Mobilität für morgen - Chancen einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik
"Mobilität für morgen - Chancen einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik"
Rezension von Günter Halbritter, ITAS
Die ungebrochene Dynamik der Entwicklung des Straßenverkehrs während der vergangenen Jahrzehnte machte die Verkehrspolitik zu einem immer bedeutenderen Handlungsbereich. Mobilität für alle droht zur Immobilität zu werden. Nicht nur die erheblichen Auswirkungen des Verkehrs auf die menschliche Gesundheit und auf die natürliche Umwelt, sondern auch die zunehmenden Ineffizienzen der Verkehrsabläufe verlangen überzeugende politische Lösungen. Mobilität langfristig und umweltverträglich zu sichern, heißt die nicht nur von der Politik ausgegebene Parole. Große Hoffnungen werden dabei auf neue technische Systeme, insbesondere den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechniken (IuK-Techniken) im Verkehrsbereich, gesetzt. Programme und Projekte, wie PROMETHEUS, DRIVE, FRUIT und STORM sind die realen Ausprägungen dieser Hoffnungen.
Diese Hoffnungen auf "High-Tech"-Lösungen im Verkehrsbereich teilen die beiden Autoren Rudolf Petersen und Karl Otto Schallaböck in dem Buch "Mobilität für morgen - Chancen für eine zukunftsfähige Verkehrspolitik" nicht. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht vielmehr die Forderung nach einer grundlegenden Verkehrswende. Einer kritischen Bewertung der Mobilitätsentwicklung und ihrer Ursachen folgt eine Auseinandersetzung mit den gängigen Rezepten der verschiedenen Akteure der Verkehrspolitik. Nach einer ausführlichen Analyse der Ursachen und Hintergründe der vorliegenden Verkehrssituation und -entwicklung schlagen die Autoren auch Maßnahmen zur Erreichung der geforderten Verkehrswende vor.
Die beiden Autoren, Mitarbeiter des Wuppertal-Instituts, führen mit dieser Veröffentlichung die Arbeiten dieses Instituts zur Neuorientierung der Industriegesellschaft in Hinblick auf ein "zukunftsfähiges Deutschland" fort und konkretisieren die hierfür notwendigen Anforderungen für das Politikfeld "Verkehr". Ausgangspunkt der Neuorientierung ist das seit der UN-Konferenz "Umwelt und Entwicklung" in Rio de Janeiro im Jahre 1992 weltweit verbindlich gewordene Handlungskonzept des "sustainable development". Die große Akzeptanz dieses Konzepts beruht sicherlich auch in der bisher nicht erfolgten Präzisierung der Handlungserfordernisse, die sich aus diesem Konzept ergeben. Das Wuppertal-Institut hat sich mit einer Reihe neuerer Veröffentlichungen der Aufgabe gestellt, diese Konkretisierung zu leisten und das vorliegende Buch stellt sich dieser Aufgabe für den wichtigen Politikbereich Verkehr.
In den einleitenden Ausführungen zu den gängigen Zukunftsvorstellungen im Verkehrsbereich bekommt der Leser bei der Beschreibung und Bewertung neuer technischer Entwicklungen, wie insbesondere den IuK-Techniken im Verkehrsbereich, nicht nur nüchterne Informationen geboten, sondern auch eine Portion Ironie über die Flops technischer Innovationsbemühungen. Als Beispiel für eine nicht an den Bedürfnissen orientierte Technikentwicklung wird der erhebliche Aufwand für "High-Tech"-Lösungen insbesondere im Hochgeschwindigkeitsfernverkehr den eher bescheidenen Verbesserungen in dem vom Alltagsverkehrsteilnehmer zumeist praktizierten Nahverkehr gegenübergestellt. Eine besondere Brisanz erhält die in den Industrieländern praktizierte Mobilität, insbesondere die Automobilität, wegen ihres Modellcharakters für die Teile der Welt, die keinen fortgeschrittenen industriellen Entwicklungsstand besitzen. Das Modell Deutschland, im Bereich praktizierter Automobilität weltweit übertragen, ist wegen der damit verbundenen erheblichen globalen Umweltauswirkungen schwer vorstellbar.
Im Kapitel "Konjunktur der falschen Rezepte" werden die im Augenblick von Politik und Industrie mit großen Erwartungen verfolgten technischen Lösungsansätze kritisch bewertet. Technische Konzepte sind nach Meinung der Autoren nur Intrumente und können verkehrspolitische Gesamtkonzepte nicht ersetzen. Diese Gesamtkonzepte müssen insbesondere auch Verhaltensänderungen berücksichtigen. Die kritische Einschätzung der Rolle der Technik gilt dabei nicht nur dem Einsatz der bereits genannten neuen IuK-Techniken im Verkehrsbereich, sondern auch neuen Konzepten der Antriebstechnik. Trotz dieser grundsätzlichen Skepsis werden bei den Antriebstechniken eine Reihe interessanter Konzepte angesprochen, die zur Entlastung der Verkehrsproblematik beitragen können. Die im Augenblick in der Erprobungsphase befindlichen Verkehrsmanagementsysteme auf der Basis moderner IuK-Techniken sind zu stark vom Auto her konzipiert und können daher nicht zur Entlastung des Verkehrssystems beitragen. Wirkungsvolle Leitsysteme müssen vielmehr bei den Haushalten einsetzen.
Den verstärkten Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente bewerten die Autoren kritisch. In der verstärkten Privatisierung von Verkehrsleistungen sieht man keinen geeigneten Weg, da diese nur zu einer verstärkten Angebotspolitik für Verkehrsleisungen führen wird. Die Skepsis wird u.a. damit begründet, daß wettbewerbsverschiebende Rahmenbedingungen, wie z.B. die seit langem bekannte Kostenunterdeckung des Straßengüterverkehrs, bisher nicht politikwirksam wurden. Vielmehr wurde die Kfz-Steuer für LKW während der letzten Jahre sogar real gesenkt.
Im Kapitel "Politikebenen und Akteure" werden die verschiedenen verkehrspolitischen Handlungsebenen angesprochen, die der Kommunen, der Länder, des Bundes und der Europäischen Union. Alle Ebenen haben eine Politik favorisiert, die seit mehr als 60 Jahren auf das Auto und den Bau von Autobahnen fixiert ist. Wichtige Akteure sind in Deutschland auch die Verbände, die erheblichen Einfluß besitzen. Selbst im Bereich des öffentlichen Verkehrs ist die Tendenz zu technischen Großprojekten auszumachen, wie die Präferenz des U-Bahnbaus im Rahmen der Förderung durch das Gemeinde-Verkehrsfinanzierungsgesetz zeigt. Besondere Kritik gilt auch den Ländern bei der im Augenblick praktizierten direkten und indirekten Förderung des Ausbaus von Regionalflughäfen. Im ÖPNV-Modell der Stadt Zürich sehen die Autoren einen interessanten Ansatz für den öffentlichen Verkehr, der auch in Deutschland stärker berücksichtigt werden sollte. Auch findet die in Deutschland praktizierte Entscheidungsfindung beim Bau und Ausbau von Verkehrsbauwerken mittels Kosten-Nutzen-Analysen Kritik. Neue Planungsverfahren, wie Least cost planning und Umweltverträglichkeitsprüfungen, sollten in Zukunft verstärkt eingesetzt werden. Die Planungen sollten sich dabei an neuen Zielvorstellungen, wie Nutzungsentmischung, Siedlungsverdichtung und dezentrale Konzentration, orientieren.
Auch bei der Lösung der durch Verkehrsaktivitäten verursachten Umweltprobleme besteht nach Meinung der Autoren eine Fixierung auf technische Ansätze. Diese Technikorientierung wird jedoch nicht im Sinne des aus den USA bekannten "technology forcing" praktiziert, sondern in einer "Verbindung von Industrielobbyismus und untergesetzlicher Normgebung". Parlamentarische Gremien werden auf diese Weise von der Entscheidung zu technischen Fragen weitgehend ausgeschlossen. Diese Praxis hat dazu geführt, daß die Einführung der Katalysatortechnik um zehn Jahre "verschlafen" wurde. Als weiteres Beispiel für unwirksame technische Maßnahmen wird auf die ASU- und AU-Prüfungen verwiesen. Hemmend für überzeugende Umweltschutzlösungen wirkt sich auch der für Umweltschutznormen geltende Einheitlichkeitsgrundsatz der EU aus, der in dieser restriktiven Form nicht einmal im Bundesstaat USA praktiziert wird.
Das Kapitel "Ziele und Strategien für eine Verkehrswende" legt die Notwendigkeit eines ökologischen Strukturwandels dar. Eine Politik, die diesen Strukturwandel fördern will, muß einmal die vereinfachten Argumentationsschemata der Interessengruppen offenlegen und auch die Gewinner und Verlierer der praktizierten Politik identifizieren. Die augenblickliche Politik zeichnet sich durch einen Mangel an koordinierter Vorgehensweise aus, die dazu führt, daß alle Verkehrsarten mehr oder weniger gleichmäßig gefördert werden. Bei der Erfolgsdarstellung werden häufig weniger die Ergebnisse als der geleistete Aufwand präsentiert. Auch vermeidet es die bisherige Politik häufig, klare Zielsetzungen zu benennen, sondern sie stellt sich vielmehr als Dienstleistung für den konsumierenden Bürger dar. Eine Politik, die die vorliegenden Blockaden überwindet, muß eine deutliche Akzentverschiebung von der Angebots- zur Nachfragepolitik im Verkehr leisten. Eine zukunftsgerechte Verkehrspolitik muß vor allem durch außerverkehrliche Maßnahmen Verkehr überflüssig machen. Die Autoren weisen auf die kontraproduktive Wirkung von Szenarienuntersuchungen hin. Sie fordern statt dessen den Entwurf von "Bildern einer ökologischen Zukunft". Die notwendigen weitgehenden Änderungen werden nach Ansicht der Autoren nicht mit den vorliegenden hierarchischen Entscheidungsstrukturen möglich sein. In der Erfolgsgeschichte des Züricher Verkehrsmodells sieht man auch ein Modell für die Entwicklung innovativer, lokal differenzierter Lösungen mittels Bürgerbeteiligung. Besondere Bedeutung bei der Erreichung der angestrebten Ziele kommt ökonomischen Steuerungsinstrumenten zu. Diese werden als chancenreich, nicht jedoch als grenzenlos angesehen.
Nach den "Zielen und Strategien für eine Verkehrswende" und den "Bildern einer künftigen Mobilität" stellt die Studie "eine neue Qualität für Bus und Bahn" vor. Abschließend geben die Autoren eine Reihe konkreter Politikempfehlungen für den geforderten "tiefgreifenden Strukturwandel im Verkehr und in den angrenzenden, die Verkehrsnachfrage bestimmenden Politikbereichen", wie Tempolimit, Subventionsabbau, Reduktion der Straßenbauinvestitionen, Angebotsausbau im öffentlichen Verkehr, Verbrauchsvorschriften für PKW, verursachergerechte Schwerverkehrsabgabe und Parkkosten in Kommunen.
Den Autoren ist es gelungen, die Vekehrsproblematik aus der oft geforderten ganzheitlichen Perspektive in ihren komplizierten Zusammenhängen darzustellen. Es wird überzeugend dargelegt, daß die weitreichenden Ziele einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung nicht nur durch technische Lösungen erreicht werden können, sondern daß ein tiefgreifender Strukturwandel im Verkehr und in den die Verkehrsnachfrage bestimmenden Politikbereichen stattfinden muß. Auch wird deutlich gemacht, daß die Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung prioritär eine Aufgabe der Industrienationen ist und nicht über "joint venture" auf die technisch nicht so entwickelten Länder verlagert werden kann. Das Buch gibt eine Fülle von Interpretationen zu den komplizierten Zusammenhängen in diesem Politikbereich, dabei wäre eine stärkere "Unterfütterung" mit empirischen Fakten manchmal wünschenswert gewesen. Dies ist auch deshalb von Bedeutung, da die Verkehrspolitik immer noch von vielen nicht sachgerechten Voreinschätzungen geprägt ist, die erhebliche politische Bedeutung besitzen, wie die immer wieder verkündete Einschätzung zur begrenzten Leistungsfähigkeit des öffentlichen Verkehrs.
Die Fülle der oft nur kurz angesprochenen Interpretationen der vorliegenden Fakten macht die Brisanz vieler Einschätzungen nicht genug deutlich. So wäre z.B. die "als Verbindung von Industrielobbyismus und untergesetzlicher Normensetzung" bezeichnete Praxis der Ausschaltung legitimierter, parlamentarischer Institutionen eine ausführlichere Darstellung wert gewesen. Auch die Kritik an der technokratischen Politik der verschiedenen Akteure wird durch die generelle Forderung nach Abbau von hierarchischen Entscheidungsstrukturen relativiert. Es wäre von Interesse gewesen, die Gründe zu untersuchen, warum die in den USA, speziell in Kalifornien, praktizierte Politik des "technology forcing" möglich ist, in Deutschland jedoch scheitert. Die gefundenen Einschätzungen werden zur Kontroverse herausfordern, die angesichts der vorliegenden Situation nur förderlich sein kann, um sachgerechte Politikoptionen zu entwickeln. Bei den Überlegungen zur Umsetzung der gewonnenen Einschätzungen in alternative Politikoptionen liegt jedoch ein Defizit dieser Studie. Es besteht die Gefahr, daß die Fülle von Erkenntnissen und Empfehlungen politikunwirksam bleiben wird, da aus der Problemanalyse keine alternativen politischen Handlungsoptionen entwickelt wurden, sondern nur Maßnahmen abgeleitet wurden, wie z.B. das Tempolimit, die teilweise seit Jahren kontrovers diskutiert werden. Diese Eindimensionalität der Empfehlungen wird der gesellschaftlichen Realität der tatsächlichen Einschätzung und Nutzung des Automobils durch breite Kreise der Bevölkerung, einschließlich ihres "ökologisch" orientierten Teils, nicht gerecht. Nicht nur die allgemeine Debatte zur Verkehrspolitik, sondern auch die kontroverse Einschätzung auf der Basis wissenschaftlicher Analysen, wie in der Verkehrsstudie der Enquete-Kommission "Schutz der Erdatmosphäre", zeigen, daß eine neue Verkehrspolitik nur eine Politik der kleinen Schritte sein kann.
Trotz der genannten Kritikpunkte ist in dem Buch von Petersen und Schallaböck ein wichtiger Beitrag für die dringend notwendige verkehrspolitische Diskussion zu sehen. Es bleibt zu wünschen, daß dieses Buch gerade wegen seiner kritischen Einschätzungen der gängigen verkehrspolitischen Rezepte nicht nur die Diskussion sondern auch die verkehrspolitische Entscheidungsfindung positiv beeinflußt.
Bibliographische Angaben
Rudolf Petersen, Karl Otto Schallaböck: Mobilität für morgen. Chancen einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik. Berlin u.a.: Birkhäuser Verlag GmbH, 1995. ISBN 3-7643-5214-0