Impulse für eine stadtverträgliche Mobilität: Die Handlungsfolgenabschätzung als neuer Ansatz im Verkehrsbereich

Schwerpunktthema: Stadtökologie: Berichte aus der ökologischen Forschung des BMBF
Ökologisch verträgliche Mobilität in Stadtregionen - Optionen und Handlungsstrategien

Impulse für eine stadtverträgliche Mobilität: Die Handlungsfolgenabschätzung als neuer Ansatz im Verkehrsbereich

von Matthias Bergmann, Öko-Institut, Freiburg und Peter Wehling, Institut für sozial-ökologische Forschung

Kommunale Verkehrspolitik scheint - ebenso wie jede Verkehrspolitik - hinsichtlich des Erfolgs einer Entkoppelung der Mobilität vom Auto seit geraumer Zeit von Stillstand geprägt. Die bisher bevorzugten Maßnahmen und Strategien beschränken sich allein auf die Angebotsseite und sind nur noch begrenzt finanzierbar.
Jenseits der Ansätze dieser traditionellen Verkehrsplanung liegen noch Handlungsspielräume, die es wert erscheinen, erprobt zu werden. Diese bestehen im Kern darin, neue gesellschaftliche Akteure und Zielgruppen in die Gestaltung einer Stadtverträglichen Mobilität einzubeziehen und somit die Nachfrage nach Verkehr zu beeinflussen, statt das Infrastrukturangebot immer mehr auszuweiten. Um die Chancen von Maßnahmen solcher integrierenden Planung vor der Umsetzung abschätzen zu können, wurde ein Verfahren entwickelt, das als Handlungsfolgenabschätzung bezeichnet wird.

Der Eigensinn der Verkehrsakteure

In den Jahren seit ihrer Entstehung als eigenständige Forschungsrichtung hat Technikfolgenabschätzung (TA) sich von einer engen Technikfixierung gelöst und ihre Fragestellungen in übergreifende politische, wirtschaftliche und kulturelle Handlungskontexte integriert. Die neuere Technikforschung hat gezeigt, daß die Wirkungen und Folgen von Techniken nicht unmittelbar aus den technischen Artefakten ableitbar sind, sondern daß immer deren soziale Nutzungskontexte mit einbezogen werden müssen. Nachdrücklich wird auf die "soziale Kontingenz der Verwendungssituation" hingewiesen: "Gegenüber der intendierten Wirkung einer Technik ist immer mit dem Eigensinn der verschiedenen Verwendermilieus zu rechnen." (Rammert 1994: 18) Somit ist es konsequent, die sozialen, wirtschaftlichen oder ökologischen Folgen von Techniken als "Handlungsfolgen von Akteuren" zu verstehen (Bechmann 1991: 49).

Ausgehend von solchen Überlegungen ist im "Forschungsverbund CITY:mobil" (siehe Anm. 1) die Handlungsfolgenabschätzung als ein neuartiger, interdisziplinärer Untersuchungsansatz mit dem Ziel einer stadtverträglichen Gestaltung von Mobilität und Verkehr skizziert und erprobt worden. Denn gerade im Verkehrsbereich stoßen technische oder baulich-infrastrukturelle Maßnahmen immer wieder auf den "Eigensinn" der Verkehrsakteure, so daß die intendierten Wirkungen vielfach ausbleiben oder sogar kontraproduktive Effekte eintreten. (siehe Anm. 2) Lange Zeit war in der Verkehrsplanung das Bewußtsein für solche eigensinnigen Reaktionsmuster und somit für unerwartete Nebenfolgen von planerischen Maßnahmen ausgesprochen schwach entwickelt. Verkehrswissenschaft und -planung neigten (und neigen) dazu, das Verhalten der Akteure direkt aus den Merkmalen des Verkehrssystems abzuleiten (vgl. dazu Holz-Rau 1991) und von Veränderungen des Verkehrsangebots auf entsprechende Verhaltensänderungen der VerkehrsteilnehmerInnen zu schliessen.

Ziele der Handlungsfolgenabschätzung

Vor diesem Hintergrund wurden im Projekt "Stadtverträgliche Mobilität" mit der Entwicklung der Handlungsfolgenabschätzung (HFA) vor allem zwei Ziele verfolgt:

Auf methodischer Ebene ist daher mit der HFA zugleich die exemplarische Erprobung eines innovativen Ansatzes zur umfassenden, mehrere Disziplinen integrierenden Folgenabschätzung von Maßnahmen und Instrumenten im Verkehrsbereich intendiert. Bislang dominierten hier vor allem begrenzte, disziplinäre Abschätzungen des Wirkungsgrades einzelner technischer und infrastruktureller Maßnahmen oder ökonomische Modellrechnungen zu den möglichen Auswirkungen monetärer Steuerungsinstrumente. Auch die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) reicht als Planungshilfe für eine stadtverträgliche Mobilität nicht aus, da sie zum einen ausschließlich auf einzelne Infrastrukturprojekte bezogen bleibt und zum anderen ökonomische, soziale oder institutionelle Wirkungen nicht erfaßt werden.

Umsetzung des HFA-Ansatzes

Das Hauptmotiv für die Etablierung von TA als neuer, eigenständiger Forschungsrichtung lag zunächst im Auftreten unerwarteter Folgewirkungen des Technikeinsatzes, die nicht selten den ursprünglich angestrebten Zielen zuwiderliefen. TA sollte solche unbeabsichtigten Effekte möglichst frühzeitig erkennbar machen. Diese Funktion der "Frühwarnung" bleibt bei der Erweiterung zur Handlungsfolgenabschätzung von planerischen Instrumenten oder politischen Strategien erhalten. Hinzu kommt aber das Interesse, vorab die Wirksamkeit der jeweiligen Instrumente im Hinblick auf die angestrebten Ziele abzuschätzen.

Vor diesem Hintergrund kann die HFA durch die folgenden drei Leitfragen oder Analyseperspektiven näher strukturiert werden:

Die HFA ist im Projekt "Stadtverträgliche Mobilität" darauf angelegt worden, alle relevanten Wirkungsbereiche und Wirkungen von Instrumenten und Maßnahmen systematisch in einen interdisziplinären und mehrstufigen Bewertungsprozeß einzubeziehen. Mit Blick auf Mobilität und Verkehr werden die Wirkungsbereiche zu den folgenden Prüfdimensionen zusammengefaßt:

Insbesondere die beiden letzteren Prüfdimensionen setzen neue Akzente gegenüber herkömmlichen Bewertungs- oder Prognoseverfahren im Verkehrsbereich: In der sozialen Dimension kommen die bislang stark vernachlässigten Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz verkehrspolitischer Maßnahmen, ihrer Integrierbarkeit in das alltägliche Routinehandeln, aber auch möglicher sozial segmentierender Wirkungen (z.B. Benachteiligung von Frauen) in den Blick. Die Frage nach der Umsetzbarkeit hingegen erlangt große Bedeutung für die Realisierbarkeit von Maßnahmen, da hier die initiierenden, unterstützenden oder blockierenden Akteure mit ihren jeweiligen Handlungsspielräumen und Interessen selbst zum Gegenstand der Abschätzung werden.

Jede der vier Prüfdimensionen wurde - wiederum mit Blick auf das Handlungsfeld Mobilität - durch eine Anzahl von einzelnen Prüfaspekten konkretisiert und operationalisiert. Diese teilweise bis zu 40 Aspekte dienten als Leitfaden und Orientierung bei der Folgenabschätzung. Die Untersuchung von Wirkungspotentialen, Restriktionen und Nebenfolgen wurde in jeder Dimension mehrfach durchlaufen, da die Ergebnisse in einer Dimension Rückwirkungen auf die Prüfvoraussetzungen und -resultate der jeweils anderen haben. Dieses iterative Vorgehen stellte sich - wenngleich aufwendig - als notwendig heraus. Es sicherte die interdisziplinäre Qualität des Prozesses und führte zugleich dazu, daß die untersuchten Maßnahmen in ihrer Ausgestaltung immer wieder an die Abschätzungsergebnisse angepaßt wurden, daß sie zugleich aber auch hinsichtlich ihrer möglichen Wirkungen immer detaillierter beschrieben werden konnten.

Allerdings sollte dies nicht zu falschen Erwartungen an die HFA führen: Angesichts der eigensinnigen Reaktionen der Verkehrsakteure und des grundsätzlichen Dilemmas, die Folgen von noch nicht umgesetzten Maßnahmen zu antizipieren, sind exakte, quantifizierte Wenn-Dann-Prognosen unmöglich. Aufgabe der HFA ist es vielmehr, zu begründeten Abschätzungen von Wirkungspotentialen zu kommen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit für Restriktionen und unerwartete Nebenfolgen zu schärfen.

Exemplarische Maßnahmen für stadtverträgliche Mobilität

Ziel des Forschungsverbunds CITY:mobil war es nicht, die mehr oder weniger bekannte Palette aktueller planerischer, politischer oder technischer Maßnahmen (von der Parkraumbewirtschaftung bis zu telematischen Verkehrsleitsystemen) auf ihre möglichen Wirkungen hin zu überprüfen. (siehe Anm. 4) Vielmehr wurde - im Sinne einer "probleminduzierten" TA - versucht, mit Hilfe des HFA-Verfahrens zu neuartigen, exemplarischen Handlungsansätzen für eine stadtverträgliche Mobilität zu kommen.

Ausgehend von den zwei idealtypischen Kontraststrategien "Zielgruppenorientierte Verhaltensintervention" und "Systemisches Mobilitätsmanagement" wurden Ansatzpunkte für eine "Entkoppelung von Mobilität und Automobilität" (siehe Anm. 5) auf kommunaler Ebene gesucht. Bezogen auf unterschiedliche Handlungskontexte der sozialen Akteure (Freizeitmobilität, Berufsmobilität, Versorgungsmobilität) zum einen, auf die prägenden Systemebenen (Verkehrsinfrastruktur, Raumstruktur, Instrumente der Planung) zum anderen, konnten sechs exemplarische Maßnahmen für eine stadtverträgliche Mobilität skizziert werden. Diese bildeten den eigentlichen Gegenstand der Folgenabschätzung in den oben genannten vier Dimensionen:

Diese sechs Maßnahmen beanspruchen keineswegs, "Generallösungen" für eine ökologisch verträgliche Mobilität in Städten zu liefern - ein Anspruch, der ohnehin nicht zu realisieren ist. Vielmehr beschreiben sie - für unterschiedliche Handlungskontexte - jeweils exemplarische Ansätze, von denen auf kommunaler Ebene starke Impulse für eine stadtverträgliche Mobilität ausgehen können. Wichtig ist dabei, daß sich mit neuen Angeboten an Technik, Infrastruktur oder Tarifen auch neue Verhaltensperspektiven und soziale Innovationen verbinden; so schälten sich im Lauf der Folgenabschätzung immer deutlicher die Akteursbezüge der Maßnahmen heraus. Beispiele hierfür sind das Einbeziehen von Betrieben beim "Bonus-Malus-System", ein aus vielen Organisationen bestehendes Koordinationsgremium für die Kommunikationskampagne zur Freizeitmobilität oder das Engagement lokaler Akteure (wie Elterninitiativen) für die "zeitlich flexiblen Spielflächen im Straßenraum". Alle Maßnahmen beinhalten (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß) eine Stärkung des Handlungsvermögens und der Gestaltungsmöglichkeiten der Alltagsakteure, mit dem Ziel, ihren "Eigensinn" für den Ansatz der Entkoppelung von Mobilität und Automobilität nutzbar zu machen.

Ergebnisse und Folgerungen

Detaillierte Aussagen zu den Wirkungspotentialen und Folgen der oben genannten Maßnahmen sind im Rahmen dieses Artikels nicht möglich. (siehe Anm. 6) Im folgenden werden aber einige übergreifende Ergebnisse des HFA-Verfahrens dargestellt und Perspektiven einer möglichen Weiterentwicklung des Ansatzes erörtert.

Neue wissenschaftliche und planerische Impulse sind in der stagnierenden Diskussion um eine ökologisch verträglichere Gestaltung von Mobilität und Verkehr dringend erforderlich. Hierin liegt u.E. die wichtigste Funktion eines Instruments wie der Handlungsfolgenabschätzung. Die HFA, wie sie im Forschungsverbund CITY:mobil entwickelt und exemplarisch erprobt worden ist, stellt den Versuch dar, eine "Brücke" zu bauen einerseits zwischen den verschiedenen disziplinären und sektoralen Sichtweisen, andererseits zwischen wissenschaftlich-analytisch orientierten Fragestellungen und planerischem Gestaltungsansatz. Die Stärkung dieser Brückenfunktion und die Weiterentwicklung des Ansatzes, bspw. mit dem Ziel der Integration in die kommunale Planungspraxis, halten wir daher für lohnend und erfolgversprechend.

Anmerkungen

  1. Zum Forschungsverbund city:mobil haben sich die fünf Institute Öko-Institut, Freiburg / Darmstadt / Berlin; Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE), Frankfurt/M.; Gesellschaft für Informatik, Verkehrs- und Umweltplanung (IVU) Berlin; Österreichisches Ökologie-Institut, Wien sowie CONTRACT, Karlsruhe zusammengeschlossen. Das Forschungsprojekt "Stadtverträgliche Mobilität" des Verbundes wird von 1994 bis 1998 vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) im Schwerpunkt "Stadtökologie" gefördert. Die konkreten Handlungsempfehlungen aus dem Projekt orientieren sich vorrangig an den beiden ausgewählten "Modellstädten" Freiburg und Schwerin.
  2. So hat beispielsweise die Errichtung von Park-and-Ride-Anlagen am Rand der Großstädte auch dazu geführt, daß viele Berufspendler, die vorher den gesamten Weg zu ihrem Arbeitsplatz mit dem Öffentlichen Verkehr zurückgelegt hatten, nunmehr bis zur P+R-Anlage das Auto benutzen.
  3. Ganz ähnliche Überlegungen stehen hinter dem Vorschlag, eine übergreifende "Stadtverträglichkeitsprüfung" in die Verkehrsplanung einzuführen (vgl. Dikow-Hahn et al. 1994).
  4. In diesem Ausgangspunkt, weniger im methodischen Vorgehen, liegen die Hauptunterschiede zwischen der HFA und einer stärker technikinduzierten TA im Verkehrsbereich (vgl. z.B. Halbritter et al. 1996).
  5. Die Idee der "Entkoppelung" räumlicher und sozialer Mobilität von der heute dominierenden Bindung an das Automobil stellt die übergreifende strategische Leitorientierung des Forschungsprojekts "Stadtverträgliche Mobilität" dar. Sie geht über gängige Ansätze wie Verkehrsverlagerung und Verkehrsvermeidung hinaus, weil sie zusätzlich auch die Motive und kulturellen Bedeutungen miteinbezieht, die mit dem Auto verknüpft sind.
  6. Ausführlichere Beschreibungen der Maßnahmen sowie Zusammenfassungen der Abschätzungsergebnisse sind in dem entsprechenden Arbeitsbericht des Forschungsverbundes (Bergmann et al. 1997) sowie in kürzerer Form in Nr. 4 der Projektzeitschrift "Stadtwege" enthalten.

    Literatur

    Bechmann, G. (1991): Folgen, Adressaten, Institutionalisierungs- und Rationalitätsmuster: Einige Dilemmata der Technikfolgen-Abschätzung. In: Th. Petermann (Hg.): Technikfolgen-Abschätzung als Technikforschung und Politikberatung. Frankfurt/New York

    Bergmann, M. et al. (1997): Handlungsfolgenabschätzung - Spielräume und Planungshilfen für Stadtverträgliche Mobilität. Forschungsverbund CITY:mobil, Schlußbericht des Projektteils HP 4, Teil 1. Freiburg etc.

    Dickow-Hahn, R./Höppe, D./Hübler, K.-H./Wollmann, H. (1994): Stadtverträglichkeitsprüfung - Ein Versuch der Begriffsbestimmung und Instrumentierung. In: Forschungsverbund Lebensraum Stadt (Hg.): Gestaltungsfelder und Lösungsansätze. Bd. III/3. Berlin

    Halbritter, G/Fleischer, T./Paschen, H. (1996): Optionen zur Entlastung des Verkehrsnetzes und zur Verlagerung von Straßenverkehr auf umweltverträglichere Verkehrsträger - Ziele und Methoden eines TAB-Projekts. In: G. Bechmann (Hg.): Praxisfelder der Technikfolgenforschung. Frankfurt/New York

    Holz-Rau, H.-Chr. (1991): Genügen verhaltensorientierte Verkehrsmodelle den Erfordernissen integrierter Planung? Internationales Verkehrswesen, 43. Jg., H.1/2

    Rammert, W. (1994): Vom Nutzen der Technikgeneseforschung für die Technikfolgenabschätzung. In: G. Bechmann/Th. Petermann (Hg.): Interdisziplinäre Technikforschung. Frankfurt/New York

Kontakt

Dr. Matthias Bergmann
Institut für Angewandte Ökologie
Öko-Institut e.V.
Friedrichstraße 165, D-10117 Berlin
Tel.: +49 30 20165080

Dr. Peter Wehling
Institut für sozialökologische Forschung GmbH
Hamburger Allee 45, D-60486 Frankfurt a.M.
Tel.: +49 69 700012