Neue Wertschätzung für Lebensmittel. Rückblick auf vier Jahre „Runder Tisch“ in Nordrhein-Westfalen

TA-Projekte

Neue Wertschätzung für Lebensmittel

Rückblick auf vier Jahre „Runder Tisch“ in Nordrhein-Westfalen

von Sonja Pannenbecker, Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen

Das Thema Lebensmittelverschwendung wurde 2010 zum ersten Mal in der breiten Öffentlichkeit diskutiert, u. a. ausgelöst durch die Reportage „Frisch auf den Müll – Wie Lebensmittel verschwendet werden“, ausgestrahlt in der ARD-Themenwoche „Essen ist Leben“ im Oktober 2010, sowie die Veröffentlichung einer Studie der EU-Kommission „Preparatory Study on Food Waste Across EU 27“ (EC 2010). Als erstes Bundesland rief Nordrhein-Westfalen im Dezember 2010 aufgrund des großen Handlungsbedarfes einen Runden Tisch zum Thema „Neue Wertschätzung für Lebensmittel“ ein. Er wurde initiiert durch den Verbraucherschutzminister Johannes Remmel (Bündnis 90/Die Grünen), der in diesem Rahmen zu einem nachhaltigen Konsum aufrief.[1] Beim Runden Tisch in Nordrhein-Westfalen kommen seither jährlich Vertreterinnen und Vertreter aus Landwirtschaft, Einzelhandel, Lebensmittelwirtschaft, Wissenschaft sowie aus Verbraucher- und Wohlfahrtsverbänden zusammen und diskutieren gemeinsam über praktikable Handlungsansätze zur Verringerung der Lebensmittelverschwendung. In Deutschland werden – laut Studien im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft – jährlich mindestens elf Millionen Tonnen Lebensmittel entsorgt (Kranert et al. 2012; Peter et al. 2013).[2]

1     Wegweisende Projekte

Durch den regelmäßigen Austausch mit hochrangigen Vertretern der gesamten Lebensmittelkette sowie den Sekundärmärkten konnten in Nordrhein-Westfalen Kooperationen der unterschiedlichen Akteure gefördert werden, die Öffentlichkeit wurde für das Thema sensibilisiert und politische Entscheidungen wurden initiiert. Exemplarisch sollen hier einige der wegweisenden Projekte, die aus dem Runden Tisch entstanden sind, genannt werden. Sie wurden vom Verbraucherschutzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen beauftragt und gefördert:

Im Frühjahr 2012 wurde die gemeinsame Studie der Fachhochschule Münster und der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen „Verringerung von Lebensmittelabfällen – Identifikation von Ursachen und Handlungsoptionen in Nordrhein-Westfalen“ vorgestellt.[3] Zudem wurde eine Studie zu dem Thema Brot und Backwaren an die FH Münster vergeben, deren Zwischenergebnisse beim Runden Tisch im Herbst 2013 vorgestellt wurden und die Anfang 2015 abgeschlossen sein wird.[4] Die Universität Paderborn entwickelte gemeinsam mit der Verbraucherzentrale einen Onlinewerkzeugkoffer für Lehrkräfte an Grundschulen und weiterführenden Schulen in Nordrhein-Westfalen.[5] Der Werkzeugkoffer ist Teil der flankierenden Maßnahmen des EU-Schulobst- und -gemüseprogramms, das in Nordrhein-Westfalen im Schuljahr 2014/2015 in über 1.000 Schulen über 186.000 Schülerinnen und Schüler von Grund- und Förderschulen erreicht.[6] Auch die Station „Lebensmittelretter“ für die interaktive „Ess-Kult-Tour“, durchgeführt durch die Verbraucherzentrale NRW, war Teil dieses Projekts. Die Station vermittelt mit einem Schätzspiel Wissen über die Verlustkette und regt zur „Selbstreflektion mit Kühlschrank und Kochtopf“ an. Diese Station wird sowohl in weiterführenden Schulen ab Klasse sieben als auch bei diversen öffentlichen Veranstaltungen in der Erwachsenenbildung eingesetzt. Die Unterrichtsmaterialien wurden evaluiert und um Module für berufsbildende Schulen erweitert.

Der studentische Wettbewerb der Verbraucherzentrale NRW an der Ecosign Akademie für Gestaltung mit dem Titel „Verzehrte Welt“ brachte unterschiedliche Ideen hervor: Von einer Internetplattform zur Nachernte beim Bauern („Stoppeln“) über eine Imagekampagne für den „Doggybag“ für Restaurants („Zehnnachzwei“) bis hin zu humorvollen Videoclips[7] und einem Kartenspiel für Kinder ab sieben Jahre („Duell der Sterneköche“) konnten Preise an junge Studentinnen und Studenten vergeben werden.

Die Mitglieder aus Nordrhein-Westfalen vom „Deutschsprachigen Netzwerk zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen“[8], das aus Vertreterinnen und Vertretern der Forschung und Verbraucherinteressen besteht, sind gut in den Runden Tisch eingebunden, so dass Synergieeffekte genutzt werden können. So tagte der Runde Tisch im Rahmen der wissenschaftlichen Tagung „Von der Verschwendung zur Wertschätzung der Lebensmittel – Wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre Umsetzung in die Praxis“ des Ministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen in Kooperation mit dem Netzwerk am 21.11.2014 in Münster.

2     Ziel und Methodik

Ziel des Runden Tisches ist, neben der Vernetzung, dem konstruktiven Austausch und der Förderung von Projekten, die Aufmerksamkeit und die Sensibilität für das Thema Lebensmittelverschwendung und Wertschätzung für Lebensmittel entlang der Lebensmittelwertschöpfungskette zu erhöhen.

Beim zweiten Runden Tisch wurden auf Basis der Ergebnisse der Studie der FH Münster und der Verbraucherzentrale NRW folgende Kernpunkte verabschiedet:

Rahmenbedingungen ändern: Gesetze, Normen, Regeln und Gewohnheiten können an vielen Stellen zu vermeidbaren Lebensmittelabfällen führen. Die Vertreterinnen und Vertreter von Politik, Landwirtschaft und Handel sowie Verbraucherinnen und Verbraucher setzen den Dialog fort und untersuchen gemeinsam die gesetzlichen Vorschriften, die handelsseitigen Normen und Regeln und die Realitäten, Gewohnheiten und Ansprüche der gesamten Wertschöpfungskette hinsichtlich ihrer Relevanz für Lebensmittelabfälle.

Dieser Punkt wird aktuell zum einen durch die Studie der FH Münster zu Brot und Backwaren erforscht, zum anderen wird Verbraucheraufklärung, -sensibilisierung und -bildung seitens der Verbraucherzentrale NRW, der Landfrauenverbände und anhand des Werkzeugkoffers in Schulen in Nordrhein-Westfalen durch Lehrkräfte selbstständig vermittelt. Auch konnte auf dem Runden Tisch 2013 verkündet werden, dass einige Supermarktketten ihre Verträge für Bäckereien hinsichtlich der Fülle des Sortiments am Abend geändert haben. So können Brot- und Brötchenabfälle reduziert werden.

Prozessoptimierung und Stärkung der Schnittstellen: Die Studie der FH Münster und der Verbraucherzentrale NRW zeigt, dass Lebensmittelabfälle innerhalb der Kette nach vorne oder nach hinten verlagert werden, z. B. müssen Landwirte Obst und Gemüse zum Teil entsorgen, da diese den Richtlinien des Handels nicht entsprechen (Göbel et al. 2012). Hier soll die bereits erwähnte Studie zu Brot und Backwaren erste branchenspezifische Handlungsoptionen erarbeiten.

Die Wertschätzung von Lebensmitteln soll erhöht werden: Das Verbraucherschutzministerium forciert Ernährungs- und Verbraucherbildung an Schulen. Es werden und wurden Projekte in diesem Bereich gefördert, wie z. B. das EU-Schulobst- und -gemüseprogramm. Geplant ist eine Veranstaltung im Februar 2015 für alle Schulformen von der Vernetzungsstelle Schulverpflegung in Kooperation mit der Natur-und Umweltakademie NRW in Recklinghausen, bei der Bildungsmaterialien zum Thema Lebensmittelverschwendung und -wertschätzung vorgestellt und die Lehrkräfte für das Thema im Schulalltag sensibilisiert werden. Ein Praxistest und die Evaluierung des entwickelten Werkzeugkoffers wurden bereits erfolgreich abgeschlossen. Die Landfrauen werden auch in Zukunft als Ernährungsbotschafterinnen im Unterricht präsent sein und die Wertschätzung von Lebensmitteln fördern.

Das Verbraucherschutzministerium, die Verbraucherzentrale und der Handel vereinbarten, den Verbraucherinnen und Verbrauchern Informationen rund um das Thema Mindesthaltbarkeitsdatum, den Umgang mit Lebensmitteln und praktische Tipps zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen zugänglich zu machen. So führte beispielsweise die REWE-Tochter Penny eine Aktion mit den Landfrauen in Penny-Märkten durch. Die Verbraucherzentrale NRW informiert sowohl in diversen Vorträgen als auch anhand eines Flyers über diese Themen.

Regionale Wirtschaftssysteme stärken und Direktvermarktung fördern: Je weniger Schnittstellen in der Wertschöpfungskette vorhanden sind, desto weniger Lebensmittel werden verworfen. Das Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen fördert u. a. die Direktvermarktung und regionale Vermarktung von Lebensmitteln auf unterschiedliche Art und Weise. So werden beispielsweise Absatzförderungsmaßnahmen für einzelne Initiativen und Produktgruppen (Kartoffeln, Eier, Spargel) gefördert und das Land gewährt Unterstützung bei der Erarbeitung von Vermarktungskonzepten für landwirtschaftlicheÖko- und Qualitätserzeugnisse.[9]

Aufbau von Sekundärmärkten und Ausbau von Nachnutzungssystemen: Auch wenn es vom Runden Tisch begrüßt wird, dass die Zusammenarbeit vom Lebensmitteleinzelhandel, der Lebensmittelbank und sozialen Organisationen wie den „Tafeln“ seit Jahren ausgebaut wird, spricht sich der Runde Tisch deutlich für die Primärvermarktung von Lebensmitteln durch Direktvermarkter oder Einzelhandel aus, denn der Staat darf sich nicht aus seiner sozialpolitischen Verantwortung zurückziehen.

Eine Anschubfinanzierung konnte das Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen dem Internet-Projekt „Foodsharing.de“ gewähren. Es schließt die Lücke der fehlenden Sekundärmärkte zwischen Privatpersonen und kann den nachbarschaftlichen Austausch von Lebensmittelresten wieder beleben.

Stärkung der Forschung: Das Ministerium fördert außerdem verschiedene Forschungsprojekte rund um das Thema Lebensmittelverschwendung. Als Praxispartner des „Deutschsprachigen Netzwerks zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen“ kann es sich aktiv an der Entwicklung von Forschungsprojekten beteiligen. Bei der oben genannten wissenschaftlichen Tagung trafen Akteure der gesamten Wertschöpfungskette auf Forschende aus den verschiedenen Themenfeldern zusammen. Die Tagung diente als Kontaktbörse, um Unternehmen noch mehr in die Forschung einzubeziehen.

3     Ausblick

Es bedarf eines ausgeprägten Willens, innovativer Ideen und guter Zusammenarbeit sowie starker Vorbilder und Persönlichkeiten, um einen Runden Tisch zum Erfolg zu bringen. Lokale oder regionale Runde Tische können darüber hinaus die Vernetzung der Akteure deutlich erleichtern und so das Schnittstellen-Management verbessern. Wichtig ist bei der Zusammensetzung solcher Runder Tische, die gesamte Wertschöpfungskette sowie Forschende verschiedener Institutionen und Fachrichtungen einzubeziehen. Zudem ist eine vertrauensvolle Diskussionskultur notwendig. Der Runde Tisch „Neue Wertschätzung für Lebensmittel“ hat sich in Nordrhein-Westfalen als feste Institution etabliert. Das rege Interesse verschiedener Akteure, sich an den Sitzungen zu beteiligen und die vielfältigen Projekte, die aus dem Runden Tisch entstanden sind, zeigen die Aktualität des Themas und den Bedarf, gemeinsam weiter hieran zu arbeiten. Auch in Zukunft wird es weiterhin notwendig sein, sich zu allen Stufen der Wertschöpfungskette auszutauschen, um so die Reduktionsziele von EU und Bundesregierung bezüglich der vermeidbaren Lebensmittelabfälle zu erreichen. Erste Überlegungen der EU Kommission, verbindliche Ziele über die Lebensmittelabfallreduktion einzuführen, bestärken dies.[10] Auch in den kommenden Jahren wird der Runde Tisch weitergeführt: Diskutiert wird beispielsweise aktuell, wie die Forschung die Datenerhebung in der Wertschöpfungskette verbessern kann.

Wichtig wäre die Entwicklung bundesweiter und europäischer Regelungen zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen. Der nordrheinwestfälische Runde Tisch ist daher zunächst eine wirksame Maßnahme, um unter Einbeziehung der Öffentlichkeit auf allen Ebenen der Wertschöpfungskette für das Thema zu sensibilisieren sowie die notwendige Vernetzung voranzutreiben.

Anmerkungen

[1] http://www.nrw.de/meldungen-der-landesregierung/runder-tisch-neue-wertschaetzung-fuer-lebensmittel-10177/ (download 26.1.15)

[2] Dieser Beitrag schließt sich an das Thema des Schwerpunkts „Future Food Systems: Challenges and Perspectives“ sowie zweier Projektberichte in TATuP 3/2014 an.

[3] http://www.umwelt.nrw.de/verbraucherschutz/pdf/studie_verringerung_lebensmittelabfaelle.pdf (download 16.1.15)

[4] https://www.fh-muenster.de/fb8/personen/profs/ritter.php?anzeige=projekt&pr_id=734 (download 26.1.15)

[5] http://www.evb-online.de/schule_materialien_wertschaetzung_uebersicht.php (download 26.1.15)

[6] Siehe auch http://www.schulobst.nrw.de (download 26.1.15)

[7] http://www.youtube.com/watch?v=5Lgp00CuDcc&list=UUDZ9sZBagqifm3KyYYfCJNQ&ind ex=3 (download 26.1.15)

[8] http://www.essens-wert.net (download 26.1.15)

[9] http://www.lanuv.nrw.de/agrar/foerderprogramme/pdf/Absatz_Flyer2012.pdf (download 26.1.15)

[10] COM(2014)397 final online verfügbar auf http://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:e669092f-01e1-11e4-831f01aa75ed71a1.0009.03/DOC_1&format=PDF (download 26.1.15)

Literatur

EC – Europäische Kommission (Hg.), 2010: Final Report: Preparatory Study on Food Waste across EU 27. Technical Report 2010-054

Göbel, C.; Teitscheid, P.; Ritter, G. et al., 2012: Verringerung von Lebensmittelabfällen – Identifikation von Ursachen und Handlungsoptionen in Nordrhein-Westfalen. Studie für den Runden Tisch „Neue Wertschätzung von Lebensmitteln“ des Ministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen. Münster

Kranert, M.; Hafner, G.; Barabosz, J. et al., 2012: Ermittlung der weggeworfenen Lebensmittelmengen und Vorschläge zur Verminderung der Wegwerfrate bei Lebensmitteln in Deutschland. Stuttgart

Peter, G.; Kuhnert, H.; Haß, M. et al., 2013: Einschätzung der pflanzlichen Lebensmittelverluste im Bereich der landwirtschaftlichen Urproduktion. Bericht im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV). Braunschweig

Kontakt

Sonja Pannenbecker
Referat VI-1 Haushalts- und Querschnittsaufgaben, Ernährungspolitik und nachhaltiger Konsum
Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen
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