Die hermeneutische Erweiterung der Technikfolgenabschätzung

Diskussionsforum

Die hermeneutische Erweiterung der Technikfolgenabschätzung

von Armin Grunwald, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruhe

Technikfolgenabschätzung ist schon dem Namen nach konsequentialistisch ausgerichtet: Es geht um die Erforschung und Bewertung von Folgen. Damit dies möglich ist, müssen Technikfolgen also in gewisser, nicht beliebiger Weise mit Gründen antizipierbar sein. In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, ob Orientierung im Rahmen der TA auch möglich ist, wenn diese Voraussetzung nicht mehr erfüllt ist. Die These ist, dass Orientierung dann nicht mehr im Rahmen eines konsequentialistischen Zugangs, sondern nur eine hermeneutische Analyse der debattierten Zukünfte möglich ist.

1     Der Konsequentialismus der Technikfolgenabschätzung

Die systematische Befassung mit den Folgen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung hat bereits eine jahrzehntelange Tradition. Sie hat Forschungs- und Reflexionsrichtungen hervorgebracht wie die Technikfolgenabschätzung (TA), die Risikoforschung, Wissenschafts- und Technikethik, das Feld der STS-Studies (science, technology & society), die ELSI-Analysen (ethical, legal and social implications) und die EHS-Forschung (environment, health & safety).

Während die spezifischen Ziele dieser Ansätze ebenso differieren wie ihre wissenschaftlichen Kontexte und die verwendeten Methoden, so besteht doch eine große konzeptionelle Übereinstimmung darin, dass es darum gehe, Technikfolgen zu antizipieren. Hauptsächlicher Gegenstand der jeweiligen Analyse ist die Erforschung von Folgen, die es noch gar nicht gibt und vielleicht auch nie geben wird (Bechmann et al. 2007). Das Wissen über diese Folgen soll Orientierung für Gesellschaft und Politik geben, z. B. für Entscheidungsprozesse über Forschungsförderung bzw. Regulierung oder in der deliberativen Austragung von Technikkonflikten (Abb. 1).

Abb. 1   Das konsequentialistische Muster der Generierung von Orientierung durch Zukunftsbetrachtungen

Das konsequentialistische Muster der Generierung von Orientierung durch Zukunftsbetrachtungen

Quelle: Grunwald 2013a, modifiziert

Die Grenzen dieses konsequentialistischen Ansatzes werden vielfach gesehen und in den genannten Ansätzen der Folgenforschung reflektiert, gerade auch in der TA, in der der prognostische Ansatz ihrer frühen Phase sich rasch als nicht einlösbar erwies (Grunwald 2003). Eine wesentliche Reaktion auf diese Erkenntnis zeigt sich in der weitgehenden Verabschiedung prognostischer Erwartungen an die Technikfolgenforschung zugunsten eines Denkens in alternativen Zukünften, das seine methodische Fundierung vor allem in der Szenarientechnik hat. Auf diese Weise wurden technikdeterministische Vorstellungen überwunden, Gestaltungsmöglichkeiten konnten angesichts einer offenen Zukunft in den Blick genommen werden.

Freilich verbleibt auch dieser „szenarische“ Ansatz im konsequentialistischen Muster. Es wird nur statt der einen prognostizierten Zukunft ein Bündel möglicher Zukünfte in den Blick genommen, z. B. in dem bekannten Muster von Business as Usual-, Worst Case- und Best Case-Szenarien, um „robuste“ Handlungsstrategien entwickeln zu können. Unklar ist, was noch möglich ist, wenn eine sinnvolle Eingrenzung der Zukunft auf ein Szenarienbündel nicht mehr gelingt.

2     Die Herausforderungen der NEST-Debatte

Etwa seit dem Jahr 2000 wurden die TA und andere Ansätze der Technikfolgenreflexion vor die Herausforderung der heute so genannten NEST (new and emerging sciences and technologies) gestellt. Dort zeigte sich rasch, dass der konsequentialistische Ansatz nicht funktioniert. Erste Hinweise finden sich in der Debatte zur Nanotechnologie (Zülsdorf et al. 2011). Angesichts des extremen Schwankens früherer Reflexionsansätze zwischen Paradieserwartungen und Befürchtungen der Apokalypse (Grunwald 2006) war hier nicht nur der prognostische Ansatz, sondern sogar das Denken in alternativen Zukünften illusorisch. Zu groß und unbestimmt erschien der Möglichkeitsraum des Zukünftigen, als dass hier noch eine vernünftige Eingrenzung auf einige Szenarien möglich gewesen wäre. Die Debatten zum Human Enhancement, zur Synthetischen Biologie und zum Climate Engineering führten auf ähnliche Probleme der Orientierungsleistung (Grunwald 2013b).

Konzeptionelle Reaktionen auf diese Situation ließen nicht auf sich warten. Der Vorschlag eines Vision Assessment (Ferrari et al. 2012), die Kritik an der spekulativen Nano-Ethik (Nordmann 2007), die Skizze einer explorativen Philosophie (Grunwald 2010) und verschiedene, meist verstreute Hinweise auf die hermeneutische Seite der Technikreflexion (z. B. Burg 2014; Torgersen 2013) sind hier zu nennen. Gemeinsam ist diesen Ansätzen eine nicht-konsequentialistische Perspektive. Denn wo das „Folgenwissen“ nur in epistemologisch nicht klassifizierbaren, spekulativen Zukunftserwartungen, Visionen oder Befürchtungen besteht, muss jeder Versuch misslingen, durch eine Folgenanalyse zur wissenschaftlichen, gesellschaftlichen oder politischen Orientierung beizutragen.

Die Frage ist dann, ob in einer solchen Situation, wenn jeglicher Anspruch auf Antizipation aufgegeben werden muss (Nordmann 2014), im Rahmen der TA oder anderer wissenschaftlicher Forschungs-und Reflexionsansätze überhaupt noch belastbare Orientierung geleistet werden kann. Vielleicht muss Wissenschaft aufgrund von nicht behebbarem Wissensmangel hier passen und den Gang der Entwicklung sich selbst überlassen. Dieser resignativen Einschätzung folge ich nicht. Stattdessen möchte ich hier die These entfalten (auf der Basis von Grunwald 2014b), dass Orientierung in Form von wissenschaftlicher Politik-und Gesellschaftsberatung auch in diesen Fällen möglich ist - allerdings in anderer Form. Es bleibt die Option, die teils sehr lebhaften und kontroversen Debatten um NEST oder andere Wissenschafts- oder Technikfelder eben nicht als antizipatorische, prophetische oder quasi-prognostische Rede über Zukünftiges, sondern als Ausdruck unserer Gegenwart zu deuten. Nicht das, was in diesen Debatten mit mehr oder weniger Berechtigung über kommende Jahrzehnte gesagt wird, sondern was die Tatsache, dass diese Debatten heute stattfinden, über uns heute aussagt, wird zum Thema der Untersuchung und zur Quelle der Generierung von Orientierung gemacht. Mit diesem Perspektivenwechsel möchte ich eine hermeneutische Erweiterung der TA vornehmen.

3     Modi der Orientierung durch Technikzukünfte

Letztlich sind Technik(folgen)forschung und -reflexion problemorientiert, d. h. praktische Zwecke der Orientierungsleistung stehen, z. B. in der Politikberatung, im Vordergrund (Grunwald 2009). Die erbrachte Orientierung muss nachvollziehbar wissenschaftlichen Kriterien genügen, dies ist ihr Legitimationsgrund. Abhängig von der epistemischen Qualität des Folgenwissens sind unterschiedliche Typen der Orientierung möglich und kommen unterschiedliche Legitimationsstrategien für die Orientierungsleistung in Frage. Diese Beobachtung war Anlass für die folgende Dreiteilung (Grunwald 2014a; vgl. als Überblick die Tab. 1):

Die Metapher des Zukunftskegels kann hier zur Illustration dienen, wenngleich die Suggestion eines festen Randes dieses Kegels problematisch ist. Die prognostische Orientierung entspräche einem Kegel mit dem Öffnungswinkel null Grad, also der Reduktion auf eine Zukunft. Die hermeneutische Orientierung antwortet auf die Situation, dass der Kegel, metaphorisch gesprochen, einen Öffnungswinkel von 180 Grad hätte und daher von sich aus nichts orientieren kann. Szenarische Orientierung deckte den Bereich dazwischen ab, und weil dieser Bereich vermutlich bei weitem der größte ist, hat auch dieser Typ der Orientierung die größte Bedeutung in der TA.

Tab. 1.:   Wesentliche Eigenschaften der Modi der Orientierung durch Zukunftswissen

Prognostic Scenario-based Hermeneutic
Approach to the future one future corridor of sensible futures open space of futures
Spectrum of futures convergence as ideal bounded diversity unbounded divergence
Preferred methodology quantitative, model-based quantitative or qualitative; participatory narrative
Knowledge used causal and statistical knowledge models, knowledge of stakeholders associative knowledge, qualitative arguments
Role of normative issues Low depends on case High
Orientation provided decision-making support, optimization robust action strategies self-reflection and contemporary diagnostics

Quelle:   Grunwald 2014a, modifiziert

4    Die hermeneutische Erweiterung der TA

Um der Möglichkeit einer hermeneutischen Orientierung nachzuspüren, ist es erforderlich, die Technikzukünfte und deren Diversität und Divergenz in den Blick zu nehmen, die in den entsprechenden Debatten verhandelt werden und in der Regel „contested“ sind (Brown et al. 2000). Es muss darum gehen, ihre Ursachen und Quellen aufzudecken und nach ihrer „Bedeutung“ zu fragen, sowohl auf der Ebene einzelner Technikzukünfte wie auch auf der Ebene des Spektrums unterschiedlicher Technikzukünfte im gleichen Technikfeld. Diese Technikzukünfte sind soziale Konstrukte, erzeugt und „hergestellt“ durch Menschen, Gruppen und Organisationen zu je bestimmten Zeitpunkten (Grunwald 2006; Grunwald 2012). Zukunftsbilder entstehen aus einer Komposition von Zutaten in bestimmten Verfahren (z. B. den Methoden der Zukunftsforschung). Dabei gehen die je gegenwärtigen Wissensbestände, aber auch Zeitdiagnosen, Werte und andere Formen der Weltwahrnehmung in diese Zukunftsbilder ein. Die Divergenz der Zukünfte spiegelt die Pluralität der Gegenwart, und diese ist nicht nur eine Pluralität der Werte, sondern auch eine der wissenschaftlichen wie der außerwissenschaftlichen Meinungen über epistemisch nicht klassifizierbare Zukunftsbilder.

Damit erzählen Zukünfte, wenn prognostische oder szenarische Orientierungen nicht gelingen, ausschließlich etwas über uns heute. Technikzukünfte als ein Medium gesellschaftlicher Debatten (Grunwald 2012) bergen Wissen und Einschätzungen, die es zu explizieren lohnt, um eine transparentere demokratische Debatte und entsprechende Entscheidungsfindung zu erlauben. Die Erwartung an hermeneutische Orientierungsleistung besteht darin, aus Technikzukünften in ihrer Diversität etwas über uns, unsere gesellschaftlichen Praktiken, unterschwelligen Sorgen, impliziten Hoffnungen und Befürchtungen lernen zu können. Diese Form der Orientierung ist freilich weitaus bescheidener als die konsequentialistische Erwartung, mit Prognosen oder Szenarien „richtiges Handeln“ mehr oder weniger direkt orientieren oder gar, wie es in manchen Verlautbarungen heißt, „optimieren“ zu können. Sie besteht letztlich nur darin, die Bedingungen dafür zu verbessern, dass demokratische Debatten und Zukunftsentscheidungen aufgeklärter, transparenter und offener ablaufen können.

Im Vergleich zum konsequentialistischen Paradigma mit seiner zentralen Ausrichtung auf Fragen der Art, welche Folgen neue Technologien haben können, wie wir diese beurteilen und ob und unter welchen Bedingungen wir diese Folgen willkommen heißen oder ablehnen, geraten in dieser Perspektive weitere Fragestellungen in den Blick (vgl. zu einigen Fragen auch Lösch/Müller 2014):

In der Beantwortung dieser Fragen erweitert sich das interdisziplinäre Spektrum der TA. Sprachwissenschaften, hermeneutische Ansätze in Philosophie und Geisteswissenschaften, Kulturwissenschaften und auch die Hermeneutik in der Kunst – insofern z. B. Technikzukünfte mit künstlerischen Mitteln erzeugt und kommuniziert werden – müssen an Bord der TA kommen.

Es sollte hier nun nicht behaupten werden, dass die TA sich mit Fragen dieser Art noch nie befasst habe. TA als Diskursanalyse zum Beispiel war und ist hier teils nahe dran. Jedoch ist m. E. das Verhältnis zu anderen Formen der Orientierungsleistung durch TA bislang nicht systematisch geklärt worden, genauso wenig wie die hermeneutische Seite der TA einmal explizit in den Blick genommen wurde. Diese „hermeneutische Erweiterung“ der TA sei damit zur Diskussion gestellt.

Literatur

Bechmann, G.; Decker, M.; Fiedeler, U. et al., 2007: TA in a Complex World. In: International Journal of Foresight and Innovation Policy 4 (2007), S. 4–21

Brown, J.; Rappert, B.; Webster, A. (Hg.), 2000: Contested Futures. A Sociology of Prospective Techno-Science. Burlington

Bullinger, H.-J., 1991: Technikfolgenabschätzung – Wissenschaftlicher Anspruch und Wirklichkeit. In: Kornwachs, K. (Hg.): Reichweite und Potential der Technikfolgenabschätzung. Stuttgart, S. 103–114

Burg, S. van der, 2014: On the Hermeneutic Need for Future Anticipation. In: Journal of Responsible Innovation 1/1 (2014), S. 99–102

Ferrari, A.; Coenen, Chr.; Grunwald, A., 2012: Visions and Ethics in Current Discourse on Human Enhancement. In: Nanoethics 6/3 (2012), S. 215–229

Grunwald, A., 2003: Die Unterscheidung von Gestaltbarkeit und Nicht-Gestaltbarkeit der Technik. In: Grunwald, A. (Hg.): Technikgestaltung zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Berlin, S. 19–38

Grunwald, A., 2006: Nanotechnologie als Chiffre der Zukunft. In: Nordmann, A.; Schummer, J.; Schwarz, A. (Hg.): Nanotechnologien im Kontext. Berlin, S. 49–80

Grunwald, A., 2009: Technology Assessment: Concepts and Methods. In: Meijers, A. (Hg.): Philosophy of Technology and Engineering Sciences 9. Amsterdam, S. 1103–1146

Grunwald, A., 2010: From Speculative Nanoethics to Explorative Philosophy of Nanotechnology. Nano-Ethics 4 (2), S. 91–101

Grunwald, A., 2012: Technikzukünfte als Medium von Zukunftsdebatten und Technikgestaltung. Karlsruhe

Grunwald, A., 2013a: Prognostik statt Prophezeiung – Wissenschaftliche Zukünfte für die Politikberatung. In: Weidner, D.; Willer, St. (Hg.): Prophetie und Prognostik. Verfügungen über Zukunft in Wissenschaften, Religionen und Künsten. München, S. 81–95

Grunwald, A., 2013b: Techno-visionary Sciences: Challenges to Policy Advice. In: Science, Technology and Innovation Studies 9/2 (2013), S. 21–38

Grunwald, A., 2014a: Modes of Orientation Provided by Futures Studies: Making Sense of Diversity and Divergence. In: European Journal of Futures Research 2/1 (2014), S. 1–9

Grunwald, A., 2014b: The Hermeneutic Side of Responsible Research and Innovation. In: Journal of Responsible Innovation 1/3 (2014), S. 274–291

Heinrichs, D.; Krellenberg, K.; Hansjürgens, B. et al. (Hg.), 2012: Risk Habitat Megacity. Heidelberg

Lösch, A.; Müller, M. (Hg.), 2014: Schwerpunkt „Risikodiskurse/Diskursrisiken: Sprachliche Formierungen von Technologierisiken und ihre Folgen“. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 23/2 (2014), S. 4–55

Nordmann, A., 2007: If and Then: A Critique of Speculative Nanoethics. In: NanoEthics 1/1 (2007), S. 31–46

Nordmann, A., 2014: Responsible Innovation. The Art and Craft of Future Anticipation. In: Journal of Responsible Innovation 1/1 (2014), S. 87–98

Torgersen, H., 2013: TA als hermeneutische Unternehmung. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 22/2 (2013), S. 75–80

Zülsdorf, T.B.; Coenen, Chr.; Ferrari, A. et al. (Hg.), 2011: Quantum Engagements: Social Reflections of Nanoscience and Emerging Technologies. Heidelberg

Kontakt

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Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
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