Chancen und Herausforderungen assistiver Technik. Nutzerbedarfe und Technikakzeptanz im Alter

Schwerpunkt: Technik und Pflege in einer Gesellschaft des langen Lebens

Chancen und Herausforderungen assistiver Technik

Nutzerbedarfe und Technikakzeptanz im Alter

von Harald Künemund, Institut für Gerontologie, Universität Vechta

Assistive Technik kann zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Erhaltung von Autonomie im Alter beitragen sowie Prävention, Rehabilitation und Pflege unterstützen. Die Anwendung assistiver Technik betrifft die älteren Menschen selbst, genauso wie die sie unterstützenden Personen, aber auch die Versorgungsstrukturen insgesamt. An welchen Stellen die Technikentwicklung in welcher Weise ansetzt, bestimmt mit über Akzeptanz, Nutzung und Erfolg dieser Technologie. Der Beitrag argumentiert, dass bei der Problem-, Prozess- und Strukturevaluation in diesem Feld noch Verbesserungsmöglichkeiten bestehen, die die sehr großen Chancen assistiver Technik in diesem zunehmend wichtiger werdenden gesellschaftlichen Bereich vielleicht nochmals deutlich erhöhen können.

Assistive technology can contribute to improving the quality of life and to maintaining autonomy in old age as well as support prevention, rehabilitation and care. The use of assistive technology concerns the elderly themselves, just like the people that support them, but also the health care structures as a whole. At what point technology development starts in what way is a decisive factor for acceptance, use and success of this technology. This article argues that the problem, process and structural evaluation in this area still leaves room for improvement, which may significantly increase the huge opportunities of assistive technology in this increasingly important field.

1     Einleitung

Unter dem Stichwort „ambient assisted living“ (AAL) hat das Interesse an der Unterstützung älterer und alter Menschen durch Technik in jüngster Zeit enorm zugenommen. Deutlich erkennbar ist dies an der Zunahme der Forschungsförderlinien auf nationaler und insbesondere auch internationaler Ebene, die zu einem deutlichen Anwachsen der interdisziplinären Forschung geführt hat. Bereits der erste Aufruf des europäischen „AAL Joint Programme“ von 2008 generierte 117 transnationale Projektanträge von 958 Organisationen in Europa, überwiegend aus Spanien und Italien (jeweils über 100), häufig auch mit Beteiligung aus Deutschland (http://www.aal-europe.eu). Allein dieses Programm hatte ein Budget von 600 Mio. Euro, inzwischen läuft die zweite Förderperiode. Hinzu kommen Förderungen im Kontext der Rahmenprogramme bzw. „Horizon 2020“ sowie zahlreiche nationale Förderungen (z. B. http://www.mtidw.de). Entsprechend steigt ebenfalls die Zahl der Kongresse und Publikationen im wissenschaftlichen Bereich.

Ein häufig genannter Grund für dieses gestiegene Interesse ist der demografische Wandel: In den kommenden Jahrzehnten ist aufgrund der Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung und dem Geburtenrückgang mit einer deutlichen Alterung der Bevölkerung zu rechnen, wobei nicht nur der Rückgang der durchschnittlichen Zahl der Kinder und die Zunahme der Kinderlosigkeit zu Engpässen in der Versorgung älterer Menschen führen wird: Möglicherweise verschärft sich diese demografische Ausgangslage noch durch veränderte Familienformen (weniger Kinder und Enkelkinder, weniger Schwiegerkinder) und eine stärkere Berufsorientierung und – damit einhergehend – eine höhere regionale Mobilität der potenziellen Unterstützungspersonen. Technologische Innovationen können hier tatsächlich in vielfältiger Weise direkt und indirekt zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Erhaltung von Autonomie beitragen sowie Prävention, Rehabilitation und Pflege unterstützen, was sowohl den Älteren selbst, ihren Unterstützungspersonen, aber auch den Versorgungsstrukturen insgesamt zu Gute kommen könnte.

Gemessen an den reklamierten Vorteilen fällt die faktische Nutzung deutlich zu gering aus. „Nutzerabhängige Innovationsbarrieren“ wurden bereits ausgemacht (Glende et al. 2011), und neben einer verstärkten Nutzereinbindung bei der Entwicklung richten sich Bemühungen auf Information und Weiterbildung von Pflegepersonal und Angehörigen sowie die Älteren selbst, die z. B. als Senioren-Technik-Botschafter für den Durchbruch sorgen sollen. Damit dieser gelingt, sind aber streng genommen zunächst die spezifischen Bedarfe, Bedürfnisse, Anforderungen und Problemlagen zu identifizieren und darauf zugeschnittene Lösungen zu erarbeiten. Dabei wären dann Besonderheiten in der Technikakzeptanz bzw. der Erfahrungen im Umgang mit Technik und neuen Technologien zu berücksichtigen, um die Konzeption und den Einsatz neuer Dienstleistungen und technischer Unterstützungssysteme zum Erfolg zu bringen. Nach einer solchen Problemevaluation wäre die Entwicklung wie auch die Implementation z. B. im Privathaushalt zu begleiten, und schließlich bleiben erfolgreiche Szenarien und Modelle in die Entwicklungs- und Versorgungsstrukturen zu übertragen (und idealiter weiter zu evaluieren und ggf. zu modifizieren).[1] An diesen Stellen gibt es m. E. noch Verbesserungsmöglichkeiten. Dieser Beitrag problematisiert daher zunächst die gegenwärtigen Entwicklungen und ihre Passung zu den Bedarfen bzw. Wünschen von Älteren im Hinblick auf eine Unterstützung durch Technik. Anschließend werden die gängigen Methoden der Nutzereinbindung und Evaluation kurz diskutiert, um Vorschläge für die weitere Entwicklung und Implementation geben zu können.

2     Technikentwicklung und Problemevaluation

Bei der Entwicklung von Technik für ältere Menschen werden ganz verschiedene Lebensbereiche und Problemlagen adressiert. Ein Schwerpunkt sind physische und psychische Funktionsverluste im Alter (z. B. schwindende Mobilität und Orientierung, Wahrnehmungs- und Erinnerungsdefizite). In diesem Bereich gehören technische Hilfsmittel zwar schon seit langem zum Alltag, man denke etwa an Gehhilfen oder Hörgeräte.

Die neueren Entwicklungen im Bereich der Computertechnologie lassen aber inzwischen auch „intelligente“ Unterstützungssysteme zu, die z. B. direkt kognitive Bereiche unterstützen oder Entlastungen bei Doppelaufgaben ermöglichen können (z. B. Lindenberger 2007). So könnten indirekt z. B. Sturzgefahren verringert, Stürze in der Wohnung registriert und ggf. Angehörige benachrichtigt oder auch die Flüssigkeitsaufnahme überwacht und ggf. erinnert werden. Obgleich dies noch nicht im Detail nachgewiesen werden konnte, ist die generelle Annahme dabei, Technik könne zum Erhalt einer selbständigen Lebensführung beitragen, die gesellschaftlichen Partizipation und Integration fördern, möglicherweise sogar einen Heimübergang verhindern oder zumindest verzögern.

In dem letztgenannten Aspekt liegt ein weiterer Schwerpunkt: Eine durch technische Hilfsmittel an die jeweiligen Beeinträchtigungen angepasste Wohnung könnte sowohl einen längeren Verbleib in den gewohnten „vier Wänden“ und einen geringeren Hilfebedarf ermöglichen, aber auch ggf. die notwendigen Hilfeleistungen von Angehörigen und Pflegekräften in vielfältiger Weise erleichtern und unterstützen. Dies gilt insbesondere im Falle chronischer Krankheiten und Behinderungen, aber – sofern die technischen Hilfsmittel unaufwändig nachrüstbar bzw. einfach zu installieren oder schlicht miet- oder ausleihbar sind – auch im Falle kurzfristiger oder sich verändernder Beeinträchtigungen.

Ein dritter Schwerpunkt lässt sich schließlich im Bereich der sozialen Beziehungen ausmachen: Technische Hilfsmittel können die Kommunikation erleichtern und Sicherheit vermitteln, sowohl auf Seiten der Älteren als auch auf Seiten der Angehörigen, oder auch die Kommunikationen mit den Versorgungsstrukturen vereinfachen. Fraglos lassen sich die einzelnen Entwicklungen meist mehreren Bereichen gleichzeitig zuordnen, sie adressieren oft mehrere dieser Themen. In der Regel aber fehlen positive Konnotationen, z. B. die Unterstützung „produktiven“ Alterns, Möglichkeiten zu Kreativität oder zur Aufrechterhaltung von Hobbies, dem Lernen oder der Selbsterfüllung. Anlass wie auch Gegenstand der Entwicklungen betonen negative Aspekte des Alters. Damit ist vielleicht auch schon ein wichtiger Punkt angesprochen, der die Akzeptanz dieser Technologien negativ beeinflusst: Möglicherweise führt ein Teil der Technikentwicklungen durch das zumindest implizite Anknüpfen an negative Altersbilder zu Ablehnung bzw. Stigmatisierung.

Dass solche Faktoren eine Rolle spielen, lässt sich besonders gut am Beispiel der Hörbeeinträchtigungen und der Nutzung von Hörgeräten zeigen.[2] Die Schwierigkeiten nehmen über die Altersgruppen hinweg betrachtet beschleunigt zu – Ohrenlei-den oder Schwerhörigkeit von 5 Prozent bei den 40- bis 44-Jährigen auf 38 Prozent bei den 89- bis 85-Jährigen, Schwierigkeiten bei der Anwesenheit von mehreren Personen von 5 auf 32 Prozent, Schwierigkeiten beim Telefonieren von 2 auf 26 Prozent, die Nutzung von Hörgeräten steigt aber erst ab den 70- bis 74-Jährigen an (und bleibt auch dann noch zu niedrig). Zwar kann hier nicht ausgeschlossen werden, dass die Hörgeräte im Einzelfall nicht gut funktionieren und deshalb nicht benutzt werden, aber nahe liegender scheint mir die Interpretation, dass diese Technik negativ besetzt ist, gewissermaßen „alt“ macht, und deshalb gemieden wird, solange es eben geht (Abb. 1). Perspektivisch ließe sich dies vielleicht mit einem gewissen Marketingaufwand beheben, etwa wenn man auch ohne Hörbeeinträchtigungen besser hören könnte, oder diese in Analogie zur Brille als modisches Accessoire stilisierbar wären. Momentan jedoch wäre meine Vermutung, dass trotz objektivem Bedarf und gegebener Nützlichkeit die Technik abgelehnt werden kann, wenn sie stigmatisieren könnte. Und dies ist möglicherweise umso mehr der Fall, als negative Altersstereotype durch die Technik adressiert bzw. betont werden.

Abb. 1:   Hörbeeinträchtigungen und Hörgerätenutzung nach Alter

Hörbeeinträchtigungen und Hörgerätenutzung nach Alter

Quelle: Deutscher Alterssurvey (DEAS), Daten aus der Befragung 2002, eigene Berechnungen

Ein anderes Problem in diesem Zusammenhang dürfte aber auch sein, dass die Projekte oft stark technikgetrieben sind: Ausgehend von technischen Möglichkeiten bzw. Ideen der Weiterentwicklung der Technik werden Anwendungsmöglichkeiten gesucht, wobei man sich an den vermeintlich bekannten Problemen des Alters orientiert. Ausführliche Untersuchungen der Bedarfe und Bedürfnisse im Alter – jenseits von Allgemeinplätzen wie „so lange wie möglich unabhängig und selbständig bleiben wollen“ – sind zu selten im Vorfeld der Technikentwicklung zu finden. Fragt man ältere Menschen nach Bereichen, in denen eine Unterstützung durch Technik gewünscht wird,[3] kommen gänzlich andere Entwicklungsmöglichkeiten in den Blick: Es sind an erster Stelle Hilfen bei der Hausarbeit (35 % der Nennungen), beispielsweise Putzarbeiten (Fenster, Kleiderpflege) oder Essenszubereitung, mit deutlichem Abstand dann Hilfen bei der Gartenarbeit (14 %), z. B. Unkrautbeseitigung, Umgraben, Laubentsorgung usw. – allerdings haben ja nicht alle einen Garten, würde man nur auf diese prozentuieren, ergäbe sich ein deutlich höherer Prozentsatz. Erst danach folgen Bereiche, die wenigstens teilweise mit den Technikentwicklungen aufgegriffen werden, nämlich physische Unterstützung (13 %, etwa Erleichterungen bei alltäglichen Tätigkeiten wie Heben und Tragen, Ausgleich von Mobilitätseinschränkungen und beim Nachlassen der Sinnesorgane) oder Unterstützung durch IuK-Technologien (12 %, z. B. schnellere und unkompliziertere Übermittlung von Informationen, verbesserte Auskunftsmöglichkeiten usw., ähnlich bereits die Ergebnisse von Mollenkopf et al. 2000).

Auch die Befürchtungen und Ängste werden selten bedacht.[4] Genannt wurde z. B. „Übertechnisierung“ und Verlust des Zwischenmenschlichen (25 % dieser Nennungen), Abhängigkeit und damit einhergehende Hilflosigkeit (14 %), Misstrauen gegenüber Monitoring („gläserner Mensch“) (19 %), aber auch mögliches Versagender Technik (5 %) und generell eine Überforderung (13 %). Gewünscht werden in erster Linie unkomplizierte und verständliche Bedienungsanleitungen (36 %) sowie einfache, intuitive Handhabung (32 %). Generell scheinen Ängste und Befürchtungen (z. B. Abhängigkeit von Technik wie auch der Wartung und Installation, Verlust von Selbstbestimmung und sozialen Kontakten usw.) nicht systematisch, sondern allenfalls anekdotischin den Blick zu kommen – dabei haben die Älteren oftmals bereits negative Erfahrungen mit technischen Neuerungen gemacht (etwa am Bank- oder Fahrscheinautomaten, wie die Diskussion um den Bedienzuschlag bei der Bahn deutlich gemacht hat; vgl. z. B. Mollenkopf/Kaspar 2004) und sind vielleicht auch aus diesem Grund skeptisch.[5]

Die fehlende Problemevaluation hat möglicherweise weitere, unintendierte, vielleicht auch manchmal kontraproduktive Nebenwirkungen, etwa wenn Erinnerungsassistenten von prospektiven Gedächtnisaufgaben entlasten, obgleich im Gegenteil Training dem kognitiven Leistungsabbau entgegenwirken könnte, oder die Kommunikation über den Computer „reale“ soziale Beziehungen möglicherweise verdrängt. Zugespitzt anekdotisch formuliert: Führt die Existenz eines Sturzteppichs vor dem Bett dazu, dass man – um das Aufsehen zu vermeiden – um den Teppich herumgeht und damit letztlich die Sturzgefahr erhöht? Wollte man Stürze vermeiden, wären andere Ansatzpunkte naheliegender (Wechselwirkungen von Medikamenten prüfen, Gleichgewichts- und Gangtraining, Eliminieren von Hindernissen wie rutschenden Teppichen, Beleuchtung usw.). Die Idee, einen Alarm automatisch absetzen zu können, falls der Notrufknopf nicht getragen wurde oder nicht betätigt werden kann, ist ebenfalls sicher nicht zu beanstanden, aber das Verhältnis von Aufwand zum Ertrag, also ob z. B. eine Rundumüberwachung tatsächlich messbare Vorteile gegenüber den anderen genannten Maßnahmen bringt, ist zumindest schwer zu ermitteln. Der Gewinn an Sicherheit jedenfalls wäre nur dann gegeben, wenn das System nicht allzu viele Fehlalarme auslöst, aber zugleich sicher Stürze erkennt, und zudem nicht neue Risiken entstehen.

Zusammengenommen wäre die These mit Blick auf die Problemevaluation, dass die Technikentwicklung in aller Regel nicht an konkreten Analysen der Bedarfe älterer Menschen ansetzt und fragt, wie diese Bedarfe oder Probleme mit Technik adressiert werden können, sondern umgekehrt von bestehenden Technologien ausgeht und fragt, was mit dieser bereits bestehenden Technik für die Älteren getan werden kann. Manchmal scheinen dann die „user stories“ den Nutzer so darzustellen, dass diese Nutzer die Möglichkeiten der Technik möglichst gut demonstrieren können – also zugespitzt: Der Nutzer wird entsprechend der Technik gestaltet, nicht umgekehrt.[6] Diese Logik findet sich tendenziell auch z. B. in “use cases” in den Empfehlungen des VDE (2014), wobei dann in solchen Szenarien negative Altersstereotype vermutlich kumulieren. Dann trüge die Technikentwicklung maßgeblich zur fehlenden Nutzung bzw. mangelnden Akzeptanz bei, und die verursachenden Strukturen wären vielleicht bereits als Normen gesetzt.

3     Technikakzeptanz

Voraussetzung für den erfolgreichen Einsatz technologischer Assistenzsysteme ist also nicht nur die Entwicklung geeigneter Technologien, sondern zunächst einmal deren Akzeptanz auf Seiten der potenziellen Nutzer – also der Älteren selbst, aber dann auch von Seiten der Pflegenden, der Ärzte, der Angehörigen, der Wohnungswirtschaft usw. Selbst eine fehlerfrei funktionierende, kostengünstige und intuitiv bedienbare Technik würde dort wohl nicht zum Einsatz kommen, wo eine generelle Furcht vor Technik dominiert, man vor der Komplexität der Bedienung oder den Anschaffungs- oder Folgekosten bereits im Vorfeld zurückschreckt, die Nutzung der Technik stigmatisiert oder deutlich negative Aspekte des Alters in das Blickfeld bringt. Und sollte die Wohnung trotz technischer Unterstützungsmöglichkeiten nicht an die konkreten Bedarfe angepasst, im Bedarfsfall keine Unterstützungsperson verfügbar oder die technischen Assistenzsysteme oder Umbaumaßnahmen im konkreten Fall nicht finanzierbar sein, könnte die Nutzung trotz aufgeschlossener Haltung gegenüber solchen Technologien unterbleiben. Insofern besteht auch die Gefahr, dass bestehende soziale Ungleichheiten vertieft werden, sowohl auf Seiten der Älteren, als auch in der Generation der pflegenden Kinder (etwa wenn sich finanziell Bessergestellte alltagsunterstützende Technik leisten können, Schlechtergestellte aber auf Angehörige zurückgreifen müssen).

Repräsentative Studien zu Technikinteresse, -akzeptanz und -nutzung kommen überwiegend zu dem Ergebnis, ältere Menschen stünden Technik generell weniger aufgeschlossen und eher skeptisch gegenüber (z. B. Hennen 2002). Bei solchen Einschätzungen geht es zwar nicht speziell um Technik für Ältere, aber wenn es sich um eine generelle Einstellung handelt, sollte dies auch für neue Technologien gelten. Im Kontext der Begleitforschung im Rahmen konkreter Projekte wird dagegen fast immer betont, das Interesse älterer Menschen an technischen Assistenzsystemen sei hoch. Mast et al. (2014, S. 1) formulieren sogar das Gegenteil nachlassenden Interesses: „Gerade ältere Menschen sind einer Unterstützung durch Roboter im Haushalt überwiegend aufgeschlossen.“ Für diesen auffälligen Widerspruch können verschiedene Faktoren verantwortlich sein. Im Rahmen repräsentativer Surveys handelt es sich z. B. oft um eine grundsätzliche Einstellungsmessung mit zumeist eher abstrakten Frageformulierungen, während im Kontext der Entwicklung technischer Assistenzsysteme ein konkreter Nutzen erkennbar wird, der die Einstellung vielleicht zum Positiven verändert. Zudem dürfte die Selektivität der Stichproben eine Rolle spielen, da Personen mit deutlich negativer Technikeinstellung wahrscheinlich auch seltener an Studien aus dem Umfeld der einschlägigen Begleitforschung teilnehmen. Diese Selektivität der zumeist auch sehr kleinen Stichproben wird aber generell nicht in Rechnung gestellt, wenn positive Einschätzungen benannt werden. Und möglicherweise stehtsolcher Überschwang manchmal auch im Kontext der Notwendigkeit, die Projekte erfolgreich abschließen zu müssen, um weitere Forschungsgelder akquirieren zu können. Eine unabhängige Evaluation fehlt in aller Regel.

Es wäre aber auch denkbar, dass das Technikinteresse – sei es z. B. aufgrund unterschiedlicher biografischer Erfahrungen im Umgang mit Technik oder aufgrund von kulturellen Normen – derart geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägt ist, dass Frauen im Durchschnitt ein geringeres Technikinteresse bekunden. Der steigende Frauenanteil in den höheren Altersgruppen führt dann dazu, dass eine Korrelation mit dem Alter im Aggregat aufscheint, obgleich faktisch weder bei Männern noch bei Frauen überhaupt ein auch nur korrelativer Zusammenhang mit dem Alter besteht, sondern lediglich ein Niveauunterschied zwischen den Geschlechtern. Ähnlich ließe sich z. B. für die Bildung argumentieren: Die Bildungschancen Älterer – und hier insbesondere jene der älteren Frauen – waren deutlich schlechter. Es wäre also zu prüfen, ob überhaupt ein Alterseffekt bestehen bleibt, wenn Geschlecht und Bildung in der Analyse konstant gehalten werden.

Zwar spricht durchaus auch einiges für einen Alterseffekt. Aufgrund von nachlassenden kognitiven, motorischen und sensorischen Fähigkeiten sinkt vielleicht die Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf neue technische Entwicklungen einzulassen. Beide Effekte schließen einander nicht aus, sondern bringen möglicherweise erst im Zusammenspiel den bislang nur recht oberflächlich belegten und noch kaum theoretisch erklärten Befund eines geringeren Technikinteresses im Alter hervor. Gegenwärtig aber sind zumindest bei den Männern die Altersgruppenunterschiede gering, und auch bei den Frauen scheinen die Unterschiede geringer zu werden (Abb. 2) – frühere Studien zeigten jedenfalls deutlichere Altersunterschiede (z. B. Hennen et al. 2002).

Abb. 2:   Interesse an neuester Technik

Interesse an neuester Technik

Quelle: Forschungsverbund Gestaltung Altersgerechter Lebenswelten (GAL), eigene Berechnungen

Es konnte auch gezeigt werden, dass Technikakzeptanz als Einstellung nicht nur stark mit Erfahrungen im Umgang mit Technik korreliert, sondern auch vor dem Hintergrund der Lebenslage und dem erwarteten Nutzen jeweils neu bewertet wird. Es macht vermutlich also wenig Sinn, allgemein von „der“ Technikakzeptanz im Alter zusprechen, oder den Älteren generell hohes (oder geringes) Interesse zuzuschreiben – vielmehr verändern sich diese Einstellungen mit sich verändernden Bedarfen (Künemund/Tanschus 2014). Für die Frage der Akzeptanz und Nutzung technischer Assistenzsysteme zukünftiger Älterer lassen sich daher noch kaum Prognosen erstellen.

4     Prozessevaluation

Ein weiteres Problemfeld betrifft die Evaluation der Implementation assistiver Technik im Privathaushalt im Längsschnitt. Die Wirkungen werden bislang in aller Regel nur im Labor bzw. „living lab“ und in erster Linie im Hinblick auf „usability“-Aspekte untersucht. Dabei dominieren standardisierte Skalen, die in der Regel z. B. unintendierte Nebenwirkungen nicht erfassen können, sondern allenfalls Bedienbarkeit und Schwierigkeiten mit dem Umgang thematisieren.[7] Zwar wird zunehmend reklamiert, die Nutzer von Beginn an einzubinden („user centered design“), und tatsächlich scheint sich die Situation durch den Einbezug von Sozialwissenschaftlern in den Projekten in den letzten Jahren bereits deutlich verbessert zu haben. Aber die Problemevaluation wie auch der mit der Intervention beginnende Prozess und seine Evaluation bleiben fast durchgängig ausgespart. Wenn es also z. B. Befürchtungen auf Seiten der älteren Nutzer gibt, dass die Technik die realen sozialen Beziehungen und Kontakte ersetzen könnte, wären eigentlich Langzeitstudien angezeigt, die diese Veränderungen nachzeichnen können und – falls dem nicht so sein sollte – Vorbehalte ausräumen helfen. Denkbar wäre ja im Gegenteil, dass den Angehörigen z. B. durch den Einsatz der Technik mehr Zeit und Raum für Zuwendung bleibt (vgl. zu solchen Argumentationslinien auch Künemund/ Vogel 2006). Um einen weiteren typischen Vorbehalt anzuführen, wäre ebenso denkbar, dass die Technik faktisch neue Abhängigkeiten schafft – nämlich von ihrem Funktionieren bzw. ihrer Wartung. Auch hier wäre erst noch zu zeigen, dass die positiven Aspekte tatsächlich überwiegen, sowohl hinsichtlich der sozialen als auch z. B. der volkswirtschaftlichen Konsequenzen.

Wo konkrete Wirkungen erwartet werden, lassen sich diese sicher auch mit darauf zugeschnittenen standardisierten Methoden erfassen. Nebenwirkungen wären dagegen eher mit offenen Verfahren aufzuspüren. In beiden Bereichen – bei konkreten Operationalisierungen wie auch rekonstruktiven Verfahren – sehe ich erhebliche Defizite. Es dominieren einfache Verfahren, unspezifische Skalen und nicht-repräsentative Stichproben auf der einen, Beobachtungs- und Befragungsleitfäden und inhaltsanalytische Auswertung auf der anderen Seite. Die spezifischen Stärken quantitativer wie auch qualitativer Forschung – Hypothesentestung und Offenheit – werden dann nicht genutzt, die Sozialforschung wird zur „Begleitforschung“, die zwar mit einem Methodenmix aufwarten, aber eigentlich dem Anspruch empirischer Forschung weder hier noch dort gerecht werden kann.

Neben den Methoden ist insbesondere das weitgehende Fehlen von Langfriststudien zu bemängeln. Soweit muss vielmehr konstatiert werden, dass die mangelnde Nachfrage nach den AAL-Technologien manchmal vielleicht als Akzeptanzproblem stilisiert wird, was besonders prägnant in der Formulierung „nutzerabhängige Innovationsbarrieren“ zum Ausdruck kommt: Eine fehlende Passung zum Bedarf erscheint als Problem der potenziellen Nutzer, nicht als eines der Technikentwicklung, Nebenwirkungen kommen gar nicht erst in den Blick. Die gegenwärtige Förderungspraxis wäre m. E. an diesen Stellen zu überdenken. Sowohl bei der Problemevaluation als auch bei der Wirkungsanalyse wären z. B. stärker Gerontologinnen und Gerontologen oder Soziologinnen und Soziologen zu beteiligen, sowie Längsschnittuntersuchungen der Wirkungen anzustoßen. Erst wenn sich Erfolge zeigen oder auch Verfahren bewähren, könnte evidenzbasiert über die Normierung nachgedacht werden. Damit ließen sich die sehr großen Chancen assistiver Technik in diesem zunehmend wichtiger werdenden Bereich vielleicht nochmals deutlich verbessern.

Anmerkungen

[1] Ich orientiere mich hier an der von Roland Becker-Lenz (2004) für die Soziale Arbeit vorgeschlagenen Systematisierung.

[2] Diese Auswertungen basieren auf den vom Forschungsdatenzentrum des Deutschen Zentrums für Altersfragen (FDZ-DZA) herausgegebenen Daten der zweiten Welle des Deutschen Alterssurveys (DEAS) von 2002, einer repräsentativen Befragung der 40–85-Jährigen in Deutschland.

[1] Die folgenden Angaben (und auch weitere Darstellungen im Text) basieren auf einer vom Niedersächsischen Forschungsverbund Gestaltung altersgerechter Lebenswelten (GAL, vgl. Haux et al. 2014) durch infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH im Jahr 2010 in Niedersachsen durchgeführten schriftlich-postalischen Befragung. Die Studie basiert auf einer Melderegisterstichprobe (50 Gemeinden in Niedersachsen, Personen im Alter von 50 Jahren und älter). Frageformulierung der offenen (vorletzten) Frage: „Wenn Sie abschließend einmal an Ihren Alltag und all die Tätigkeiten denken, die Sie selbst verrichten: Bei welchen Dingen würden Sie sich Unterstützung durch technische Geräte wünschen?“

[4] Frageformulierung zu dieser letzten (offenen) Frage: „Und haben Sie bestimmte Hoffnungen oder Befürchtungen, wenn Sie an Ihren Alltag und die Unterstützung durch technische Geräte denken? Oder gibt es Anregungen, die Sie uns geben möchten?“

[5] Melenhorst et al. (2007, S. 253) verdeutlichen die bereits jetzt bestehende Abhängigkeit am Beispiel eines Stromausfalls: „Imagine that all of a sudden, on a terribly hot Saturday afternoon, the water supply and the power are turned off due to a blunder in the road construction in front of the house. It takes the workers about five hours to bring them back up. As a consequence, the washing machine and the dishwasher stop running, the refrigerator and the freezer start defrosting, and the computer stops right in the middle of sending a long email message. The toilet does not flush and the cold shower one might crave for on such a day has to be postponed. On top of that, the air conditioning shuts down.“ Der massive Einsatz von Technik könnte so gesehen gerade bei hilfebedürftigen Personen auch neue Abhängigkeiten schaffen.

[6] Ein Beispiel: „It is the year 2010 (…) the Gator Tech Smart House System. Mrs. Holden is 87 years old, widowed, and lives alone. (…) When Mrs. Holden gets up in the morning, the time is tracked. If it is significantly earlier or later than normal, the smart house notes this. Mrs. Holden completes her basic activities of daily living – taking a shower, combing her hair, getting dressed. While her forgetfulness is not severe, the house is ready to help with prompting through these activities, should Mrs. Holden need help. Monitors and speakers in the bathroom and the bedroom provide auditory and visual prompts for brushing teeth, combing hair, bathing, and dressing…“ (Mann/Helal 2007, S. 271). Es ist offensichtlich, dass hier der Nutzer so konzipiert wird, dass er die Möglichkeiten der Technik demonstrieren kann, nicht etwa umgekehrt.

[7] Beispiele sind das Software Usability Measurement Inventory (SUMI), der Questionnaire for User Interaction Satisfaction (QUIS), der After Scenario Questionnaire oder AttrakDiff. Der Vorteil solcher Skalen ist die leichte (nicht immer günstige) Anwendung, der Nachteil unspezifische und wenig informative Aussagen zu Passung zum Bedarf oder Fehlentwicklungen.

Literatur

Becker-Lenz, R., 2004: Rekonstruktive Problem-, Prozess- und Strukturevaluation als Beitrag zur Qualitätsentwicklung und -sicherung. In: Beckmann, Chr.; Otto, H.-U.; Richter, M. et al. (Hg.): Qualität in der sozialen Arbeit. Zwischen Nutzerinteresse und Kostenkontrolle. Wiesbaden, S. 283–291

Glende, S.; Nedopil, Chr.; Podtschaske, B. et al., 2011: Erfolgreiche AAL-Lösungen durch Nutzerintegration – Ergebnisse der Studie „Nutzerabhängige Innovationsbarrieren im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme“. Berlin; http://www.youse.de/documents/Kompetenzen/YOUSE_2011_AAL-Nutzerstudie.PDF (download 17.7.15)

Haux, R.; Hein, A.; Kolb, G. et al., 2014: Information and Communication Technologies for Promoting and Sustaining Quality of Life, Health and Self-sufficiency in Ageing Societies. Outcomes of the Lower Saxony Research Network Design of Environments for Ageing (GAL). In: Informatics for Health and Social Care 39 (2014), S. 166–187

Hennen, L., 2002: Positive Veränderung des Meinungsklimas – konstante Einstellungsmuster. Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage des TAB zur Einstellung der deutschen Bevölkerung zur Technik. Berlin

Künemund, H.; Tanschus, N.M., 2014: The Technology Acceptance Puzzle – Findings from a Lower Saxony survey. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 47 (2014), S. 641–647

Künemund, H.; Vogel, C., 2006: Öffentliche und private Transfers und Unterstützungsleistungen im Alter – „Crowding Out“ oder „Crowding In“? In: Zeitschrift für Familienforschung 18 (2006), S. 269–289

Lindenberger, U., 2007: Technologie im Alter: Chancen aus Sicht der Verhaltenswissenschaften. In: Gruss, P. (Hg.): Die Zukunft des Alterns. Die Antworten der Wissenschaft. München, S. 220–239

Mann, W.C.; Helal, S., 2007: Technology and Chronic Conditions in Later Years: Reasons for New Hope. In: Wahl, H.-W.; Tesch-Römer, C.; Hoff, A. (Hg.): New Dynamics in Old Age. Individual, Environmental, and Societal Perspectives. Amityville, S. 271–289

Mast, M.; Burmester, M.; Graf, B. et al., 2014: Entwurf der Mensch-Roboter-Interaktion für einen semiautonomen Serviceroboter zur Unterstützung älterer >Menschen. In: 7. Deutscher AAL-Kongress „Wohnen – Pflege – Teilhabe: Besser Leben durch Technik“ – Tagungsbeiträge. Berlin

Melenhorst, A.-S.; Rogers, W.A.; Fisk, A.D., 2007: Technology and Chronic Conditions in Later Years: Reasons for New Hope. In: Wahl, H.-W.; Tesch-Römer, C.; Hoff, A. (Hg.): New Dynamics in Old Age. Individual, Environmental, and Societal Perspectives. Amityville, S. 291–305

Mollenkopf, H.; Kasper, R., 2004: Technisierte Umwelten als Handlungs- und Erlebensräume älterer Menschen. In: Backes, G.M.; Clemens, W.; Künemund, H. (Hg.): Lebensformen und Lebensführung im Alter. Wiesbaden, S. 193–221

Mollenkopf, H.; Meyer, S.; Schulze, E. et al., 2000: Technik im Haushalt zur Unterstützung einer selbst-bestimmten Lebensführung im Alter – Das Forschungsprojekt „sentha“ und erste Ergebnisse des Sozialwissenschaftlichen Teilprojekts. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 33 (2000), S. 155–168

VDE – Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e.V., 2014: Die deutsche Normungs-Roadmap AAL (Ambient Assisted Living). Berlin

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