auf konkrete und generische Szenario-Formen in der Technikentwicklung fokussierten. Als Beispiel ersterer erläuterten sie, wie durch das Erfassen von Verhaltensmuster und konkreter Alltagsszenarien Ambient-Assisted-Living-Technologien gestalten werden könnten. „Generisch“ wurde als eine Art Annäherungsszenario bzw. Heuristik begriffen, um dann ein konkretes Szenario erarbeiten zu können.

Einen Schwerpunkt im Bereich der Technikutopien und sich realisierender Technologiekonzepte bildete das Thema Big Data. Reinhard Heil stellte das Projekt „ABIDA. Assessing Big Data“ vor, das mittels ExpertInnenworkshops, Fokusgruppen und BürgerInnenkonferenzen Einschätzungen und Erwartungen zur Entwicklung von Big-Data-Anwendungen untersucht. Die Begriffe „Hope-Vision“ und „Fear-Vision“ wurden vorgestellt, die eine „Berechenbarkeit“ der Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschreiben. Unterschiedliche Typen von Big Data, z. B. öffentliche, staatliche, private Daten und deren Relevanz für Szenarien sowie das Spannungsfeld Autonomie des Individuums und Statistik wurden aufgeworfen. Ingrid Schneider fragte, ausgehend von Betrachtungen zur Privatsphäre sowie Grund- und Freiheitsrechten, wer wirksamen Datenschutz in der digitalisierten Welt verteidigen könne. In ihrer Analyse standen insbesondere Verfassungsgerichte, der Europäische Gerichtshof sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als „Hüter von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten“ im Mittelpunkt. Beispiele waren Urteile zur Vorratsdatenspeicherung und das „Recht auf Vergessen“. Im Hinblick auf TA wurden eine stärkere Einbindung von JuristInnen sowie eine „Rechtsfolgenabschätzung“ gefordert.

2     Gestaltbarkeit der Zukunft und die Rolle von Methoden

Andreas Lösch, Reinhard Heil und Christoph Schneider untersuchten Visionen als sozio-epistemische Praktiken, die in Innovations- und Transformationsprozessen wirksam werden. Das Wissen darüber sei für beratende TA relevant. Visionen hätten damit mehrere Funktionen: Schnittstellen zwischen Gegenwart und Zukunft, Kommunikation ermöglichende Medien, Grenz- oder Wissensobjekten; Handlungsermöglichende Wissensobjekte; Leitbilder der Orientierung und Koordination. Visioneering als Prozess des „Zukunftmachens“ wurde anhand von Big Data, smart grids sowie FabLabs und 3D-Druckern beleuchtet. Abschließend stand die Diskussion, welche Typen von Visionen für die TA durch Vision Assessment nutzbar wären.

Am Beispiel von Innovationen für das Leben im Alter untersuchten Mahshid Sotoudeh, Leo Capari, Niklas Gudowsky und Ulrike Bechtold wie qualitative Zukunftsstudien als Ausgangspunkt für multi-dimensionale Entscheidungen im Innovationssystem genutzt werden. Szenario- und Visionsgestaltungsprozesse aus mehreren Projekten im Bereich Altern und Technik wurden im Vortrag als Beispiele herangezogen. Michael Decker stellte im Kontext von Pflegearrangements die Nutzung von imaginierten Technikzukünften in der bedarfsorientierten TA vor. Die vorgestellte Bedarfsanalyse gab Aufschluss darüber, was Beteiligte wirklich bräuchten. Eine Liste mit technischen Optionen wurde daraufhin von TechnikerInnen erstellt und den NutzerInnen zur Revision vorgelegt. Betont wurde die Rolle der TA als Mediator zwischen realer Techniknutzung im Pflege- und Betreuungsalltag sowie der Welt der TechnikentwicklerInnen, so Decker.

Veronika und Sebastian Schmid untersuchten die Zukunftsbilder von Studierenden. Ein pessimistisches, technikzentriertes Zukunftsbild, getragen von Ressourcenknappheit und Konflikten stehe dem Wunsch nach einer Welt entgegen, in der weniger Leistungs- und Gewinnorientierung vorherrscht und soziale Werte wie Chancengleichheit an Bedeutung gewinnen. Dies deute auf ein nur gering ausgeprägtes utopisches Denken in gesellschaftlichen Fragen hin. Michael Scharp setzte sich mit der Wissenschaftlichkeit der Methode des Horizon Scanning vor dem Hintergrund sprachanalytischer Probleme auseinander. Der Vortragende verwies auf methodische Ähnlichkeiten zur Vorgangsweise der TA. Kritisch angemerkt wurde hierbei, dass die aufgezeigten Probleme des Horizon Scanning sich in allen möglichen Wissenschaftsgebieten zeigen und eine suggerierte klare Trennung zwischen Natur- und Sozialwissenschaften nicht haltbar sei.

3     Partizipation in der Zukunftsgestaltung

Wie könnte die Rolle von BürgerInnen und Stakeholdern bei der Gestaltung von Zukunft aussehen? Wie sehen verschiedene Disziplinen ihre eigene Rolle und jene von BürgerInnen im Zusammenhang mit Verantwortung für zukünftige Prozesse? Diese Fragen wurden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet: In seinem Vortrag rund um Debatten im Zusammenhang mit Demokratisierung und Verantwortung plädierte Thomas Völker dafür, Möglichkeiten einer partizipativen Wissenschaft auszuloten, die nicht nur für, sondern auch mit PraxispartnerInnen in der Gesellschaft arbeite. Hierbei dürfe aber das Risiko, das eine solche Abkehr vom wissenschaftlichen Mainstream gerade für junge Wissenschaftlerinnen berge, nicht außer Acht gelassen werden. Die Hinwendung von DesignerInnen zur Intervention im gesellschaftlichen Diskurs spielte im Beitrag von Anouk Meissner und Frank Heidmann eine zentrale Rolle: Im Gegensatz zum herkömmlichen Designansatz liege der Fokus kritischer Ansätze nicht darauf, konkrete Probleme zu lösen, sondern eher darin, sie zu benennen. Der Wert von „Critical Design“ liege daher weniger in einer Realisierung von Ideen, sondern in einer Visualisierung existierender Phänomene, wie beispielsweise zunehmende Überwachung, die eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglichen solle. Eine Verschiebung von Verantwortung hin zu BürgerInnen präsentierte Carolin Thiem anhand zweier Beispiele („Maerker“ und „Ideenkanal.com“). Das Konzept des „Citizensourcing“ lagere Problemerkennung und -behandlung, und folglich Verantwortung, an BürgerInnen aus. Bei solchen, durch neue Technologien ermöglichten Beteiligungsformen, könnten aber auch eventuelle Parallelen und eventuell Synergien zu traditioneller Partizipation bestehen

4     Vom Umgang mit Geschichte

Das Verhältnis von TA zu Vergangenem, zur methodischen Integration von Historie und zur Bedeutung von Utopien für die TA standen im Mittelpunkt dieser Session. Der Beitrag von Torsten Fleischer und Silke Zimmer-Merkle ging der Frage nach dem Umgang mit Geschichte in der TA nach. Basierend auf der These, dass sich TA auch bei der Beantwortung historischer Fragen vorrangig auf Wissensbestände der eigenen oder nah verwandten Disziplinen berufe, forderte der Beitrag, interdisziplinäre Kompetenzen stärker zu nutzen und auch TechnikhistorikerInnen in die TA einzubeziehen. Johannes Schmidl stellte in seinem Beitrag die Frage, ob das Konzept utopischen Denkens eine Zukunft in der TA verdiene: Denn obwohl an einem Ziel orientiert, würden utopische Denkmodelle keine praktischen Handlungsempfehlungen aufzeigen. Der Beitrag plädiert in seiner Conclusio für eine bewusste Annäherung an den Utopie-Diskurs, da einerseits implizite utopische und dystopische Vorstellungen allgegenwärtig seien und andererseits positive, utopische Bilder zur Inspiration und Motivation dienten. Diskutiert wurde unter anderem der Umstand einer utopiearmen Gegenwart als Reaktion auf dystopische Realversuche des 20. Jahrhunderts.

5     Zukünfte zwischen Politik und TA – Von Nano bis Energie

Die Session war dem Verhältnis von Zukunftsvorstellungen und realen Implikationen auf der Ebene konkreter Politik gewidmet. André Gazsó präsentierte das Projekt NanoTrust und seine verschiedenen Aufgaben an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Regulative und der (interessierten) Öffentlichkeit. Das Projekt bediene unterschiedliche Medien und Prozesse, um das österreichische Nano-Risiko-Governance-System zu begleiten und weiter zu entwickeln. Interesse beim Publikum weckte die genaue Verortung des Projekts und seine Rolle im Bereich zwischen Regulierung und Wissenschaft. Judith Simon und Bernhard Rieder untersuchten die politische Entscheidungsfindung mittels Big-Data-Analysen und den daraus resultierenden Implikationen für die TA. Einem historischen Abriss der langwährenden Verknüpfung von Staat und Statistik folgte das Verhältnis von Big Data und Methoden der Technikfolgenabschätzung. Während Big Data auf Politikebene ein Hype attestiert wurde, sei die Aussagekraft von Prognoseanalysen jedoch begrenzt. Das Autorenteam Jens Schippl, Torsten Fleischer, Armin Grunwald und Bernhard Truffer reflektierten am Fallbeispiel „Entwicklung der Elektromobilität in Deutschland“ soziotechnische Entwicklungspfade als Ergänzung zu technologiezentrierten Betrachtungsweisen. Eine reine Fokussierung auf institutionelle Faktoren in der Akzeptanz der Elektromobilität sei zu kurz gegriffen, da andere Projekte den Einfluss technologischer Einschränkungen bzw. der Akzeptanz alternativer Energiekonzepte (z. B. Photovoltaik) zeigten. Aus Sicht des Verfassungsstaates hinterfragte Michael Goldhammer inwieweit dieser zukunftsgestaltende Macht habe. Basierend auf der Vergangenheit habe Verfassungsrecht notwendigerweise kein Zukunftsbild; aus dem Wesen der Demokratie und der Gewaltentrennung ergebe sich die Notwendigkeit, dass sich Gegenwartswahrnehmung und Zukunftsbilder institutionell ausdifferenzieren. Stefan Aykut lieferte Vorschläge für eine soziologische Betrachtung von Vorausschau in der Energiepolitik. Zukunftswissen könne hier einerseits Governance-Instrument, andererseits Objekt soziotechnischer Kontroversen und damit Medium der stetigen Neuverhandlung der Grenze zwischen Wissenschaft und Politik sein. Drittens könne Zukunftswissen zur kritischen Rezeption der Energiepolitik der öffentlichen Debatte beitragen.

6     Fazit

Sowohl anhand aktueller Bilder über Zukünfte bestimmter Technologien als auch der Rolle von Zukunftsbildern für die Gegenwart wurden die Beziehungen zwischen Gegenwart und Zukunft aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Dabei spielte auch die Frage eine Rolle, was Zukunftsideen über die Gegenwart aussagen und wie sich Macht anhand von Technikutopien manifestieren und zu irrationalen Handlungsketten in Politik, Forschung und Medien führen könne. Als essentiell wurde die Berücksichtigung von Verantwortung und Partizipation bei der Beschäftigung mit der Zukunft gesehen. Im Hinblick auf die Konzeption von Zukünften plädierten einige Vortragende für eine Umverteilung und teilweise Neudefinition von Verantwortung zugunsten von mehr Partizipation in unterschiedlichen Bereichen und Disziplinen. Betont wurde das Wechselspiel zwischen Technik- und anwendungsorientierter Wirksamkeit von Zukunftsbildern wie Szenarien oder Visionen und damit die Rolle der TA als Mediator zwischen realer Techniknutzung und der Welt der TechnikentwicklerInnen. Unter Berücksichtigung neuer, bisher wenig integrierter Disziplinen könnten sich neue Perspektiven für TA im Zusammenhang mit Technikgestaltung ergeben. Daraus resultierende reale Implikationen für gegenwärtige Governance-Strukturen, dienen als Ausgangspunkt für weitere, dynamische Entwicklungen. Zukunftsbilder müssen damit als Bilder der Zeit verstanden werden, in welcher sie entstanden sind.

Anmerkung

[1] Unter der Mithilfe von Leo Capari, Anja Gänsbauer, Astrid Mager, Daniel Romanchenko und Stefan Strauss.